Es gibt Menschen, die
über so außergewöhnliche Gedächtnisleistungen in ganz bestimmten Bereichen
verfügen, dass sie uns in Verwunderung versetzen. Meistens zeigen
sie allerdings in anderen Bereichen oft eine weit
unterdurchschnittliche Leistung.
Kognitionspsychologisch betrachtet zählen solche Fähigkeiten zur
Gruppe der sogenannten
abnormen Gedächtnisleistungen, weil sie eben außergewöhnlich
sind. Abnorm in diesem Sinne sind dementsprechend auch
außergewöhnlich schlechte Gedächtnisleistungen. (vgl.
Gruber 2018,
S.111)
Ansonsten spricht
man in diesem Zusammenhang von so
genannten Inselbegabungen bzw. dem
Savant-Syndrom.
Der Begriff
Savant-Syndrom geht auf den englischen Neurologen »Dr.
J. Langdon Down zurück, der den heute als diskriminierend angesehenen
Ausdruck "idiot savant" (übersetzt etwa "schwachsinniger
Wissender") 1887 in einer Vorlesungsreihe vor der Londoner Medical Society verwendet hat.
Heute spricht man bei solchen Menschen von
Inselbegabten oder Savants.
Allerdings scheint auch dies keine besonders glückliche Bezeichnung zu
sein, bedeutet der Begriff "savants" im Englischen und Französischen so viel
wie Gelehrter.
Aus diesem Grunde scheint das deutsche Wort "Inselbegabung"
den Sachverhalt am besten zu treffen, da er ausdrückt, dass bei in
anderen Bereichen schwacher Begabung in einem abgegrenzten einzelnen
Fach, quasi auf einer Insel, eine herausragende Leistungsfähigkeit
festgestellt werden kann.
Meistens sind die Personen
mit Inselbegabungen männlich, das Syndrom kann aber auch bei Frauen
vorkommen. Viele Menschen, die über eine solche Inselbegabung
verfügen, sind »Autisten.
Zum Medienereignis und damit weltweit richtig bekannt wurde das Savant-Syndrom durch
den Film «Rain
Man, in dem
Dustin Hoffman die Rolle des Autisten Raymond Babbit spielt. Die
Anregungen für die Ausgestaltung dieser Rolle gehen auf einen Autisten
namens
»Kim Peek
(1951-2009) zurück, der zur Ausübung vieler alltäglicher Dinge die Hilfe
seines Vaters in Anspruch nehmen musste. Peek konnte eigenen Angaben zufolge
12.000 Bücher nahezu (zu 99%) auswendig. Dazu brauchte er ein Buch
nur ein einziges Mal zu lesen. Gerade mal sieben Sekunden reichten
ihm, um sich den vollständigen Inhalt einer Buchseite einzuprägen
und konnte zwei Seiten auf einmal "lesen", indem jedes Auge für sich
zur gleichen Zeit den Inhalt einer eigenen Seite erfasste. Dabei
beschränkte er sich auf vor allem auf Sachbücher, die Fakten
beinhalteten und zusammenstellten. (vgl.
Hughes 2010;
vgl.
Myers 2005,
S. 461) Darüber hinaus kannte Peek u. a. auch das gesamte
Straßennetz der USA und Kanadas und hatte die Telefonvorwahlen und
Postleitzahlen dieser Länder im Kopf
Das Kalendergehirn von
Orlando Serrell
Einer dieser inselbegabten Menschen ist z. B. der US-Amerikaner »Orlando
Serrell (*1969). Was ihn zu einem außergewöhnlichen Menschen macht,
ist aber nicht wie bei den meisten anderen Inselbegabten eine Fähigkeit,
die er von seiner Geburt an mitgebracht hat. Eigentlich war er bis zum
Alter von zehn Jahren so "normal" wie alle anderen Kinder auch. Dann
traf ihn am 17. August 1979 beim Baseballspielen ein Baseball mit voller
Wucht an seiner linken Kopfseite. Davon wurde er kurz ohnmächtig, rappelte sich
dann aber wieder auf und sagte auch seinen Eltern nichts über den
Vorfall. Einzig Kopfschmerzen machten ihm über eine längere Zeit zu
schaffen. Erst Monate später fiel ihm allerdings auf, dass er sich zu seinem
Erstaunen z. B. alle Nummernschilder von Autos, die er sah, in einer
völlig beliebigen Anzahl merken konnte. Genauso konnte er Wetterberichte
auswendig lernen und fehlerlos die Texte von Popsongs aufsagen. Und:
Seitdem hat sein sogenanntes Kalender-Gehirn auch kein Detail aus
seiner Erinnerung je mehr vergessen. Orlando Serell merkt sich jedes
einzelne Detail eines jeden Tages, inklusive jedes gegessenen
Cheeseburgers und jedes einzelnen Regengusses.
Der synästhetische
Gedächtniskünstler: Solomon Weniaminowitsch Schereschewski
YouTube-Lernvideo: Der Mann der Nichts vergisst: S.
Schereschewski – Gedächtnis Verbessern und Mehr Merken Können!
(7:06)
Ein ähnlicher,
weltweit wahrscheinlich noch bekannterer Fall eines so phänomenalen
Gedächtnisses, ist der des russischen Gedächtniskünstlers »Solomon
Weniaminowitsch Schereschewski (1886-1958), der jahrzehntelang
an neuropsychologischen Gedächtnisstudien (Luria
1968) teilgenommen hat. Er konnte "alles, was man ihm gesagt
hatte, Wort für Wort wiederholen", "Listen von über 100
Digitalzahlen, lange Folgen von sinnlosen sinnlosen Silben, Gedichte
in fremden Sprachen, komplexe Zahlen oder komplizierte Formeln [...]
nicht nur fehlerfrei, sondern sogar fehlerfrei wiederholen, und es
erwies sich, dass er sich Jahre später ohne Schwierigkeiten daran
erinnern konnte." (Baddeley
1986, S.47f.) So konnte man den Eindruck gewinnen, dass sein
Gedächtnis nicht nur wirklich grenzenlos sei.
Was letztlich
hinter diesen unglaublichen Fähigkeiten steckte, war sein ganz
außergewöhnliches Vorstellungsvermögen, das dafür sorgte, dass er
sehr schnell und geradezu mühelos eine große Zahl von visuellen
Bildern erzeugen konnte, und seine weit über das sonst Übliche
hinausgehende Fähigkeit für »Synästhesie
(von altgriechisch συναισϑάνομαι synaisthánomai = dt.
"mitempfinden" bzw. "zugleich wahrnehmen").
Im Grunde geht es
bei der Synästhesie um die Kopplung zweier oder mehrerer sonst
physisch und physiologisch getrennter Sinnesmodalitäten und
Verarbeitungswegen von Informationen bei der
Wahrnehmung.
Indem verschiedene Sinnesmodalitäten miteinander verflochten werden
– die meisten Menschen können und tun das bis zu einem gewissen
Grad
auch –, löst ein
distaler
Reiz, den wir mit einer bestimmten Sinnesmodalität empfangen,
automatisch Vorstellungsbilder in einem anderen Bereich aus.
-
So haben z. B.
viele Menschen ein synästhetisch kodiertes Vorstellungsbild
davon im Kopf und aktivieren es, wenn der Fingernagel des
Lehrers beim Schreiben über die Tafel kratzt. Sie bekommen dann
quasi automatisch eine »Gänsehaut,
weil das Geräusch damit zusätzlich eine Reaktion des Tastsinns
aktiviert und auslöst. Auch in unserer Alltagskommunikation
greifen wir
metaphorisch beim Farbenhören
oder Musiksehen etc. auf
synästhetisch kodierte Vorstellungsbilder zurück, wenn wir z. B.
von von einem warmen Gelb oder einem kalten Blau
sprechen und damit Farbe und Temperatur in einem zweifach
kodierten Vorstellungsbild zusammenbringen.
-
Und in der ▪
Rhetorik und in
der ▪
Literatur wird die
Synästhesie als
rhetorische Figur
immer wieder verwendet, wenn eine Vermischung bzw. Verschmelzung
von Reizen, die zu unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen und
Sinnesorganen gehören, bei der Darstellung gewünscht ist.
Dies ist z. B. bei ▪
Lyrikern in der ▪
Literaturepoche der ▪
Romantik (1798-1835) in besonders ausgeprägter Weise der
Fall. In ihrem "Unbehagen an der Entzauberung der Welt durch
Rationalisierung" (Safranski
2009, S.193), wie es der Soziologe »Max
Weber (1864-1920) nannte, gingen sie zum Teil sogar so weit,
das "graue Licht der gewöhnlichen Aufklärung" ((ebd,
S.194) mit ihrem bürgerlichen Nützlichkeitsdenken mit Hilfe
einer "Gemütererregungskunst"
(»Novalis
(1772-1801), vgl.
ebd.,
S.207) vertreiben zu wollen, welche die klare Trennung von
Sinnesmodalitäten bei der Wahrnehmung grundsätzlich in Abrede
stellte.
»Solomon
Weniaminowitsch Schereschewski (1886-1958) war ein
Synästhetiker, ein Mensch also, der alle Informationen, die er über
seine Sinne empfing, mit verschiedenen Vorstellungen anderer
Sinnesbereiche verknüpfte. Buchstabenfolgen wurden von ihm an
Gefühle gekoppelt, Töne mit Farben in Verbindung gebracht und vieles
mehr. Mit seiner außergewöhnlichen Gabe machte er "Karriere" als
professioneller Gedächtniskünstler und trat in Varietees auf, wo er
sein begeistertes Publikum auch mit anderen von ihm entwickelten
Mnemotechniken immer wieder verblüffte.
Was seinen aber an
dieser Stelle besonders interessant macht, sind Umstände, die ihm
das Leben mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten schwer machten.
So funktionierte seine synästhetisch begründete Behaltensleistung
nicht, wenn z. B. bei einer seiner Auftritte jemand zu husten
anfing, während das Material, an das er sich erinnern wollte,
vorgelesen wurde. Und auch beim Lesen und Verstehen von Texten hatte
er aufgrund seiner enormen Fähigkeit zur Assoziation Probleme. Was
ihm beim Lesen des Textstücks »Die Arbeit wurde normal aufgenommen«
im Kopf herumging, hat Schereschewski so beschrieben: "Was Arbeit
betrifft, so sehe ich, dass eine Arbeit im Gange ist ... das ist
eine Fabrik ... aber da ist das Wort normal. Was ich sehe,
ist eine stramme, rotbäckige Frau, eine normale Frau ... Dann
der Ausdruck wurde aufgenommen. Wer? Was soll das alles? Da
ist Industrie ... da ist eine Fabrik, und diese normale Frau – aber
wie passt das alles zusammen? Wie viel muss ich erst loswerden, nur
um den einfachen Sinn des Ganzen zu begreifen!" (zit. n.
Baddeley 1986,
S.47f.) Und ein Weiteres kam hinzu, weil sein Gedächtnis
unwillkürlich alles Mögliche, was ihm begegnete oder was er erfuhr,
speicherte: Wie sollte er es bewerkstelligen, einmal irgendetwas zu
vergessen? Am Ende kam er auf die rettende Idee: "Er stellte sich
vor, die Information, die er vergessen wollte, wäre auf eine
schwarze Tafel geschrieben. Und dann sah er sich, wie er sie selbst
wegwischte. So komisch es klingt – diese Methode funktionierte." (ebd.6,
S.49)
Weitere Menschen mit
Inselbegabungen
Es wurden weltweit
eine Vielzahl von Menschen mit einer Inselbegabung dokumentiert.
Allerdings wird bei Listen dazu, wie der folgenden, die eine
entsprechende »Wikipedia-Liste
in Auszügen wiedergibt, nicht hinreichend zwischen Menschen mit
einer tatsächlichen Inselbegabung und Menschen mit einer hohen
Begabung ohne »kognitive
Behinderung oder eine andere oft tiefgehende »Entwicklungsstörung
differenziert.
-
Brittany Maier
(blind, Autistin), die mit 18 Jahren inzwischen über ein
Musikrepertoire von über 15.000 Stücken verfügt. Sie spielt nur
mit sechs Fingern, obwohl sie alle bewegen kann.
-
»Stephen
Wiltshire (*1974), ein Autist, der ein Bild nach einmaligem Betrachten detailgetreu und
perspektivisch korrekt zeichnen kann. Im Rahmen zweier Experimente
zeichnete er nach Rundflügen über London und Rom detaillierte
Panoramaansichten beider Städte. Dies wiederholte er mit der Skyline von
Frankfurt im Rahmen einer Fernsehshow von RTL. Wichtige Zeichnungen
Wiltshires sind dargestellt in „S. Wiltshire, Floating cities. Venice,
Amsterdam, Leningrad and Moscow“, London 1991. ( »https://www.stephenwiltshire.co.uk)
-
Ziad
Fazah, der 51-jährige Libanese spricht 58 Sprachen fließend,
darunter Chinesisch, Thailändisch, Griechisch, Indonesisch, Hindi und
Persisch. Die meisten dieser Sprachen hat Fazah sich selbst beigebracht.
Dafür brauche es aber sehr viel Ausdauer und Disziplin, erklärt der
Multilinguist, der es mit seinem Talent sogar ins Guinnessbuch der
Rekorde geschafft hat.
-
Christopher
Taylor, der 25 Sprachen verstehen, schreiben, lesen und 10 davon
mehr oder weniger fließend sprechen kann.
-
Alonzo
Clemons kann Tierskulpturen aus Ton nach Abbildungen in Büchern
oder wenn er sie nur ganz kurz gesehen hat, detailgetreu herstellen
kann. In den USA sind seine Bronzefiguren berühmt.
-
»Leslie
Lemke (blind) kann einmal gehörte Musikstücke nachspielen kann. Er
beherrscht Tausende von Stücken fehlerlos, auch wenn er sie nur ein
einziges Mal gehört hat. Als er im Alter von 14 Jahren das
Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky hörte, spielte er es nur wenige
Stunden danach ohne Zögern nach. (vgl.
Myers 2005, S.461)
-
»Rüdiger
Gamm, kann in kürzester Zeit hochkomplizierte Berechnungen bis 60
Stellen vor und nach dem Komma genau im Kopf anstellen. Er kennt die
Kreiszahl Pi auf 5000 Stellen nach dem Komma genau.Im Gegensatz zu den
meisten Savants leidet er nicht unter Hirnstörungen.
-
»Emil
Krebs (1867-1930) , der 68 Sprachen perfekt in Wort und Schrift beherrschte
und sich mit 120 Sprachen befasste.
-
»Daniel
Tammet (* 31. Januar 1979), der neben seiner mathematischen Begabung
und einem herausragenden Gedächtnis (er konnte mit 22.514 memorierten
Stellen hinter dem Komma im März 2004 einen neuen Rekord bei der
Wiedergabe der Zahl Pi aus dem Gedächtnis aufstellen) über
außergewöhnliche sprachliche Fähigkeiten verfügt. In der 2005
produzierten TV-Dokumentation The Boy With the Incredible Brain wurde
ihm die Aufgabe gestellt, binnen einer Woche Isländisch zu lernen und
danach dem isländischen Fernsehen ein Interview zu geben. Tammet
bewältigte diese Aufgabe ohne größere Schwierigkeiten. Aktuell
beherrscht Tammet angeblich 9 Sprachen fließend.
(Liste ursprl. aus
wikipedia.de,
05.10.07, leicht verändert, z. T. gekürzt und
z. T. ergänzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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