Die strukturelle
Betrachtungsweise des ▪
Gedächtnis des Menschen, bei der im
Gegensatz zur prozessorientierten (prozeduralistischen) Betrachtung
mnemonischer Prozesse ( gr. mneme = Gedächtnis) zunächst einmal
verschiedene Gedächtnisarten unterschieden werden, geht im
Wesentlichen auf das sogenannte Mehr- bzw. Drei-Speicher-Modell
zurück, das »Richard
C. Atkinson (geb. 1929) und »Richard
M. Shiffrin (geb. 1942) (1968)
systematisch entwickelt haben. Das Modell wird auch als
modales Modell bezeichnet.
Einige Annahmen
dieses Modells gelten inzwischen zwar als veraltet (vgl.
Anderson 72013, S.119, vgl.
Buchner/Brandt 2017, S.402). Insbesondere die Vorstellung, dass Informationen über
Reize auf ihrem Weg ins Langzeitgedächtnis stets das zwischengeschaltete
Kurzzeitgedächtnis passieren und erst durch ein darin stattfindendes
Memorieren (Rehearsal)
ihr Ziel erreichen könnten, kann so nicht mehr aufrechterhalten
werden.
Dennoch beeinflusst
das Mehr-Speicher-Modell bis heute neuere Ansätze der
Gedächtnisforschung. Auch wenn das Mehr-Speicher-Modell also
insgesamt als "zu simpel" gilt, "um die vielen Facetten des
Gedächtnisses zu erklären" (Gruber
22018, 1.1. Allgemeine Einführung,
https://smzn.eu/cFulKD7), bietet es doch zunächst einmal einen
guten ersten Zugang zu einer strukturellen Betrachtungsweise des
Gedächtnisses und tut daher als "Modellrahmen" durchaus noch gute
Dienste (vgl.
Buchner/Brandt 2017, S.402). Dies gilt insbesondere unter didaktischen Aspekten,
z. B. im Zusammenhang mit Lehr- und Lernprozessen in der Schule zum
Thema ▪"Das
Lernen lernen". Und: in populärwissenschaftlichen Darstellungen
über das Gedächtnis kursiert das Modell wegen seiner "Griffigkeit"
weithin unreflektiert.
Kurzzeitiges und
langfristiges Behalten: Sensorischer Speicher, Kurzzeitgedächtnis und
Langzeitgedächtnis
»Atkinson
und »Shiffrin
(geb. 1942) (1968)
unterscheiden bei ihrer strukturellen Betrachtung des Gedächtnisses
drei verschiedene Speicher, die in einer besonderen Weise
zusammenarbeiten müssen, damit Informationen aus Reizen, die wir aus
der Welt (Umwelt, innere und äußere Welt) über unsere verschiedenen
Wahrnehmungssysteme (perzeptuelle Systeme, z. B. Bilder, Geräusche)
empfangen, "verarbeiten", selektieren und ggf. in unserem
Langzeitgedächtnis so aufbewahren bzw, speichern können (enkodieren)
können, dass wir sie, sofern wir über die dafür geeigneten
Abrufschlüssel verfügen, sie auch dann wieder abrufen können, wenn
"die ursprüngliche Quelle der Information nicht mehr verfügbar ist.
" (Gruber (22018,
1.1. Allgemeine Einführung,
https://amzn.eu/e4KfCnu).
Damit das gelingt
müssen - so die beiden Autoren - Reize stets auf dem gleichen Weg
verarbeitet werden, um am Ende, abhängig von bestimmten
Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozessen - mental repräsentiert zu
werden und für einen erneuten Abruf zur Verfügung zu stehen. Im
Gedächtnis sind dabei verschiedene Speicher für das kurzzeitige und
das langfristige Behalten von Informationen zuständig.
Die drei Speicher
sind:
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-
Die Information,
die aus unterschiedlichen Reizen (z. B. Bilder, Wörter,
Geräusche, autobiografische Details, generisches Wissen über die
Welt, spezifische Fertigkeiten (motorische F., Sprache usw.)
besteht, gelangt dabei zunächst für eine kurze Zeit in das
sogenannte
sensorisches Gedächtnis
(auch: sensorischer Speicher oder
Ultrakurzzeitgedächtnis genannt)
-
Wird den Reizen
(Informationen) in einem zweiten Schritt
Aufmerksamkeit (sie regelt vor allem, was schnell wieder
"verfällt" bzw. vergessen wird) zuteil, dann gelangt diese
Information in das sog.
▪ Kurzzeitgedächtnis.
-
Im
Kurzzeitgedächtnis wird die Information durch
Rehearsal-Prozesse (gestaltendes Wiederholen wie memorieren
oder elaborieren) so lange aufrechterhalten, bis sie gelöscht,
ersetzt oder ins ▪
Langzeitgedächtnis
(LZG), überführt worden ist.
Die Aufmerksamkeit
regelt, welche der auf uns einwirkenden Reize weiterverarbeitet werden
In das
Kurzzeitgedächtnis, einem insgesamt gesehen eher kurzlebigen
Speicher, gelangen jene Informationen, denen angesichts der
unendlichen Zahl von Reizen, die in jedem Moment auf uns einwirken,
Aufmerksamkeit zuteil wird. Die Aufmerksamkeit ist dabei also stets
selektiv, d. h. sie richtet sich auf die Auswahl relevanter
Informationen und unterdrückt damit nicht-relevante. Das ist nicht
nur gut, sondern für unser Handeln in der Welt unbedingt nötig.
Ansonsten kämen wir mit der Vielzahl auf uns einwirkender Reize gar
nicht zurecht und wären angesichts unserer letzten Endes eben doch
begrenzten Hirnkapazitäten zur Verarbeitung von Reizen heillos
überfordert.
Die aus unserer
Umwelt stammenden Reizen treffen dabei auf verschiedene perzeptuelle
Systeme, die uns ermöglichen, sie überhaupt wahrzunehmen. Dazu
gehören visuelle, auditorische oder auch haptische Systeme, die mit
bestimmten neurophysiologischen bzw. neurobiologischen Prozessen
verbunden sind. Jedes dieser Wahrnehmungssysteme - vereinfacht
könnte man auch Sinne sagen - kann für sich genommen also nicht
alles wahrnehmen, was um uns und in uns geschieht.
-
Wenn man sich z.
B. auf einer Party mit lauter Musik mit jemandem unterhalten
will, muss und kann man bis zu einem gewissen Grad sämtliche
Hintergrundgeräusche "ausblenden", und hören, was der/die
Gesprächspartnerin* sagt.
-
Und auch mit dem
Sehen (= visuelle Modalität) ist das nicht anders. Metaphorisch
umschreibt man die selektive Aufmerksamkeit beim Sehen als
"Lichtkegel der Aufmerksamkeit" ("spotlight of attention"). Wir
sehen einfach nicht alles, was in unserem Blickfeld liegt. Das
macht die sogenannte
"Veränderungsblindheit" ("change
blindness") besonders deutlich. Wir sind einfach "nicht in
der Lage, alle Informationen in einer typischen Szene im
Überblick zu behalten. Wenn sich einzelne Elemente der Szene im
selben Moment verändern, in dem eine Störung der retinalen
Wahrnehmung auftritt (wie eine Augenbewegung oder ein
Szenenschnitt in einem Film)", können wir nämlich "die
Veränderung oft nicht erkennen, wenn sie in den Kontext passt."
(Anderson
72013, S.48) So bemerken wir z. B. meistens
nicht, wenn sich in einer solchen Situation die Farbe eines
Autos verändert. Aber es gibt natürlich noch viel extremere
Beispiele: So fragte ein Versuchsleiter in einem berühmten
Beispiel von Simons und Levin 1998) Passanten nach dem Weg.
Während der Passant den Weg erklärte, wurde von Arbeitern
zwischen dem Versuchsleiter und dem Passanten eine Türe
hindurchgetragen, die für eine kleine Weile die Sicht des den
Weg erklärenden Passanten auf den Versuchsleiter versperrte.
Während dieser kurzen Zeitspanne nahm eine andere Person die
Stelle des Versuchsleiters ein. Das bemerkenswerte Ergebnis: Nur
etwa der Hälfte der als Wegerklärerinnen* agierenden
Versuchspersonen (7 von 15) bemerkten diesen Wechsel. Und auch
ein von
Gruber (22018, 1.3 Gedächtnis und Wahrnehmung,
https://amzn.eu/337E1dE) mit einem »Beispiel
auf YouTube zeigt eindrücklich, wie "den meisten Betrachtern
wohl entgeht, dass der Kirchturm am linken Bildrand graduell
ausgeblendet wird."
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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