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Wahlbeteiligung und Politikverdrossenheit

Wahlen stehen als "institutionelles Kernstück der Demokratie" (Decker u. a. 2013, S.40) unangefochten an der Spitze der ▪ Formen politischer Beteiligung, die mit der sich die Bürgerinnen und Bürger in das repräsentative System der Bundesrepublik Deutschland einbringen. Allerdings ist der seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts europaweit zu beobachtende Rückgang der Wahlbeteiligung auch in Deutschland festzustellen.

Aber insbesondere bei ▪ Bundestagswahlen kann sich die Wahlbeteiligung in Deutschland im internationalen Vergleich noch immer sehen lassen. Andere Formen ▪ verfasster politischer Partizipation, also Formen politischer Beteiligung, "die durch Verfassung, Gesetz oder sonstige Regelungen rechtlich vorgegeben (institutionalisiert)" (ebd., S.37) sind, finden dagegen keinen solchen Zuspruch.

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  • Insbesondere bei Europawahlen ist die Wahlbeteiligung meistens nicht so hoch. Allerdings ist sie bei den letzten Europawahlen 2019 seit 1979 erstmals wieder gestiegen und erreichte die höchste Wahlbeteiligung seit 20 Jahren. In sieben der 21 EU-Ländern, die eine höhere Wahlbeteiligung verbuchen konnten, stieg sie sogar um mehr als 10 Prozentpunkte an. In Deutschland stieg sie nach Berechnungen von Infratest Dimap von 48,1% im Jahr 2014 auf 61,5%.

  • Und auch die Bereitschaft, sich in den ▪ Parteien zu engagieren, ist in Deutschland nicht besonders ausgeprägt. Der Grund, weshalb Wahlen aber dennoch die bevorzugte Partizipationsform in Deutschland sind, liegt wohl daran, dass sie nur alle paar Jahre stattfinden und die Ausübung des Wahlrechts vom Ganz ins Wahllokal oder der Beantragung von Briefwahlunterlagen eigentlich kaum Aufwand bereitet. Manchmal, aber leider nicht immer liefern ihnen auch der ▪ Wahlkampf der Parteien Hinweise für eine Wahlentscheidung, die ihnen den Gang zur Wahlurne erleichtern.

Geringe Wahlbeteiligung - eher der Normalfall?

Der Rückgang der Wahlbeteiligung in Deutschland über lange Jahre wird insbesondere von denen als eine Krisenerscheinung des politischen Systems gewertet, die ihr Demokratieverständnis an der Input-Orientierung ausrichten.

Ihnen kommt es schließlich vor allem darauf an, dass Demokratie die Zustimmung ihrer Bürgerinnen und Bürger zum politischen System als Ganzem und zu den von dessen Akteuren mit möglichst hoher Bürgerbeteiligung geschaffenen oder verfügten Gesetze und Verordnungen organisiert. Folgerichtig sehen sie in einem Rückgang der Wahlbeteiligung vor allem einen Ausdruck "Politikverdrossenheit". Deren Wirkungen wiederum gingen über die Beteiligung an Wahlen hinaus und beträfen letztlich alle politisch relevanten Entscheidungsprozesse in der Gesellschaft.

Andere halten nicht zuletzt unter Einbeziehung einer historischen Betrachtungsweise entgegen, dass eine geringe Wahlbeteiligung nicht unbedingt etwas über die Zustimmungswerte für das politische System, die Parteien und ihre Akteure aussagen muss. Dabei verweist man auf die historischen Schwankungen bei der Wahlbeteiligung und stellt sie in den Zusammenhang der Wohlstandsentwicklung im Allgemeinen, aber auch von besonderen situativen Ereignissen (politische Gelegenheitsstrukturen)  von generationsbedingten Veränderungen und anderem mehr. (vgl. ebd., S.28ff.)

Betont wird dabei vor allem, dass die ausgesprochen hohe Wahlbeteiligung in den siebziger Jahren (s. Tabelle), in denen es 1969 nach dem Machtwechsel zur »sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP unter dem SPD-Kanzler »Willy Brandt (1913-1992) eine zunehmende Polarisierung der politischen Lager gegeben hat (Ostverträge,) eher wohl eher die Ausnahme, eine Wahlbeteiligung zwischen 70% und 80% eher der Normalfall sei (= Normalisierungsthese).

Dass hinter der sinkenden Wahlbeteiligung indessen stecke, dass die Bürgerinnen und Bürger mit der gemachten Politik zufrieden sind (= Zufriedenheitsthese), wie von anderer Seite betont wird, ist angesichts der Tatsache, dass vor allem die Unzufriedenen am Wahltag zu Hause bleiben, offenbar wenig einleuchtend (vgl. ebd., S.46)

Ob sich der Rückgang der Wahlbeteiligung gar dadurch erklären lässt, dass politische Beteiligung sich heute mehr als früher an den Angeboten nicht-verfasster bzw. informeller Formen bürgerschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Engagements  orientiert (= Substitutionsthese). (vgl. ebd., S.44), lässt sich wohl nicht gut belegen.

Ob die weitere Entwicklung der ▪ E-Partizipation, insbesondere bei nicht-verfassten  bzw. informellen Partizipationsangeboten der so genannten Advocay Networks der Substitutionsthese in absehbarer Zeit den Rücken stärken wird, ist noch offen. Im Augenblick jedenfalls erfreuen sich Online-Partizipationsformen noch eher " ähnlicher, also ähnlich geringer Beliebtheit wie viele traditionelle Formen politischer Beteiligung abseits des Internet." (Jungherr/Schoen 2013, S.55)

Die Antworten der Wissenschaft für die rückläufige Wahlbeteiligung

Wissenschaftliche Untersuchungen haben inzwischen ein ganzes Bündel von Gründen ermittelt, die den Rückgang der Wahlbeteiligung erklären können (vgl. dazu insgesamt Decker u. a. 2013, S.45):

  1. Die seit Ende der sechziger Jahre sich immer weiter verbreitende ▪ Individualisierung, welche die Menschen " zur Selbstgestaltung, Selbstinszenierung, nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer moralischen, sozialen und politischen Bindungen" zwingt (Ulrich Beck, in: Süddeutsche Zeitung, 14./15.2.1993, Hervorh. d. Verf.). Weil die Menschen herausgelöst werden aus den traditionellen Sozialformen mit ihrem engmaschigen Netz gegenseitiger Verpflichtungen (vgl. Szczesny-Friedmann (1991, S.10ff.) verlieren auch Organisationen wie die Kirche und die Gewerkschaften an Bindekraft.  Bezogen auf das Wählerverhalten bedeutet dies auch, dass Wahlentscheidungen, auch angesichts fehlender gesellschaftlicher Konfliktlinien (cleavages) mehr denn je nach den jeweils eigenen Interessen gefällt werden. Zieht man ferner in Betracht, was Ulrich Beck (1995) in seiner ▪ Theorie des eigenen Lebens als ein wichtiges Merkmal festgestellt hat, dass vom individualisierten Subjekt gesellschaftliche Krisenphänomene wie z. B. Arbeitslosigkeit auf eigenes Versagen zurückgeführt werden, dann erwartete es wohl auch kaum Hilfe vom politischen System und seinen Repräsentanten.

  2. Zugleich führt die aus der Individualisierung resultierende Veränderung von Normalbiographien zu "Wahl- oder Bastelbiographien" (Ronald Hitzler) und die Notwendigkeit, ein eigenes Leben zu gestalten und zu verantworten, zu einer Vielzahl von Lebensstilen und Interessenlagen und damit verbundenen Wertvorstellungen. Diese mit Abgeordneten noch insgesamt repräsentieren zu wollen, ist nahezu unmöglich. Hinzukommt noch, dass das politische Angebot insgesamt, aber auch die Parteien mit dem Kurzlebigkeit und dem steten Wandel von Bedürfnissen kaum mithalten können. (vgl. Decker u. a. 2013, S.40)

  3. Dass  dabei auch die Wahlnorm, mit der Wahl eine quasi staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen, an Bedeutung verloren hat, ist eine fast logische Konsequenz.

  4. Die programmatische Annäherung der Parteien aneinander führt dazu, dass mit dem Wahlzettel meistens keine Richtungsentscheidungen mehr gefällt werden können.

  5. Die Parteienzersplitterung führt dazu, dass häufig erst nach dem Wahltag und dazu lediglich von den Parteien selbst entschieden wird, mit wem sie letzten Endes eine Regierungskoalition bilden wollen. Damit wird die Wahl des Parlaments von der Wahl der Regierung entkoppelt und die Regierungsbildung findet quasi ohne den Wähler statt.

  6. Die Häufung von Wahlen auf den verschiedenen Ebenen erhöht dazu die Wahlmüdigkeit.

  7. Nichtzuletzt gibt es wohl auch immer eine größere Anzahl von Nichtwählern, die aus Protest nicht zur Wahl gehen, weil sie mit z. B. mit der Politik der Parteien unzufrieden sind oder aber der Ansicht sind, dass auch damit nichts bewirken können.

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 28.01.2020

     
 

 
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