Die
▪
Kurzgeschichte ▪»San
Salvador« von ▪
Peter
Bichsel, im Jahr 1964 veröffentlicht, führt den Leser, wie es für diese
literarische Textsorte durchaus üblich ist, unvermittelt, d. h. ohne
weitere Informationen über die räumliche und zeitliche Fixierung des
Geschehens, die Vorgeschichte oder die handelnden Figuren mitten
hinein in ein Geschehen, das sich schnell als ganz alltäglich
erweist und in Alltagssprache dargeboten wird.
Die Geschichte thematisiert, was
zahlreiche Geschichten Bichsels tun, das Warten. Dieses Warten hat
schon Marcel Reich-Ranicki
(1964) in seiner Rezension der Sammlung von Geschichten ("Eigentlich
möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen") als "Grundsituation"
des Dichtens von Peter Bichsel bezeichnet, es aber mit dem
"verfehlten Leben" konnotiert, unter dem seine Protagonisten leiden
würden: "Sie leben und warten jeder für sich allein." Diese
Deutungsperspektive dominierte seitdem lange Zeit die Interpretation
auch von San Salvador, die das Warten stets zum Ausgangspunkt
dafür nahm, die Einsamkeit, Leere und Kommunikationsunfähigkeit der
daran Beteiligten apodiktisch zu behaupten (vgl. z. B.
Zobel 1985).
Und wer sich heute im Internet auf die
Suche nach Interpretationen macht, wird schnell feststellen, dass
diese Sicht auf die Geschichte aus mehr oder weniger berufenem Munde am
meisten verbreitet ist. Es handelt sich aber nur um eine der möglichen
Lesarten der Geschichte. Ihre Beliebtheit und Verbreitung erklären sich wohl auch daraus, dass man, hat man diese Deutungsperspektive einmal
eingenommen, alles in den Text hineinpsychologisieren kann, was
einem im Repertoire alltagspsychologischer Kenntnisse zur Verfügung
steht. In der Geschichte allerdings, betont Rolf
Jucker (2004,
S.270), stehe von alledem nichts. Deshalb schlägt er vor, den Text zu
nehmen, wie er ist, und die Figuren, denen "eine eigentümliche Wärme
und Sympathie eingeschrieben sei, "in ihrer Banalität und
Einfachheit ernst (zu) nehmen."
Das von einem personalen Erzähler in
Er-Form präsentierte Geschehen nimmt mit einem Rückgriff auf ein
Geschehen seinen Lauf, das vor dem eigentlichen Geschehen der
Geschichte passiert ist. Es ist ein Alltagsgegenstand, ein
Füllfederhalter, den sich Paul gekauft hat, und den er an einem
Tisch sitzend auf verschiedenen Bogen Papier ausprobiert. Es ist
abends, die Kinder der beiden sind offenbar schon im Bett und Pauls
Frau Hildegard ist bis halb zehn außer Haus und nimmt an einer Probe
des Kirchenchors teil. Es ist eine Situation, wie sie wohl
regelmäßig am Mittwoch Abend vorkommt. Nichts Besonderes, sondern
Alltag in dieser traditionellen Familie, wie immer.
Die Probe des Kirchenchores,
wahrscheinlich nicht länger als eine oder eineinhalb Stunden
dauernd, endet
um neun Uhr abends. Da Hildegard eine halbe Stunde für ihren
Nachhauseweg benötigt, verbringt Paul, nachdem er wohl die Kinder,
über die man nur durch die Frage Hildegards ("Schlafen die Kinder?")
am Ende der Geschichte erfährt, allein im gemeinsamen Zuhause.
Vielleicht vertreibt er sich, bis Hildegard wieder heimkommt, die
Zeit gewöhnlich mit dem Zeitunglesen, sie liegen jedenfalls auf dem
Tisch, oder er hört eine Radiosendung bzw. lässt sich von der Musik,
die daraus kommt, unterhalten. Gut möglich, dass ihm dieser
Mittwochabend stets langweilig vorkommt, aber Hinweise darauf, dass
die Langeweile mehr als eine zwar immer wieder mal vorkommende
momentane Langeweile, vielleicht auch manchmal quälend erlebte ist, gibt es
jedenfalls nicht. Es gibt keine Anzeichen, dass Pauls "banale Langeweile"
(vgl.
Bellebaum im Spiegel-Interview 2006),
die durch die in ihrer Reihenfolge zum Teil beliebig, irgendwie
unmotiviert mit dem Zeitadverb dann in einer längeren asyndetischen
Reihung von Tätigkeiten und inneren Vorgängen erzählt wird, eine Langeweile
ist, die sein
ganzes Leben durchdringt. Hinter Pauls Langeweile tauchen nicht
zwangsläufig jene existenziellen Abgründe auf, die im christlichen
Mittelalter "accedia" genannt zu den schlimmen Sünden zählte, weil
sie nur empfinden könne, wer sich gegenüber Gott verschließe. (vgl.
Safranski 2015, S.28) Bis heute hat das Gefühl der Langeweile
"ein Imageproblem" (Kalle
2017) hatte, das sich auf verschiedene Philosophen stützen kann:
"Blaise Pascal schrieb, dass »nichts dem Menschen so unerträglich«
sei, wie »in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaft, ohne
Tätigkeit, ohne Zerstreuung, ohne die Möglichkeit, sich
einzusetzen«. Immanuel Kant wurde schier sauer, als er über die
»Leere an Empfindungen« schrieb und sie mit dem »Vorgefühl eines
langsamen Todes« verglich. Kierkegaard nannte die Langeweile die
»Wurzel allen Übels«, und für Charles Baudelaire war die Langeweile
(ennui) die Gefühlslage des Großstadtmenschen, in der sich
Ekel und Abscheu mit der Entfremdung gegenüber dem Dasein verbinden.
Dann kamen die Existenzialisten, die die Langeweile für den
Grundzustand menschlicher Existenz hielten". (ebd.,
vgl. dazu auch:
Safranski 2015, S.27.)
Dass im Übrigen auch Peter Bichsel mit
Langeweile stets umgehen konnte, hat er einmal mehr in einem
Interview der
Neuen Zürcher Zeitung vom 28.3.2020 anlässlich seines 85.
Geburtstages ausgedrückt, als er auf die Frage, wie denn sein Alltag
aussehe, nachdem er mit dem Schreiben aufgehört habe, antwortete:
"Es muss nicht viel passieren. Ich mag die Langeweile. Ich habe
keine Schwierigkeiten mit ihr. Ich kann gut dasitzen und nichts tun
und mich daran erfreuen, dass ich lebe." (https://nzzas.nzz.ch/kultur/was-der-dichter-peter-bichsel-waehrend-der-corona-krise-tut-ld.1548826,
28.3.2020)
Paul sitzt am Tisch und testet den neuen
Füllfederhalter, den er sich gekauft hat. Er probiert, wie sich mit
ihm unterschreiben lässt, malt ein paar Wellenlinien, schreibt die
Adresse seiner Eltern, greift zu einem neuen Bogen, faltet ihn
"sorgfältig", wie es heißt und schreibt dann irgendwo die beiden
Sätze darauf: " Mir ist es hier zu kalt" und "ich gehe nach
Südamerika". Kann sein, dass das sorgfältige Falten des neuen
Bogens den vorherigen Fluss der Schreibübungen in eine andere
Assoziationsrichtung lenkt, überbewerten sollte man diese eher
mechanisch wirkende Handlung im Zusammenhang aller mit "dann"
verknüpften Tätigkeiten Pauls indessen nicht.
Für einen Moment hat es den Anschein,
als seien damit seine Schreibübungen mit dem neuen Füllfederhalter
beendet. Er schraubt jedenfalls die Schutzkappe wieder über die
Feder des Schreibgeräts. Danach beobachtet er, wie die das
Geschriebene beim Eintrocknen der Tinte wirklich dunkel wird, so wie
man ihm das im Schreibwarengeschäft, wo er sie erstanden hat,
versprochen hat. Die Sätze und ihre Bedeutung, die ihm zuvor quasi
"aus der Feder geflossen" sind, scheinen ihn, jedenfalls nicht zu
beschäftigen, als er sich auf das Eintrocknen der Tinte konzentriert
und ihm die Qualitätszusagen der Papeterie durch den den Kopf gehen.
Als er dann erneut zum Füllfederhalter greift und unter das
Geschriebene noch seinen Vornamen setzt, reiht sich diese Handlung
mit dem erneut wiederholten "dann" einfach in das Tun ein, das sein
ganzes bis dahin erzähltes Verhalten auszeichnet. Was mit den
Bemerkungen gemeint ist, erschließt sich jedenfalls aus dem Text
selbst nicht, und, was eigentlich noch wichtiger ist, es beschäftigt
auch Paul zunächst einmal nicht weiter. So gibt es auch kein
wirklich plausibles Indiz im Text dafür, dass mit Kälte auf eine
erkaltete Beziehung zwischen ihm und Hildegard verwiesen würde.
(vgl.
Jucker (2004,
S.270).
Gerahmt durch das Handlungsschema des
Wartens, das den ansonsten belanglos und sinnentleert erscheinenden
Verrichtungen und Gedanken, unter Bedingungen eines nicht gerade
sonderlich anregend wirkenden "Ereignisteppichs" (Safranski
2015, S.19ff.) um sich herum, durchaus auch Sinn verleiht,
gewinnen wenige Handlungen, die bei ihrer Ausführung eigentlich an
kein in der Geschichte dargestelltes Interesse geknüpft zu sein
scheinen, nach einer zeitlichen Verzögerung ("Dann saß er da.") und
anderen Tätigkeiten, auf die sich das Interesse Pauls richtet, eine
Eigendynamik.
Was sich dem Leser aufdrängt, dass die
Unterzeichnung der hingeschriebenen beiden Sätze mit dem eigenen
Namen, eine bedeutungsschwere Botschaft über Pauls emotionale
Befindlichkeit und seine Beziehung zu Hildegard darstellt, ist
jedenfalls nicht die Perspektive Pauls, den die dadurch mögliche
Bedeutungszuschreibung und Kohärenz der Sätze als Mitteilung an
irgendeinen Adressaten zunächst jedenfalls nicht weiter
beschäftigt.
Für eine gewisse Zeit sitzt er einfach
da, wie lange es dauert bleibt im Ungewissen und was und ob ihm
überhaupt dabei etwas durch den Kopf geht, wird nicht erzählt.
Jedenfalls scheint nichts seine Sinne reizen, außer dem Radio, das
weiterhin Musik spielt. Ob ihm dabei langweilig ist, er sich gar
dieser Langeweile bewusst ist und wie er sie erlebt, bleibt
ausgespart. Aber: Zieht man in Betracht, dass er nach ein paar
weiteren Verrichtungen und Überlegungen, was er mit seiner "freien"
Zeit tun könne, für eine Weile durchspielt, was Hildegard tun würde,
wenn er weg wäre und sie seine Mitteilung als Abschiedsbrief läse,
zeigt, dass er sich durchaus mit auch mit "mit inneren
Geschehnissen – Erinnerungen, Gedanken, Phantasien - eine Weile lang
behelfen" kann (Safranski
2015, S.21), wenn er auf einen Reiz, in diesem Fall sein
erneuter Blick auf den Tisch mit dem gefalteten Bogen, reagiert.
Was er "später" tut, passt ins
Handlungsschema seines Wartens auf Hildegard. Dabei muss dieses
Warten weder als Ausdruck von "Vereinsamung" oder Erfahrung der
"Kälte des Alleinseins" (Zobel
1985a, S.194 und 197), noch als "Sehnsucht nach der Partnerin" (Jucker (2004,
S.271f.) gelesen werden. Die "Sehnsuchts-These" romantisiert, die
"Vereinsamungs-These" dramatisiert ein Geschehen, das im Vollzug des
Handlungsschemas selbst seinen Sinn finden kann.
Paul wird nach einer Weile des untätigen
Dasitzens wieder aktiv. Mag sein, dass das, was er tut, nicht
sonderlich einfallsreich ist, aber er weiß sich auf seine Art zu
beschäftigen, in einem vergleichsweise reizarmen Umfeld - der Raum,
in dem die Handlung spielt, ist nur mit spärlichen Elementen
dargestellt (Tisch, Aschenbecher, Zeitungen, ein paar Bogen Papier,
Füllfeder mit Gebrauchsanweisung, Radio). Moderne "Zeitvertreiber",
wie die heute üblichen digitalen Medien, Internet, Netflix und
soziale Netzwerke gibt es in der erzählten Welt nicht und ein
Smartphone, das ihm von überall her Zugang zu diesen translokalen
digitalen Räumen verschaffen und unterschiedliche
Kommunikationspfade ermöglicht, gibt es in der erzählten Welt von
Paul nicht. Zeitungen informieren ihn über das Geschehen draußen in
der Welt und das Radio unterhält ihn mit seiner Musik.
Paul räumt die Zeitungen vom Tisch,
überfliegt dabei noch einmal das Kinoprogramm, verwirft den Gedanken
eines möglichen Kinobesuchs, weil es inzwischen zu spät geworden
ist, denkt an dieses und jenes und spielt mit seinem neuen
Füllfederhalter herum, den er leert und wieder auffüllt. Vielleicht
hat er den Zeitpunkt vertrödelt, um an diesem Mittwochabend ins Kino
zu gehen, genauso gut kann es sein, dass es einfach später geworden
ist, zumal er ja offensichtlich dafür zuständig ist, dass die Kinder
rechtzeitig ins Bett kommen. Wozu also eine "Lähmung" oder
"Entscheidungsschwäche" Pauls postulieren, wo die Geschichte ihn so
zeigt, wie er "aktiv", vielleicht nicht sonderlich intentional
begründet, im Denken und Tun beim Warten auf Hildegard, die immer
wieder aufkeimende Langeweile zu bewältigen sucht.
Dass dabei auch sein "Dasitzen", von dem
im Text dreimal die Rede ist, nicht als völlig sinnentleert gesehen
und als stumpfsinniges Herumhocken interpretiert werden kann, zeigt
sich, als er bei der zweiten Wiederholung, während er so herumsitzt,
überlegt, wem einen Brief schreiben könnte, die Gebrauchsanweisung
noch einmal liest und nach einer Weile wieder seinen "Zettel"
betrachtet und sich seinen Assoziationen hingibt ("dachte an Palmen,
dachte an Hildegard").
Als Paul das Radio abstellt, fällt sein
Blick wieder auf den Tisch, in dessen Mitte der "Zettel" liegt. Die
Tinte ist inzwischen tatsächlich blauschwarz geworden, das fällt ihm
zunächst auf. Dann liest er seinen Namen, den er unter die beiden
Sätze gesetzt hat und dann, fast beiläufig ("stand auch darauf") den
Satz: "Mir ist es hier zu kalt".
Der lineare, aber zeitlich nur
angedeutete Zeitablauf, der mit seinen Aussparungen und monoton
wirkenden Verwendung des Zeitadverbs "dann" bis dahin nicht
eindeutig zu bestimmen ist, wird für einen Moment genau fixiert, als
Paul sich vergewissert, dass sein Warten auf Hildegard, wenn also
läuft wie sonst, nur noch eine halbe Stunde dauern wird. "Jetzt",
als Temporaladverb ein deutlicher Indikator für die personale
(zeitliche) Perspektive Pauls ist es neun Uhr, wie der
Gedankenbericht formuliert. Zeit genug, für ein Gedankenspiel, auf
das ihn der vor ihm liegende Zettel bringt, dessen mögliche
Tragweite als Abschiedsbrief Paul erst in diesem Moment bewusst zu
werden scheint.
Sein Gedanken haben zumindest für eine
kleine Zeit lang, im Gegensatz zu der erzählten Gedankenrede zuvor
("dachte an irgendetwas"), bei der nur der gedanklich-sprachliche
Akt selbst erwähnt wurde, einen Fixpunkt gefunden, der seine eigene
Dynamik entfaltet. Das Warten auf Hildegard, wie zuvor dargestellt
worden ist, scheint damit auf merkwürdige Art und Weise
unterbrochen.
Der neue Fixpunkt regt die Fantasie
Pauls an, sich vorzustellen, was wäre, wenn er das, was da auf dem
Zettel steht, wirklich, und zwar an diesem Abend, einfach tun würde.
Dabei beschäftigt ihn nicht, was das für sein Leben bedeuten würde,
er träumt sich also nicht eskapistisch hinein in eine andere Welt
und oder in ein anderes Leben, sondern malt sich aus, wie Hildegard
bei ihrer Heimkehr darauf reagieren würde, wenn er nicht zu Hause
wäre und den Zettel auf dem Tisch läse. Es sind keine
Fluchtfantasien, die ihn umtreiben, sondern Fantasien über die
mögliche Wirkung eines solchen Schrittes, den er selbst, weder
gedanklich, noch in sonstigen Handlungen sichtbar, während der
ganzen Geschichte als Möglichkeit oder Notwendigkeit, aus einer
prekären emotionalen oder sozialen Lage herauszukommen,
thematisiert.
Einen Schrecken würde sie, da scheint er
sich sehr sicher, wohl bekommen. Sie würde - die Gedankenrede bleibt
- mit einer Ausnahme ("Der 'Löwen' ist mittwochs geschlossen" (=
historisches Präsens) - im Konjunktiv II bzw. Konditional, der das
bloß Vorgestellte signalisiert, würde trotz ihres Zweifels an der
"Südamerika"-Geschichte, sich doch vergewissern, ob seine Hemden
noch alle im Kleiderschrank wären, weil sie das Gefühl hätte, dass
irgendetwas Besonderes vorgefallen sein müsste. Aus diesem Grund
würde sie auch in den "Löwen" telefonieren, wo er sich offenbar
immer wieder einmal abends hinbegibt, müsste aber feststellen, dass
das Gasthaus mittwochs Ruhetag hat. Sie käme, so stellt sich Paul
vor, mit der Situation zwar nicht sonderlich gut zurecht, "würde
lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden,
vielleicht." (Hervorh. d. Verf.). Das nachgestellte "Vielleicht"
(Inversion) zeigt aber, wie unsicher sich Paul mit seinen
Vorstellungen über das mögliche Verhalten seiner Frau ist. Und auch
die Reihung von Verben mit einem gleichschaltenden "und" die
auf die Vermutung hinauslaufen, dass Hildegard, wenn sich das Ganze
als Wahrheit entpuppen sollte, emotional zwar betroffen, aber auch
stark genug sein könnte, das Ganze zu überwinden, macht deutlich,
dass er sich eigentlich kaum, jedenfalls weder empathisch, noch
plastisch vorstellen kann, was wäre wenn. Was ihm einfällt, sind
lediglich Gesten und Verhaltensweisen seiner Frau, die er seit
langem kennt, die ihm aber verdeutlichen, wie Hildegard zur
Tagesordnung übergehen würde, wenn sich der erste Schrecken gelegt
hätte: "Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streichen
... dann langsam den Mantel aufknöpfen."
Mit diesem Gedanken findet das
Gedankenspiel, das zeitdeckend erzählt wird, und im längsten Fall
die Zeitspanne einer Minute der erzählten Zeit umfasst, zu seinem
vorläufigen Ende gebracht. Alles geht weiter, wie vorher, wie wohl
jeden Mittwochabend. Paul sitzt da, beschäftigt sich erneut mit
seinem neuen Füllfederhalter, denkt darüber nach, wem er einen Brief
schreiben könnte, studiert noch einmal die Gebrauchsanweisung dafür
und findet sogar Interesse daran, den französischen Text zu lesen
und den deutschen mit dem englischen zu vergleichen. Die
asyndetische Reihung seiner Tätigkeiten ist fließend, ganz im
Gegensatz zu der zu Beginn der Geschichte holprig das linear
monotone "Dann"-und-"Dann"-Reihung vergleichbarer Tätigkeiten, endet
allerdings mit dem zweimaligen anaphorischen "Dachte-An" Palmen und
Hildegard, nachdem er erneut seinen Zettel betrachtet. Losgelassen
hat ihn die Assoziation jedenfalls noch nicht. Mit dem Bild von
Palmen nimmt, das, was Paul mit Südamerika in Verbindung bringt
(Sonne, Wärme, exotische Natur), sogar für einen Moment konkretere
Gestalt an und stellt sich in eine Kontrastbeziehung zu der auf dem
Zettel vermerkten Kälte. Doch sein letzter Gedanke in dieser
Assoziationskette richtet sich auf Hildegard. "Seine Gedanken enden
nicht im Süden", betont
Jucker (2004,
S.271f.) und macht damit den Weg frei für eine andere, nicht
negative Lesart des Schlusses der Geschichte.
Diesen muss man nämlich keineswegs
verstehen als Unfähigkeit des Mannes, seine Fluchtfantasien
umzusetzen und eben sowenig legt der Hinweis, dass die Frau am Ende
grußlos zunächst nach den Kindern fragt, wenn man nicht in den Text
hineinpsychologisiert, Zeugnis für eine Ehekrise zwischen Hildegard
und Paul ab. Ob "die Tatsache, dass der Mann genau weiß, wann
Hildegard welche Bewegung macht, [...] von einem innigen familiären
Zusammenhalt" hinweist und der Verzicht des Mannes seine
Fluchtfantasien auszuleben mehr "kluge Einsicht" in die
Notwendigkeit als "Resignation" darstellt (Jucker 2004,
S.272), bleibt angesichts des offenen Endes der Geschichte aber
letzten Endes, auch mit dem "kunstvollen Rückgriff" auf den Autor
Peter Bichsel, der trotz aller seiner Vorbehalte gegen die Schweiz,
immer in der Schweiz geblieben sei, nicht weniger spekulativ.
Was bleibt, ist das Einlösen des
Versprechens, den Text so zu nehmen, wie er ist. Er lässt mit seinen
"Aussparungen" und "Hohlräumen"
(Reich-Ranicki
1964) und seine "ganz spezielle sprachliche Form, die in ihrer
Verknappung lediglich andeutet und mehr verschweigt als anspricht"
und "gerade dadurch die Leser zu intensiver Mitarbeit bei der
Lektüre ermutigt" (Jucker 2004,
S.272, vgl.
Sell 1979), unterschiedliche Möglichkeiten zu diese "Hohlräume"
zu füllen. Aber vielleicht ist es auch an der Zeit, die
Interpretation des Textes von der vom Autor selbst gesetzten
"Irreführung" zu befreien, die mit dem Titel "San Salvador", der im
Text an keiner Stelle mehr auftaucht, geschaffen worden ist. Erst
diese autoriale Rezeptionssteuerung macht San Salvador zu einem
Sehnsuchtsort, nicht unbedingt Pauls, aber der Leserinnen und Leser.
Dazu solle man, dabei ist Jucker beizupflichten, "nicht nur
diejenige Leseart ausreizen, die unserer derzeitigen Weltwahrnehmung
am plausibelsten erscheint, sondern verschiedene Möglichkeiten
durchspielen." (ebd.)
Eine dieser Möglichkeiten ist
jedenfalls, ausgehend von den Motiven des Wartens und der
Langeweile, den Umgang der Menschen mit der Zeit und den gegen das
Gefühl ihres unablässigen Verstreichens dicht geknüpften
Ereignisteppichen als Sichtblenden dagegen (vgl.
Safranski
2015, S.26) zu thematisieren und damit die romantisch
erlebnishungrige Gier nach Leben und die moderne "Enttäuschung
des Nichterlebens" (ebd.)
zumindest im Ansatz zu überwinden. Zwingend jedenfalls ist nicht,
wenn wie im Fall Pauls in Peter Bichsels Geschichte durch die Ritzen
der Zusammenhang- und scheinbaren Bedeutungslosigkeit des eigenen
Tuns "wieder die Langeweile, die Erfahrung der leeren Zeit
hindurchsickern kann", dass diese so schnell wie möglich wieder mit
hektischen Aktionen und noch so wunderbar abgerundeten Bedeutungs-
und Sinnzuschreibungen "zugedeckt werden" müssen. (vgl.
ebd.)
Das auszuhalten, ohne selbst in Lähmung zu verfallen, wenn das Leben
sich immer wieder in "Normalität" von einem Dann zu einem anderen
Dann zeigt, ist auch eine Chance gegen den jede Gemeinschaft
sprengenden rigiden Individualismus, bei dem es nur noch eines zu
verwirklichen gibt: das "eigene
Leben". (Beck
1995)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
03.09.2023