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WIE WIRD ERZÄHLT?
(Zeitgestaltung,
Perspektiven, Darbietungsformen ...)
▪
Zeitgestaltung
in erzählenden Texten
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Überblick
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Leitfragen zur Analyse
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Strukturen
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Überblick
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Ausschnitt
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Reihenfolge
▪
Dauer/Erzählgeschwindigkeit
▪
Überblick
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Erzählzeit
▪
Erzählte Zeit
▪
Erzählgeschwindigkeit
▪
Bausteine
▪ Frequenz
▪
Textauswahl
▪
Bausteine
Die Interpretation der
Kalendergeschichte
»Unverhofftes
Wiedersehen« von
Johann Peter Hebel geht in der Regel von der
Zeitgestaltung
der Geschichte aus, die auf einem besonders eindrücklich ausgeprägten
Verhältnis von
Erzählzeit
(=Dauer des (Vor-)Lesens einer Geschichte) und
erzählter Zeit (=Dauer des erzählten Geschehens einer Geschichte)
beruht. Das Verhältnis dieser beiden Dimensionen bestimmt im
Wesentlichen das
Erzähltempo einer
Geschichte.
In Johann Peter Hebels
Kalendergeschichte »Unverhofftes Wiedersehen« ist die Zeitgestaltung das
maßgebliche Ordnungsprinzip der Geschichte. Wie
Jochen Vogt (1990, S.111-114) zeigt, gliedert sie mit ihrer
"zentralen Raffung" das erzählte Geschehen und schafft mit ihrem starken
Wechsel des Erzähltempos drei verschiedene Erzählphasen. Die erste
besteht nach Vogt aus den drei nur knapp angedeuteten Szenen bzw.
Geschehnissen Brautkuss, Aufgebot und Abschied. Während in der ersten
Szene mit ihrer dominierenden direkter Wechselrede noch
personales oder gar
neutrales Erzählen
vorherrsche und
zeitdeckend erzählt werde, ändere sich dies in der zweiten Szene.
Sie "führt mit der
allegorischen Personifizierung eines Geschehens ("da meldete sich
der Tod",
Z 7) aus dem Raum des äußerlich fassbaren bzw. subjektiv
wahrnehmbaren Geschehens hinaus, wie es von personalem Erzählen erfasst
werden kann. Man muss sie als
auktorialen Erzählereingriff verstehen, ähnlich wie die räsonierende
Einmischung 'der Bergmann hat sein Totenkleid immer an'." Daher,
so Vogts Schluss, dominiere auktoriales
Erzählen
"bereits im Übergang zur zweiten Erzählphase." Er belegt seine
Behauptung an den ersten 13 Zeilen in der
vorliegenden Fassung
bzw. 5 Sätzen (Erzählzeit),
in denen nur ein paar wenige ausgewählte Ereignisse gereiht würden, die
sich innerhalb weniger Tage (erzählte
Zeit) ereignen. Da diese drei Szenen aus einem Gesamtverlauf von
drei Tagen herausgegriffen würden, könne man schon hier von einer
Zeitraffung
sprechen.
Im weiteren Verlauf der Erzählung werde das Geschehen indessen
"wesentlich stärker, ja extrem gerafft", so Vogt weiter, und
konstituiere die zweite Erzählphase (Z
10 Er kam… bis
Z 21 …Werkstatt). Die umfasst in der Tat nur 12 Zeilen in der
vorliegenden Fassung
und führt dem Leser den Ablauf eines halben Jahrhunderts vor Augen, "dem
nach dem Unglückstod des Bergmanns die ganze Welt, damit auch seine
junge Braut unterworfen ist, während sein Leichnam ihm paradoxerweise
entrückt scheint." (ebd.)
Die erzählerische Wirkung des Textes beruht nach
Jochen Vogt (1990,
S.111-114) auf der Anwendung und Kombination von drei Techniken:
Weitung des Erzählwinkels
Am Anfang spielt sich das erzählte Geschehen in einer fast idyllisch
anmutenden Privatsphäre ab. Erst allmählich weitet sich dieser
"Erzählwinkel" "ins Globale und
Welthistorische": "Von der zurückgebliebenen Braut ist nur noch
überleitend (und bereits stark raffend) die Rede: 'und vergaß ihn nie" (Z
12). Dann aber wird in der scheinbar regellosen Aufzählung
historischer Ereignisse der Fluss der Zeit angedeutet, ja er wird
geradezu spürbar, wobei die souveräne raum-zeitliche Überschau eine
wahrhaft auktoriale Erzählhaltung anzeigt (und hier in engem
Zusammenhang mit der Gattung und Wirkungsabsicht der Kalendergeschichte
steht.)." Die Weitung des Erzählwinkels kontrastiert aber auch "mit
leiser Ironie" (Nentwig
1962, S.30ff.) zugleich die rasche Vergänglichkeit vermeintlich
großer und denkwürdiger Ereignisse mit dem "Unvergängliche(n) des
einfachen Menschenalltags (...): Saat und Ernte, Arbeit und Mühe." (ebd.)
( "… und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die
Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in
ihrer unterirdischen Werkstatt."
Z 19-21)
Raffende und
rhythmisierende Aufzählung: Sukzessive Raffung
Die Art und Weise, wie der Erzähler die Geschehnisse darbietet, ist
raffend und rhythmisiert dadurch den Erzählablauf. In syndetischer
("und… und … und") Reihung präsentiert er zunächst einmal siebzehn
historisch-politische Ereignisse. Die ersten fünfzehn davon lassen sich,
so Vogt weiter, "zumeist in Dreiergruppen ordnen, wobei als drittes
jeweils der Tod einer historischen Person steht."
Was der Erzähler "aus der ungeheuren Fülle dieses halben Jahrhunderts
(Geschehen) ausgewählt " habe, seien allesamt wichtige historische
Ereignisse. Die meisten davon hätten dabei mit Scheitern und Vergehen zu
tun und ließen damit Rückschlüsse darauf zu, wie die Geschichte
konzeptionell funktioniert: "Zur Geschichte geordnet werden sie linear
und quasi parallel zur historischen Chronologie." (Vogt
1990, S.111-114), Hervorh. d. Verf.) Diese fortschreitende
Aneinanderreihung von Begebenheiten wird mit
Lämmert (1995, S.83) als
sukzessive Raffung bezeichnet, der darunter "eine in Richtung der
erzählten Zeit fortschreitende Aufreihung von Begebenheiten" versteht,
deren "Grundformel" "das 'Dann ...und dann ...' " darstellt. Da
die Raffungsintensität in der Kalendergeschichte Hebels an dieser Stelle
jedoch besonders hoch ist, spricht
Jochen Vogt (1990,
S.111-114) hier von
Sprungraffung (im Gegensatz zur
Schrittraffung).
Kombination von
sukzessiver Raffung und
iterativ-durativer Raffung
Die besondere Qualität der Zeitgestaltung mit dem Element der Raffung in
Hebels Kalendergeschichte zeigt sich aber nach Vogt vor allem in der
Kombination der beiden Raffungstechniken:
sukzessiv und
iterativ-durativ.
Vogt demonstriert dies an dem nachfolgenden Beispiel, betont dabei, dass
der Übergang sich innerhalb einer Dreiergruppe gleitend vollziehe: "
'Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen,
und die Ackerleute säeten und schnitten.' (Z
19f.) Nicht mehr herausragende Geschehnisse, sondern überdauernde
Zustände bzw. regelmäßig wiederholte Tätigkeiten werden benannt: 'und
die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede
hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer
unterirdischen Werkstatt.' (Z
20f.) Hier liegt eine
iterativ-durative Raffung
vor."
Diese fasst nach
Lämmert
(1995, S.84) "einen mehr oder weniger großen Zeitraum durch Angabe
einzelner, regelmäßig sich wiederholenden Begebenheiten (iterativ) oder
allgemeiner, den ganzen Zeitraum überdauernder Gegebenheiten (durativ)
zusammen. Beide Formen treten nicht selten eng verflochten auf und haben
die gleiche Grundtendenz, ruhende Zuständlichkeit zu veranschaulichen;
daher sind sie in einer Kategorie zusammengefasst. Ihre Grundformeln
sind:
'Immer wieder in der Zeit … oder Die ganze Zeit hindurch …'
"
Die Kombination der beiden Raffungsarten in der Kalendergeschichte
Hebels zeigt nach
Vogt (1990, S.111-114), dass das normale, alltägliche Leben neben
den sich abspielenden, bedeutsamen historischen Ereignissen "seinen
gleichbleibenden Gang" hat. Anders ausgedrückt: Privates Schicksal und
die großen Staatsaktionen bleiben einerseits eingebunden in das System
gesellschaftlicher Arbeit, das seinerseits eng mit der Natur, ihren
Ressourcen und ihrem Zeitrhythmus verschränkt ist; andererseits,
zumindest in Hebels Perspektive, eingebunden in die christliche
Heilsordnung, die Zeit grundsätzlich aufzuheben vermag. Erzähltechnisch
wird in dieser Raffung der Blickwinkel unmerklich wieder auf die beiden
Brautleute und ihr Schicksal gerichtet. […] Hieran schließt sich dann
bruchlos die Rückkehr auf den engen ursprünglichen Schauplatz und, mit
ziemlich genauer Datierung, in die Sukzession der privaten Geschichte
an: "im Jahre 1809, etwas vor oder nach Johannis" (Z
22)."
Die dritte Erzählphase, die aus den beiden Szenen nicht erwartetes
Wiedersehen und dem Abschied "auf dem Kirchhof" (Z
43) besteht, wird in einem langsamen Erzähltempo, vergleichsweise
breit, erzählt. Dabei zeigt sich, dass der Zeitenlauf auch biographisch
Wirkung hat: Die "junge hübsche Braut" (Z
1f) erscheint darin "in der Gestalt des hingewelkten kraftlosen
Alters" (Z
35f.) und der Tote zeigt sich vom Zeitenlauf unversehrt und
weiterhin "in seiner jugendlichen Schöne". (Z
36)
Die Analyse der
Zeitgestaltung, die Vogt vornimmt, zeigt, dass sie einen wesentlichen
Schlüssel zum Verständnis des Textes bereithält. Erst über sie
erschließt sich nämlich, was den Sinn der Geschichte ausmachen kann: Die
Zeit und ihr unaufhaltsames Fortschreiten bestimmt alles Leben. Edgar
Neis (1965, S.61ff.) sieht daher in Hebels Geschichte "ein
Musterbeispiel dafür, wie es traditioneller Erzählkunst gelingt, die
äußere und innere Zeit eines Menschenlebens zusammenzuraffen und als
Einheit dem Leser sichtbar zu machen."
Auf diese Weise bringt die Geschichte "symbolhaft den ehernen Gang der
Geschichte und zugleich die Flucht der Zeit und Vergänglichkeit des
Seins zum Ausdruck". (Neis
1965, S.61ff.). Wie und zu welchem Ende hin dies gedeutet wird,
liegt mehr denn je im Auge des Betrachters, d. h. ist von den Werten und
Überzeugungen des Lesers abhängig. So mag es wohl sein, dass viele
moderne Leser kaum noch etwas mit der "christlich verbürgte(n)
Heilsgewissheit einer Ewigkeit jenseits der Zeit" (Vogt
1990, S.111-114), der Verheißung eines Lebens nach dem Tode anfangen
können, die Lesern vor knapp zweihundert Jahren zur Einordnung des
erzählten Geschehens wohl noch vor Augen stand, wenn er die Braut mit
folgenden Worten von ihrem Geliebten Abschied nehmen sieht:" Ich habe
nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wird's wieder Tag. Was
die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zweitenmal auch nicht
behalten". (Z
44f.)Diese Andeutung auf ein Leben nach dem Tode hebt nach
christlich-religiöser Deutung "das Geschehen aus dem Bereich des
Irdischen, Vergänglichen ins Metaphysische", das im "Bewusstsein von
einem außerzeitlichen Jenseits" (Nentwig
1962, S.30ff.) mündet.
Eine nicht von
christlichen Überzeugungen geprägte Rezeption wird indessen die
"wahrhaft 'zeitlose' Treue der Braut" (Vogt
1990, S.111-114), eben nicht mehr als einen "weltliche(n) Reflex
solcher Ewigkeit" auffassen, sondern wohl eher als eine im Individuum
selbst liegende "subjektiv wirksame Überwindung der Zeit" (ebd.)
Und der Sinn, den der einzelne angesichts dieser existenziellen
Bedingung des Zeitenlaufs seinem Leben zu geben vermag, ist ein
Konstrukt, auf das die knappe Erzählung hinweist. Sie lässt eine
Vielzahl von Deutungen zu, die von der romantischen Vorstellung einer
das ganze Leben überdauernden Liebe reicht bis hin zu einer auf
Lebensgenuss im Hier und Jetzt ausgerichteten Lebenseinstellung. In
jedem Fall muss die Hoffnung auf "ein anderes, verborgenes,
überzeitliches Sein" (Rang
1961, S,289f.), das auf die von der kurzen Erzählung ausgehenden
Mahnungen "memento mori wie memento vivere" (ebd.)
Bezug nimmt, also keineswegs in christlicher Heilsgewissheit münden. Das
Strömen und der Stillstand der Zeit und aller Zeitlichkeit (vgl.
ebd.), das
die Geschichte zum Thema macht, entspricht ebenso gut dem
Lebensgefühl des modernen Menschen, der den eschatologischen
Daseinsbezug zu Gunsten eines und einzigen Lebens im Hier und Jetzt
aufgegeben hat. Vielleicht, so lässt es sich wohl am ehesten sagen,
"lebt denn in dieser unscheinbaren Geschichte das ganze Hell-Dunkel des
Daseins: seine Lust und seine Wehmut, wie es vergeht und wie Treue das
Vergängliche überwindet, wie es zwischen Endlichkeit und Ewigkeit als
ein verschwindender Übergang schwebt." (Pfeiffer
1954, S.49)
*Die Zeilenangaben
beziehen sich auf die als
teachSam-OER-Dokument veröffentlichte Fassung, die als
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.02.2024