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Aspekte der Erzähltextanalyse

Die Geschichte "von oben" oder "von unten" lesen

Franz Kafka Parabeln Eine kaiserliche Botschaft

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur
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Man kann die Geschichte, die • Franz Kafka in seiner • Parabel • "Eine kaiserliche Botschaft" "von oben" oder "von unten" lesen. Damit ist nicht gemeint, dass man sie bei der Lektüre nicht dem linearen Textverlauf folgend vom Anfang ausgehend bis zu ihrem Ende liest. Gemeint ist damit vielmehr unterschiedliche Lesarten des Textes, die den Sinn an bestimmten inhaltlichen Strukturen orientieren und dabei zu unterschiedlichen, einander aber nicht ausschließenden Deutungen des Textes gelangen, indem sie, kognitionspsychologisch gesprochen, am Ende unterschiedliche Situationsmodelle des Textes konstruieren.

Eine der grundlegenden inhaltlichen Strukturen des Textes stellt dabei die Beziehung zwischen dem sterbenden Kaiser und dem als "Du" angesprochenen "jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten" dar. Ihre Beziehung zueinander ist eine von Macht und Ohnmacht und Macht und Unterwerfung, die beiden in dem Herrschaftsgebiet des Kaisers einen bestimmten sozialen Status und, damit zusammenhängend, in dem Herrschaftsgefüge auch einen bestimmten individuellen Wert verleiht. Hie die kaiserliche Sonne, die alles in helles und auch wärmendes Licht tauchen kann, dort der dunkle Schatten, in dem der Einzelne nur noch als Umriss zu erkennen ist.

In das Bild einer festgefügten hierarchischen Ordnung der Welt bringt die geheimnisvolle Botschaft, die der Kaiser in der Stunde seines Todes ausgerechnet an einen "jämmerlichen Untertanen" senden will, eine Dynamik, die so gar nicht in diese Welt passt. Allerdings weiß offenbar auch niemand, auch der Erzähler nicht, mit Gewissheit, ob der Kaiser dies tatsächlich tut, denn schließlich, ist dessen Wahrheit in keiner Weise verbürgt (so heißt es). Vielleicht ist eben das Ganze nur ein Gerücht.

Die Geschichte "von oben" gelesen

Folgt man dennoch dem Verlauf der Handlung von oben, sieht und betrachtet sie mit den Augen des Kaisers, der aus welchen Gründen auch immer kurz vor seinem Tode einem einzigen seiner Untertanen, dazu noch einem, der in der Hierarchie ganz unten steht, eine offenbar nur ihm und seinem Boten bekannte Mitteilung machen will, dann liest sich die Geschichte als eine Geschichte des Scheiterns der Kommunikation zwischen dem Inhaber der höchsten und über allem stehenden Macht und dem ausgewählten Untertanen. Dieser steht dabei exemplarisch für die, die am unteren Rand der Gesellschaft in den Slums leben (vgl. Niehaus 2010, S.88) und den verachteten, im "Schatten" vegetierenden "Bodensatz" dieser politisch und sozial auf Ungleichheit basierenden Gesellschaft darstellen.

Der Kaiser hat offenbar während seiner Regierungszeit keinen Kontakt zu diesen Untertanen aufgenommen und die politischen Tagesgeschäfte den "Großen des Reichs" überlassen, die jetzt zur räumlich nächsten "Zuschauerschaft seines Todes" werden. Sein Tod wird jetzt vor aller Augen und ohne "alle hindernden Wände" öffentlich erwartet wird. Erstmals und nur in der Stunde seines Todes öffnet sich, das durch den "Ring der Großen des Reiches" abgeschottete Leben des Kaisers im Palast nach außen, sei es um der Seele des bald Toten den Weg freizugeben, sei es die Imagination zu ermöglichen, der Kaiser in seinem Palast sei tatsächlich eins mit seiner kaiserlichen Welt, die seine Sonne – so heißt es – quasi zum Leben erweckt wird. Warum er, sofern er es überhaupt tut, einem einzigen winzigen Schattenmenschen, der sich dazu noch, "in die fernste Ferne" geflüchtet hat, eine letzte Botschaft vom Sterbebett aus zukommen lassen will, bleibt ein Rätsel. Lediglich dass sie als quasi private Äußerung, der Kaiser flüstert sie dem Boten ins Ohr, das in der Öffentlichkeit sich vollziehende Dahinscheiden durchbricht, gibt ihm eine besondere Bedeutung über deren Inhalt, ihre Bedeutsamkeit für den Sender und Adressaten sich der Erzähler des Textes ausschweigt. Einzig, die energische Art und Weise, mit der sein Bote, der einzige Mitwisser, sich zunächst daran macht, sich allen Hindernissen zum Trotz den Weg zu dem Adressaten zu bahnen, könnte, wenn nicht einfach als ergebene Diensteifrigkeit verstanden, ein Hinweis darauf sein, dass die Botschaft wirklich für Kaiser und nichtswürdigem Untertan wirklich von Bedeutung ist. Doch sein Bestreben, den Auftrag seines Kaiser in einer Art Wettlauf vor dessen Tod zu erfüllen, ist eine Illusion und war schon zum Zeitpunkt seines Aufbruchs ganz und gar aussichtslos. Die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, so konstatiert der Erzähler apodiktisch, wird er niemals überwinden und zwar schon deshalb nicht, weil er den Wettlauf mit dem Tod in jedem Fall verliert ("Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten."): Die hintereinander und ineinander geschachtelten Räume (Paläste) können nämlich, so postuliert der Erzähler, auch in einem Zeitraum von Jahrtausenden räumlich zu überwunden werden.

Liest man den Text in dieser Weise von oben nach unten, dann kann man das Geschehen auf unterschiedliche Bereiche übertragen.

Dem biografischen Ansatz folgend kann man den "mäandernde(n) Weg, den der Bote durchläuft" als einen Verweis" auf die verschlungenen Kanäle des bürokratischen Systems" (Alt 2005, S.517 verstehen, das Kafka aus seiner Arbeit bei der Versicherungsanstalt bestens kannte. Ähnlich wie Akten in der administrativen Ordnung, fährt Alt (2005) fort, verschlungene Bahnen durchquerten, wandere der Bote mit der überlieferten Nachricht durch endlos wirkende Räume von Hof zu Hof, von Palast zu Palast [,,,], ohne sein Ziel je zu erreichen. Und: Wenn der Text bis zum Schluss nicht verrät, worum es in der kaiserlichen Botschaft überhaupt geht, wiederhole er "nur die Figur der Verfehlung, die der traumähnliche Verlauf des Textes inszeniert." Insofern handele die Parabel im Kern "von den Schwierigkeiten der Nachrichtenübermittlung unter den Bedingungen einer labyrinthisch erscheinenden Welt" und "vom Scheitern der Kommunikation". (ebd., S.517)

Auch der Zugang über das Schreiben Franz Kafkas liefert vom Text autorisierte Möglichkeiten des Bedeutungstransfers. So kann man den Boten, der sich gegen alle äußeren Hindernisse seinen Weg zum Adressaten bahnen will und sich dabei "durch das Labyrinth von Höfen und Palästen, kämpfen muss, auf die Situation des Autors übertragen, der in seinem literarischen Schaffen durch die Verhältnisse seiner Existenz immer wieder ins Stocken gerät und während dieser Zeit keinerlei Hoffnung mehr hat, das Begonnene zu einem Ende führen zu können. (vgl. (ebd.)

Zieht man schließlich den gesellschaftshistorischen Kontext heran, dann kann Kafkas Geschichte, die vier Monate nach dem Tod des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. (1830-1916), dem etliche jüdische Untertanen wegen seiner toleranten Religionspolitik geschätzt haben, entstanden ist, als "Reflex" auf den von ihnen gepflegten "Kaiserkult" verstanden werden. So spreche der Text auf einer psychologischen Ebene von dem Fehlen einer herrscherlichen Vaterfigur im Stil Franz Josephs I. und dem Bedauern, dass dessen Leistung "gleichsam naturhaft dem Strudel des Vergessens anheimfällt, der seine Macht vernichtet und seine Botschaften versanden lässt." (ebd., S.516)

Die Geschichte "von unten" gelesen

Wer die Geschichte "von unten" liest, der versucht sich ein kohärentes Textverständnis bzw. ein Situationsmodell des Textes dadurch aufzubauen, dass er seine beim linearen Lesen, wahrscheinlich dem dargestellten Handlungsverlauf folgend, entstehenden Vorstellungen über ihren auf Textebene Zusammenhang am Ende "über-" bzw. "umschreibt". Die Aufforderung zu dieser Umkodierung kann man den beiden durch einen Gedankenstrich von einander getrennten Schlussätzen entnehmen, die zugleich gemeinsam eines der im Text enthaltenen impliziten Transfersignale darstellen, die die Appellstruktur des Textes und damit die Suchanweisung ausmachen, die Bedeutung des Textes außerhalb der Textebene zu konstruieren.

Nach der letzten, jede Illusion auf eine erfolgreiche Nachrichtenübermittlung zerstörenden Aussage des Erzählers, der zudem deren Sinnlosigkeit durch die Tatsache betont. dass sie ohnehin viel zu spät, nämlich nach dem Tod des Kaisers an ihr grundsätzlich aber unerreichbares Ziel gelangen würde ("Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten."), spricht der Erzähler den Adressaten der Botschaft nach seiner Eingangsadressierung ("Dir") ein zweites Mal direkt an: "Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt."

Mit dieser "projektiven Phantasie des Träumenden" wird die schon an anderen Stellen des Textes herauszuhörende "Entwirklichung" des ganzen Geschehens (z. B. mit dem Übergang vom Indikativ zum Konjunktiv) mit seinem "Realitätsanspruch von der Randzone" her endgültig aufgelöst. (Neumeyr 1994/2003, S.350) So hat schon zu Beginn des Textes "vage(es) ›On Dit‹" (so heißt es), verdeutlicht, dass die ganze Geschichte von der kaiserlichen Botschaft an seinen Untertanen nur auf überlieferten mündlichen Traditionen und damit auf "bloße(m) Hörensagen" (ebd.) beruht. Als •"Stolpersteine des Textverstehens" fordern die beiden Schlusssätze mit ihren semantische Inkohärenzen, • sofern sie nicht einfach überlesen werden, dazu auf, den Text also noch einmal "neu zu lesen" und dieses Mal "von unten", d. h. von der Position des "jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten"

Im Kontext des Fragments "Beim Bau der Chinesischen Mauer", in die die"• Parabel • "Eine kaiserliche Botschaft" • integriert und von Kafka zur gesonderten Veröffentlichung herausgelöst worden ist, liest sich die Parabel wie eine Antwort auf die Frage, wieso unzählige Menschen zum Bau der Mauer "die Heimat, den Fluß und die Brücken, die Mutter und den Vater, das weinende Weib, die lehrbedürftigen Kinder" verlassen haben und "nach der fernen Stadt gezogen sind, um sich als Handwerker für den Bau der Mauer zu verdingen.

Sie fühlten sich, so eine der Antworten, die der Erzähler des Fragments findet, von ihrer Führerschaft, in letzter Instanz auch von ihrem Kaiser, gesehen, glauben daran, dass er von ihnen und ihren Sorgen weiß. ("Sie kennt uns"). Dabei wissen die Untertanen, die wegen ihrer räumlichen Distanz zum Machtzentrum und weil sie vom Nachrichtenfluss durch den Hofstaat des Kaisers abgeschnitten sind, nicht einmal, "welcher Kaiser regiert und selbst über den Namen der Dynastie bestehen Zweifel". Dennoch träumen  sie paradoxerweise aber davon, seine Gegenwart zu erfahren, "einmal diese Berührung zu fühlen und an ihr zu vergehen".

Die Darstellung einer unnahbaren, nur aus sich selbst und aufgrund der Überlieferung legitimierten Macht (Kaisertum) und der Ohnmacht des an diese sozial und psychologisch geketteten Einzelnen lässt sich auf verschiedene Weise in anderen textexternen Bedeutungsrahmen übertragen.

Verbindet man diese Lesart mit dem biografischen Ansatz, so ergeben sich eine ganze Reihe von Analogien, die auf das Verhältnis von Franz Kafka und seinem Vater • Hermann Kafka verweisen, das Franz Kafka in seinem ▪ Brief an den Vater, der diesen aber nie erreicht hat, beschrieben hat.

So teilt Kafka selbst das "Gefühl der Nichtigkeit", das ihm sein Vater von früher Kindheit an vermittelt hat, mit der Situation des "jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten". Ebenso gehört für ihn die Angst vor dem Vater, in dessen Nähe er sich immer wieder existenziell bedroht fühlte, dazu, dass er sich vor ihm immer wieder so weit verkroch" und erst dann sich wieder zu regen wagte, "wenn ich so weit von Dir entfernt war, dass Deine Macht, wenigstens direkt, nicht mehr hinreichte." Zu dieser Analogie zu dem in in die fernste Ferne geflüchteten Untertanen gesellt sich noch die Analogie zwischen dem Schatten, in dem dieser lebt, und der Vorstellung, die Kafka mit der auf sich projizierten Sichtweise seines Vaters als "lichtscheue(s) Wesen" anspricht. Auch das Bildelement der vom Sterbebett aus nicht durchdringenden kaiserlichen Botschaft, die sich der Untertan "erträumt", korrespondiert dabei mit Franz Kafkas Wunsch, dass sein übermächtiger Vater ihn einmal so nehmen würde, wie er tatsächlich war. Mit diesem "Traum" kompensiert auch Kafka, das Gefühl der Nichtigkeit, das ihm sein Vater offenbar immer wieder gegeben hat.

Aber auch eine gesellschaftskritische Lesart ist gut möglich, wenn man den Text in der beschriebenen Art und Weise "von unten" liest. Zu fragen ist dann danach, was den Untertanen dazu trotz der Tatsache, dass ihn niemals eine Nachricht des Kaisers, die persönlich an ihn adressiert ist, erreichen kann und wird, dazu bringt, dennoch daran zu glauben, indem er sich eine solche einfach erträumt. Letzten Endes, so scheint es, kann er gar nicht anders, weil er sich den Sinn seiner individuellen und sozialen Existenz nur, wenn auch weit entfernt vor ihr, denken und sich selbst und sein Leben im Schatten nur über die Zugehörigkeit zu einer übergeordneten strahlenden Einheit (Kaiserreich, Sonne) verstehen und leben kann.

Auch an dieser Stelle kann der oben schon angemerkte Kontext aus dem Fragment "Beim Bau der Chinesischen Mauer" herangezogen werden.

Gerade weil die paradoxe Beziehung zwischen dem Einzelnen und der übergeordneten Macht zum "Fluchtpunkt seiner Existenz" (Meurer 1988/31998, S.72) wird, scheint sie "eingebettet in ein prinzipiell unüberschaubares Weltsystem" (ebd.), dessen Existenz und komplexen Strukturen in keiner Weise in Frage gestellt werden. Sie gehen über seinen Horizont, entziehen sich seiner eigenen sozialen Erfahrung und stürzen ihn in eine "kosmologische Obdachlosigkeit" (Yun Mi Kim 2012, S.22), die er nur durch Schaffung eines Gefühls von Zugehörigkeit und einem Platz in diesem Weltsystem bewältigen kann. Statt eine rationale Erklärung dafür zu suchen, warum er fernab im Schatten leben muss, identifiziert er sich mit der Macht, vor der er geflohen ist, und kompensiert mit seinem Traum, von der Macht bzw. den Mächtigen mit seinen Sorgen und Nöten gesehen zu werden, sein eigenes Nichtigkeitsgefühl. (vgl. Neumeyr 1994/2003, S.350)

Und von hier aus gesehen, so kühn darf der Bedeutungstransfer heutzutage sein, liest sich die Geschichte "von unten" gelesen, heute durchaus auch als Analogie zu allen jenen "Wutbürger*innen" in unserem Land, die in sozial prekären Verhältnissen leben, aber statt den Ursachen dafür nachzugehen, lieber Anschluss an nationalistische Machtfantasien suchen, die ihnen das Gefühl geben, Teil eines übergeordneten wirkmächtigen Ganzen zu sein, ohne die Interessen ihrer eigenen Führer zu hinterfragen lieber auf Gedeih und Verderb deren Gefolgschaft bilden.

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 02.10.2024

 
 

 
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