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▪ Text
Das ▪
Sonett ▪"Einsamkeit" von ▪
Andreas Gryphius
gehört zur weltlichen
Lyrik in der ▪ Literaturepoche des ▪
Barock (1600-1720).
Vom Sujet her gesehen gehört es zur Vanitas-Lyrik, die "in vielfältiger
Gestalt den Grundgedanken der Vergänglichkeit allen Irdischen" (Mauser 1982,
S.242) variiert.
Zum Themenkreis
der weltlichen Lyrik zählen jene Werke, die sich um den "Zusammenhang von "vanitas
(Eitelkeit), Vergänglichkeit,
memento mori (Gedenke des
Todes) und carpe diem (Nutze
den Tag)", (Niefanger
2006, S.104) drehen, wobei sich auch in weltlichen Gedichten häufig religiöse
Anklänge finden, wie sie das geistliche Lied des 17. Jahrhunderts
kennzeichnen.
Die wichtigsten
Themen der weltlichen Lyrik
sind politische oder historische
Ereignisse, Huldigung und die
Liebe,
sowie das Land- und Hirtenleben (Pegnitz-Schäfer). Dabei gerät in Gedichten
mit politischer Thematik häufig das Leben am Hof und dessen Laster in die
Kritik. (vgl.
ebd.)
Aber auch
Gedichte mit einer stark religiösen Ausrichtung, wie z. B. die ▪
Vanitas-Dichtung mit ihren
heilsgeschichtlich-eschatologischen Bezügen etablieren sich in diesem
literarischen Feld, weil ihre Werke im Vergleich zum geistlichen Lied
"nicht mehr in einem kirchlichen Funktionszusammenhang" (Meid
2015, S.80) standen, sondern "sich als
Sprech- und Leselyrik durch einen
individuellen stilistischen und inhaltlichen Charakter" (ebd.)
auszeichneten, der "sich an dem stilistischen und formalen Repertoire
der weltlichen Kunstdichtung deutscher Sprache (orientierte)." (ebd.)
Die Interpretation des
Gedichts ▪"Einsamkeit""
von ▪ Andreas Gryphius (1618-1664) sollte u. a. die folgenden Aspekte
umfassen:
Einsamkeit und
Natur verbinden sich in dem seit der
römischen Kaiserzeit (27 v. Chr. bis 284 n. Chr.) als
literarischer Topos
idealisierenden fiktiven Naturschilderungen, deren stereotype
Elemente
(z. B. ein lichter Hain, eine Quelle, ein Bächlein oder Bach sowie
oft Blumen und Vogelgezwitscher) den Eindruck einer idealen Natur
erzeugen.
Als Requisit und
Kulisse gehört das ▪
Motiv des lieblichen Ortes (»locus
amoenus) zum unverzichtbaren Repertoire der »Schäferdichtung
(auch Hirtendichtung),
die mit ihrer Idealisierung des Hirtenlebens ein sehr beliebtes
Genre der Literatur
in der
▪
frühen Neuzeit (Renaissance und Humanismus) (1300-1600) und im
▪
Barock
(1620-1700) gewesen ist.
Es steht in einem Zusammenhang mit dem Motiv der Idylle, die im
weiteren Sinne auch eine Dichtung beschreibt, die in
räumlich-statischer Weise eine "unschuldsvollem
selbstgenügsam-beschaul(iche) Geborgenheit darstellt.," (Metzler
Literatur-Lexikon 21990, S.217)
Allerdings ist die Einsamkeit und ihr Ort im Gedicht von Andreas
Gryphius eben kein lieblicher Ort.
Von dieser quasi ex negativo kommenden Betrachtung her kann der Text
erschlossen werden, zumal sich schon bei der ersten Lektüre zeigt,
dass das Sonett weder ein Landschaftsgedicht ist, noch ein Gedicht
das das Erleben von äußerer und innerer Einsamkeit zum Thema macht.
Dies kann ein Gedichtvergleich mit Gedichten unterstreichen, die die
Themen Einsamkeit und Natur in völlig anderer Art und Weise
gestalten. Aber auch der Zugang über eigene Erfahrungen mit
Einsamkeit und dem Entstehen dieses Gefühls in besonderen
natürlichen oder sozialen Umgebungen kann verdeutlichen, dass sich
die historische Distanz und das Gefühl der Fremdheit, den dieser
Text erzeugt, nicht mit den einem zur Verfügung stehenden kognitiven
und emotionalen Schemata, die bei der Sinnkonstruktion als
textexterne Faktoren eingebracht werden, überwunden werden kann.
1. Quartett
Das Ich
"beschaut" in einem Zustand der von ihm zunächst äußerlich
empfundenen Einsamkeit die Dinge, die es umgeben. Die Welt, die
es umgibt gleicht einer "öden Wüsten" (V
1) und auf dem Boden wuchert nur
"wildes Kraut" (V
2), auf das es sich hingelegt hat. Sein Auge streift
das grünlich schimmernde Wasser eines "bemosten Sees"
(V 2) und blickt
in die Ferne, wo es ein "Tal" (V 3) und eine felsige Erhebung
("einer Felsen Höh", V 3) registriert, wo allerdings nur "Eulen und stille Vögel nisten"
(V 4),
so dass kein Laut herüberdringt.
Wo sich das lyrische Ich
befindet, herrscht eine lautlose Einsamkeit. Es ist kein
beschaulicher oder lieblicher Ort im Sinne des
Topos »locus
amoenus, wo die Natur von den darin wahrnehmbaren stereotypen
Elementen belebt ist und den Eindruck idyllischer Beschaulichkeit vermittelt.
(▪ Motiv des lieblichen Ortes)
Die Szenerie, die das Ich
(angeblich) umgibt,
eignet sich zwar für ein inniges Beschauen, lädt aber eigentlich nicht ein, sich in
das Wahrgenommene kontemplativ zu versenken. Es ist in
topischer Terminologie ein
locus desertus, ein Ort in der Einöde,
der nichts Einladendes, Liebliches (locus amoenus) hat. Man kann darin eine
"Anachoreten-Landschaft“
(Jöns
1996) sehen, eine Bezeichnung für die Rückzugsorte von
Steuerflüchtigen im alten Ägypten und später auch für christliche
mönchische Gemeinschaften oder Eremiten in derart unwirtlichen
Gegenden, wo sie ihr weltabgewandtes Leben führten. Im Gedicht
selbst fungiert diese Landschaft als arrangierte Kulisse, die
mit topischen Requisiten versehen wird, um als Ausgangspunkt
eines Erkenntnisprozesses zu dienen, welcher, der
▪ Lehre des vierfachen Schriftsinns folgend, die erste
Ebene, den Wortsinn (Literalsinn), das also, was man einfach
wahrnehmen kann, entspricht.
2. Quartett
Der
anaphorische Verweis (Hier), mit dem das
lyrische Ich zu
Beginn des zweiten Quartetts seinen Standort inmitten dieser
Umgebung mit seiner perspektivischen Beschränkung noch einmal
unterstreicht, geht nach dem im ersten Quartett an der Realität
scheiternden innig "beschauenden" Wahrnehmungsmodus über zu einer
reflexiven Betrachtung.
"Hier", wo den Augen und damit den
Sinnen nichts geboten ist, keine Reize von außen, die an zwei
sozialen "Orten" festgemacht werden. Da ist auf der einen Seite,
das Fehlen eines "Pallastes" (V
5), der metonymisch für dessen Bewohnerinnen und Bewohner, die
hochgestellten Personen der Gesellschaft steht. Auf der anderen
Seite stehen die triebhhaften "Lüste des Pöbels" (V
5), die, mit dem rhetorischen Mittel der
Synekdoche
als pars pro toto (ein Teil für das Ganze) unterstrichen, für
die Unfähigkeit des ▪
gemeinen
Mannes stehen, seine Affekte in seinem angeblich von
animalischer
Wolllust geprägten Leben wirksam so zu
kontrollieren, wie es den gebildeten Oberschichten an den Höfen
im Zuge ihrer sogenannten "Verhöflichung"
(Elias
1939/1976.,
Bd. 2, S.415) eher zugeschrieben wurde. Insofern steht die
schichtspezifische Reflexion über sozialen Rang und Leidenschaft
auch im Kontext ▪
sozialregulierender und ▪
sozialdisziplinierenden
Prozesse im Rahmen der ▪
frühneuzeitlichen Staatsentwicklung. (vgl. dazu auch:
Mauser 1982,
S.241)
Das Ich kann
hinter die Fassaden sehen und erkennen, dass alles Irdische nur
eitel, d. h. nichtig und wertlos ist in Bezug auf die »christliche
Eschatologie, die Orientierung an der Vorstellung eines von
göttlicher Gnade abhängigen ewigen Lebens.
lle andere
Hoffnung darauf, dem Irdischen einen anderen Sinn zu geben,
verfliegt angesichts dieser Erkenntnis in kurzer Zeit wie der
Vergleich
"Wie die vor Abend schmähn / die vor dem Tag uns grüßten" (V
8) verdeutlicht. Auch wenn das 2. Quartett noch nicht, wie
es bei einer ▪
idealen Sonett-Gestaltung mit der Kompositionsfigur des
vierfachen Schriftsinns oft der Fall ist (vgl.
Freund 1990, S.15f.) , den Übergang zur zweiten Ebene, der
Herausarbeitung des allegorischen, d. h. theologischen Sinns
vollzieht, arbeitet sie dieser Ebene des Erkenntnisprozesses
eben doch dadurch vor, dass sie das Ich, die dafür nötige eine
meditativ-reflexive Haltung einnehmen lässt.
1. Terzett
Im dritten Terzett wendet sich das Interesse des Ichs wieder
bestimmten Erscheinungen der Natur zu. Deren Zusammensetzung
verdeutlicht aber, dass deren aufgezählte Elemente von keinem
visuell wahrgenommenen Rundblick in eine das Ich real umgebende
Natur herrühren, sondern willkürlich aneinandergereihte
Naturelemente sind, deren Gemeinsamkeit darin besteht, "dass sie
Träger analoger Bedeutung sind." auch Aus diesem Grund
spielt es auch keine Rolle, wenn das Bild vom "rauhen Wald" (V
9) zu der eingangs erwähnten "öden Wüsten" (V
1) eben vordergründig so gar nicht passen will.
Lediglich eine Betrachtung, die über das unmittelbar
Wahrnehmbare hinausgeht (Wortsinn) und im Zuge der
▪
allegorischen Auslegung im Universum christlicher Lehre den
Sinn sucht, kann die tiefer liegende Bedeutung der aufgezählten
Dinge, die nur mit ihrem Bezug auf die Vergänglichkeit hin
letzten Endes kohärent wird, erschließen und damit die
Erkenntnisstufe des allegorischen Sinns erreichen. Nur die
allegorische Deutung bringt die disparat wirkenden Elemente der
"Natur" die "Höll", den "rauhen Wald", den "Totenkopf", den
selbst im Laufe der Zeit zerfallenden "Stein" und das
"abgezehrte Bein" (V 9 und
10) auf den nötigen
Nenner der christlichen Glaubenslehre. Und der "Kenner" weiß und
hat wohl bei der Textrezeption auch seinen "Spaß" daran, die dem
"reichen Arsenal der enzyklopädisch-allegorischen Handbücher" (Mauser 1982,
S.234) und Zusammenstellungen von Texten antiker
Schriftsteller (Florilegien) entstammenden Versatzstücke
dieser Kulissenwelt wiederzuerkennen. Und dem Dichter gab es
Gelegenheit zu zeigen, wie virtuos er das, was er mit seinem
durch die
▪
Imitatio-Poetik
des Barock flankierten Griff in solche "poetische Schatzkammern"
(Szyrocki
1979/1994, S.41) so zu arrangieren wusste, dass
in
dem von den Humanisten sorgsam gepflegten Fundus
topischer "Allgemeinpätze"
in Bildsprache und Rhetorik seine eigene Kunstfertigkeit noch immer gebührend sichtbar wurde
und wertgeschätzt werden konnte.
Strukturbildend im Sinne der Kompositionsfigur des
▪ vierfachen
Schriftsinns sind für dieses Terzett und den Fortgang der
"Meditationsschritte von grundlegender Bedeutung" (Mauser 1982,
S.234), den das Sonett benennt, das Verb entwerfen und
der Begriff des Muts. (V
11)
Entwerfen steht dabei für eine über den Wortsinn, d. h.
die unmittelbare Anschauung und Wahrnehmung hinausgehende
Betrachtung der Dinge der Welt. Mut steht, so erklärt das
auf die »beiden
Brüder Grimm, »Jakob
Grimm (1785-1863) und »Wilhelm
Grimm (1786-1859) zurückgehende »Deutsche
Wörterbuch den Begriff, für "das innere eines menschen nach
allen seinen verschiedenen seiten hin, aber stets auf dem
deutlichen grunde des bewegten gefühlslebens im gegensatz zum
bloszen walten des verstandes oder der erinnerung " (Deutsches
Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte
Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital
Humanities, Version 01/21,<https://www.woerterbuchnetz.de/DWB>,
abgerufen am 18.11.2021)
Angesichts der Erscheinungen der Natur drängen sich dem Menschen
bei der Suche nach ihrer "wahren" Bedeutung also viele Eindrücke
und Gedanken auf, die selbst, wenn er sie im Zuge der ▪
Allegorese zu
deuten versteht, noch nicht da angelangt sind, wohin sie letzten
Endes führen sollen.
Noch weiß er damit eben nicht, was er tun soll, wenn er die
Eitelkeit der Welt und ihrer Elemente erkannt hat. Auch der
allegorische Sinn muss einer neuen Erkenntnisstufe zugeführt
werden, soll er eine handlungsethische Bedeutung für den
Menschen gewinnen und ihm dabei helfen, das aus der bisherigen
Erkenntnis Folgende zu tun. Dazu muss er sich den moralischen
Sinn, den sogenannten tropologischen
Schriftsinn, durch die ▪
handlungsethische Auslegung erschließen.
2. Terzett
Das zweite Terzett
dreht sich um das persönliche Seelenheil des Einzelnen, was mit der
Formulierung "ist schön und fruchtbar mir" (V
12) zum Ausdruck gebracht wird. Damit wird die handlungsethische
Dimension des meditativen Erkenntnis- bzw. Argumentationsprozesses
erreicht und damit der Übergang zum moralisch-tropologischen Sinn
vollzogen. Hat das Ich erst einmal diese Ebene der Erkenntnis
erreicht, dann bekommt selbst "Der Mauern alter Graus"
(V 11) und "dies
unbebaute Land" (V
11), die ansonsten schroff und lebensfeindlich wirken, einen
Sinn. Und diese erschließt sich dem Ich erst völlig, wenn er ihn
heilgeschichtlich ausdeutet, wie dies im letzten Vers des Gedichts
verdeutlicht wird. Mit der Erkenntnis, "dass alles, ohn' ein' Geist, den Gott selbst hält"
(V
14) letzten Endes sinnlos ist, erreicht das Ich "mit dem
Ausblick auf die im Jenseits, in Gott sich erfüllende Verheißung den
anagogischen Sinn des vorgestellten Bildes." (Mauser 1982,
S.238) In dem es die dritte Ebene des geistlichen Sinns erreicht,
richten sich sich seine Aussagen über die unsichtbare
himmlische Welt und die Zukunftserwartung an der christlichen
▪ Eschatologie aus, daran also, was am
▪
Ende
aller Tage mit dem
▪
Jüngsten Gericht von Bedeutung ist.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
27.01.2024