Wenn man ▪ einen literarischen Text
gestaltend interpretieren will, geht es im Prinzip darum,
eine literarische Textvorlage mit einem eigenen Text zu
ergänzen, fortzuführen oder umzugestalten. Dabei kann eine ▪
Erzählung, ein ▪
Drama oder auch ein ▪ Gedicht
als Textvorlage (Primärtext) in Frage kommen.
Dieses
produktiv-kreative Vorgehen bei der Deutung eines literarischen
Textes unterscheidet sich damit von den anderen Verfahren der
schriftlichen Textinterpretation, die einen literarischen Text
analysieren und das gewonnene Textverständnis darlegen und den Text
deuten sollen.
Arbeitsaufträge wie "Erzählen Sie die Geschichte aus der
Ich-Perspektive einer anderen Figur", oder, "Verfassen Sie einen
Tagebucheintrag der Figur X, in der sie sich im Anschluss an das
Geschehen noch einmal Gedanken darüber macht, was passiert ist"
sind eben von einer anderen Art, wie "Interpretieren
Sie den
Text" oder "Charakterisieren Sie Figur X".
Nicht immer bestehen ▪
Schreibaufgaben zur gestaltenden Interpretation nur aus
einem konkreten Gestaltungsauftrag. Oft werden sie auch in Form
▪
umfassender Schreibaufgaben gestellt. Das bedeutet, dass
neben einer bestimmten Gestaltungsaufgabe auch andere die
Vorlage analysierende und/oder beschreibende Aufgaben in einer
mehrteiligen Arbeitsanweisung gestellt werden. In einem
solchen Fall muss man die entsprechenden Arbeitsaufträge
"abarbeiten" und darf sich also nicht allein auf die
Gestaltungsaufgabe stürzen, denn schließlich gehen alle
Teilleistungen im Falle einer Benotung der Schreibaufgabe in die
Bewertung ein, wie bei folgendem Beispiel, bei dem die
entsprechenden Verrechnungspunkte angegeben sind.
-
Interpretieren Sie das Gedicht "Frühlingsfahrt"
("Die zwei Gesellen") von »Joseph von Eichendorff
(1788-1857) aus
dem Jahr 1818. Arbeiten Sie dabei die Schicksale der
beiden Gesellen sowie die Einstellung des lyrischen
Ichs heraus. Gehen Sie auf die romantischen Merkmale
ein. (40 BE)
-
Ein
expressionistischer Dichter antwortet dem lyrischen
Ich mit einem lyrischen Gegenentwurf. Entwerfen Sie
einen solchen. (20 BE)
-
Anschließend begründet der expressionistische
Dichter sein Gedicht und seine literarische Position
in einem Brief. (40 BE)
Wo die
Schreibaufgabe auch immer den ▪
Ansatzpunkt für den Gestaltungsauftrag vorgibt, immer muss
die produktiv-kreative Gestaltung in einem plausiblen und
kompatiblen Bezug zur literarischen Vorlage stehen.
Die eigene
Gestaltung muss also zur literarischen Vorlage "passen" und die
Ideen, die man gestaltet, sollten nicht einfach der eigenen
Fantasie freien Lauf lassen, sondern immer Bindung an den
Ausgangstext, seine Inhalte, Strukturen, Sprache etc. haben und
diese für andere Leserinnen* nachvollziehbar darstellen. (▪
FAQ: Inwiefern muss die
gestaltende Interpretation zur Vorlage passen?)
Damit das
gelingen kann, muss man die
literarische Textvorlage erst einmal
vollständig erfassen und sich sein eigenes
Textverständnis erarbeiten. Das bezeichnet man als das
▪ Erschließen des Textes.
Ganz allgemein bedeutet dies, dass man die literarische Vorlage
genau, am besten mehrfach
intensiv lesen sollte, den
Inhalt des
Textes erfasst ( z. B. mit ▪
Annotieren,
▪
W-Fragen-Methode, ▪
Sinnabschnitte
oder komplexere Konzepten wie die ▪
SQ3R-Technik)
und seine
Strukturen unter dem Blickwinkel, den die Schreibaufgabe
vorgibt, untersucht. Eigentlich ist das alles nicht anders wie
bei einer "normalen" schriftlichen Textinterpretation, nur dass
das Schreibprodukt am Ende anders aussieht.
Natürlich kann
man bei seiner Analyse schon sein Augenmerk auf jene Elemente
der Vorlage richten, die im Gestaltungsauftrag der
Schreibaufgabe vorgegeben sind.
So lohnt es sich, wenn z. B. ▪
bei einem Erzähltext als
Vorlage ein Geschehen
▪ aus der Perspektive einer anderen Figur ▪
umerzählt werden soll,
sich genau anzusehen, wie das Erzählte in der Vorlage selbst
perspektiviert ist. Dabei muss man untersuchen, ob der
literarische Ausgangstext Elemente enthält, die eindeutig die
"Handschrift" des darin gestalteten
Erzählers zeigen,
wenn z. B. nur
dieser etwas Bestimmtes wissen kann oder sich in einer
bestimmten Art und Weise ausdrückt.
Natürlich kommt
es beim gestaltenden Interpretieren auch auf die
Ideen an, die man in seinem
produktiv-kreativen Text umsetzt. Da heißt aber nicht, dass das
Ganze nur eine Sache für ausgewiesene kreative Köpfe ist oder
solche, die sich dafür halten. Vor allem kommt es darauf an,
überhaupt zu erkennen, welche Gestaltungsmöglichkeiten einem die
Schreibaufgabe lässt. Das alles ist auch Erfahrungssache.
Die meisten
Einfälle beim gestaltenden Interpretieren fallen also nicht vom
Himmel, sondern sind das Ergebnis einer erfolgreichen und gut
organisierten Textarbeit an der literarischen Vorlage und dem
eigenen Schreibprodukt. Einen für jede/Schreiberin* passenden
Königweg, mit welcher
Schreibstrategie man zum besten Ergebnis kommt, gibt es aber
auch bei der gestaltenden Interpretation nicht. Das hängt sehr
von den Schreiberfahrungen und der Schreibentwicklung jede/r
einzelnen Schreiberin* ab und davon, ob man sich, was das
anbelangt, auch angemessen selbst einschätzen kann. Allerdings,
auch wenn jemandem mal ein großer Wurf gelingt, ist einfach
drauflos
zu schreiben, meistens nicht die beste Idee.
Im Unterricht
werden die entsprechende Kompetenzen erworben, so dass es nicht
so sehr auf den groß- und einzigartigen Einfall ankommt. Dann
hat man am Ende auch ein eigenes und erprobtes Repertoire an
Bauformen und sprachlich-stilistischen Versatzstücken parat, mit
denen man seinen Text formulieren kann. Dazu entwickelt man ein
Gespür dafür, insbesondere wenn man sich beim Üben immer wieder
Rückmeldungen von anderen einholt oder anderen ein fundiertes
Feedback gibt, die vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten des
Ausgangstextes sensibel zu nutzen, bestimmte literarische Muster
adäquat anzuwenden und eine einfallsreiche und eigenständig
überzeugend strukturierte Gestaltung zu "produzieren", die
vielfältige Bezüge zu den Strukturen und dem Stil der Vorlage
aufweisen kann. Solche Bezüge können auch mit dem sprachgeschichtlichen oder
literaturgeschichtlichen Kontext bestehen.