Ähnlichkeitsbasierte Ansätze zur Erklärung der ▪
Repräsentation konzeptuellen Wissens
wie die ▪ Prototypen-
oder die ▪ Exemplartheorie
gehören heute zu den prominentesten Theorien in diesem Bereich, auch
wenn es inzwischen auch Stimmen gibt, "die die fundamentale Rolle
von Ähnlichkeit in Frage stellen" (Waldmann
2017, S.370). Dies geschieht nicht zuletzt auf der Grundlage der
Erkenntnis, dass "Ähnlichkeit nicht nur eine mögliche Ursache von
Kategorien (ist)" (ebd., S.372)
, sondern auch "ein Produkt von Kategorisierungsprozessen sein kann"
(ebd., S.372),
bei dem lern- bzw. wissensabhängige
Top-down-Prozesse eine Rolle spielen.
Wittgensteins Idee der Familienähnlichkeit
Ähnlichkeitskonzepte zur Wissenrepräsentation gehen zunächst einmal auf die Idee der
Familienähnlichkeit
zurück, die der Philosoph »Ludwig
Wittgensteins (1889-1951) entwickelt hat.
(▪
Philosophische Untersuchungen, 1953)
Beim Vergleich von Kategorien, die z. B. beim ▪
klassischen Ansatz aus
einer bestimmten Menge definierter Merkmale besteht (VOGEL: Federn,
Flügel, kann fliegen, legt Eier ... etc.), stellte Wittgenstein
fest, dass viele Kategorien, mit denen wir im Alltag agieren, nicht
so "funktionieren". Unsere Interaktionen mit unserer Umwelt, also
unser Handeln schlechthin, "läuft" in unzähligen Fällen nicht über
eindeutig begrifflich voneinander abgegrenzte Kategorien. Die
sogenannten "natürlichen" Kategorien, die wir im Laufe unserer
Entwicklung erwerben, folgen einem gänzlich anderen Prinzip.
Mit der Bezeichnung "natürlich" soll darauf verwiesen werden, dass
wir mit solchen Kategorien umgehen, ohne dass wir wissen, wo und wie
wir sie erworben haben und was sie, wenn man definitorische Maßstäbe
anlegt, genau ausmacht. In unserem Alltag operieren wir daher auch
lieber mit Ähnlichkeiten als mit definitorischen, auf klare
Distinktion angelegten Begriffen. So käme wohl niemand auf die Idee,
den Begriff Stuhl zu definieren, wenn er jemandem anderen erklären
will, dass er eine besondere Art von Stuhl. Stattdessen würde man
wohl davon sprechen, wie dieser Stuhl im Vergleich zu einem anderen
oder mehreren anderen aussieht.
Das Problem der "natürlichen" Kategorien
Dreht es sich um "natürliche" Kategorien kann aber auch auf eine sprachphilosophische
Betrachtung Bezug genommen werden. Diese dreht sich um die Frage, ob es überhaupt, so wie wir es intuitiv annehmen, quasi
"natürliche" Kategorien in der Welt um uns herum gibt, die wir
erkennen können, oder ob auch solche Kategorien nur Konstrukte
unseres Wahrnehmens und Denkens sind.
Anders gesagt: Gibt es Kategorien
wie Obst, Gemüse, Baum, Vogel, Apfel real oder wir kategorisieren
wir die "Dinge" selbst, um Ordnung in unsere Sinneserfahrungen zu
bringen, unsere Erfahrungen verarbeiten zu können und damit
überhaupt handeln zu können.
Diese Frage gilt bis zu einem gewissen
Grade auch für abstrakte Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit oder
auch Primzahl, wenn sie unter philosophischer Perspektive betrachtet
werden.
Kategorien im Kopf oder in unser Umwelt?
Mit solchen Überlegungen verbinden sich eine Reihe weiterer Fragen,
nämlich, ob Kategorien überhaupt "im Kopf verortet" (Internalismus)
sind, oder, zumindest bei bestimmten Begriffen und Bedeutungen,
"die natürliche Welt (...) schon aus sich heraus in verschiedene
Arten (Lebewesen wie Tiger, Stoffe wie Wasser und Molybdän,
natürliche Phänomene wie Blitze oder Kräfte usw.) gegliedert (ist)."
(Jäkel/Meyer
2013, S.314) (Externalismus).
In diesem Sinne sind sie für Hilary
Putnam (1975)
als "natürliche Arten" objektive Kategorien, bei denen es ausreicht,
wenn wir in einer bestimmten Weise mit diesen Kategorien in Kontakt
treten, damit sie als unsere Begriffe im Kopf repräsentiert werden.
(vgl. Jäkel/Meyer
2013, ebd.) Auch der ökologische Ansatz von J. J.
Gibson (1979)
geht dabei in eine ähnliche Richtung, wenn dabei die "reichhaltigen
Strukturen und Regelmäßigkeiten unserer Umwelt" (Wentura/Frings
2013, S.133) betont werden. Die Diskussion dieser Ansätze kann
und soll
hier indessen nicht weiter dargestellt werden.
Natürliche Kategorien in unserem Alltagsverständnis
Wenn man zu dem schon erwähnten Alltagsverständnis natürlicher
Kategorien zurückkehrt, lässt sich deren Besonderheit an
verschiedenen Beispielen aufzeigen.
Kein Mensch käme nämlich auf die Idee den Begriff Liebe so zu
definieren, dass er als übergeordneter Begriff auf alles passt, was
wir im Alltag darunter verstehen. Und wer sich mit einer Definition
darum bemühte, hätte wahrscheinlich große Schwierigkeiten, alles
unter einen Hut zu bringen. Das ist offenbar in unserer
Alltagskommunikation auch nicht nötig und selbst wenn Zweifel aufkommen,
was die Verwendung des Begriffs in einem bestimmten Kontext angeht,
würden wir wohl nicht auf die Idee kommen, den Begriff mit
distinktiven Merkmalen zu definieren, sondern eher auf Ähnlichkeiten
mit anderen Verwendungsweisen des Begriffs verweisen oder
umschreiben, was der Begriff im Einzelfall bedeutet.
Ebenso wenig können wir den Begriff Spiel, den wir in vielen
Bedeutungen verwenden, so eindeutig mit Merkmalen definieren, dass
man darunter jede Art von Spiel (Schachspiel, Fußballspiel,
Liebesspiel, Theaterspiel, Spiel mit dem Leben) unter einem
geeigneten Oberbegriff (Kategorie) zusammenfassen kann. Und ob der
Papst als "Junggeselle" durchginge, auch wenn er ja elementare
Merkmale infolge des »Zölibats dafür aufweist, ist doch mehr als
zweifelhaft.
Und auch beim Begriff Stuhl, ein Gegenstand, der zu unserem
Alltag gehört, hätten wir Schwierigkeiten, ihn eindeutig zu
definieren. Wer will, kann sich mit der »Google-Bildsuche
mit dem Suchbegriff Stuhl einen Überblick über die
Produktvielfalt verschaffen. Wer sich an der
Definition
versucht, wird vielleicht damit beginnen, dass ein Stuhl eine Lehne,
eine Sitzfläche und vier Beine besitzt. Sehr schnell käme einem dann
aber auch in den Sinn, dass alle diese Kriterien bei Schaukelstühlen
oder Bürostühlen aber keineswegs zutreffen müssen. Am Ende könnte
man versucht sein, den Stuhl einfach als Sitzgelegenheit zu
klassifizieren, müsste aber auch dann wieder schnell einräumen, dass
auch ein Stein oder ein Baumstamm eine Sitzgelegenheit darstellt. So
könnte also auch dies nicht als definitorisches distinktives Merkmal
herhalten.
Betrachtet man den Begriff Stuhl allerdings unter dem
Blickwinkel seiner Familienähnlichkeit lässt sich über die Kategorie
(Begriff, Konzept) Stuhl sagen: "Ein Stuhl A (kann) ähnlich
sein zu dem nächsten Stuhl B, und man findet viele Eigenschaften,
die diese gemein haben – beide können z. B. aus Holz bestehen und
ein Sitzpolster haben. Stuhl C hat diese Eigenschaften nicht, ist
aber trotzdem ähnlich zu Stuhl B und die Eigenschaften, die beide
teilen hat, Stuhl A nicht. So können vielleicht C und B beide eine
Armlehne haben und höhenverstellbar sein, aber A nicht. Man kann
sich leicht vorstellen, dass es viele Eigenschaften gibt, die viele
Stühle gemein haben, aber außer der nicht hinreichenden Eigenschaft,
dass man darauf sitzen kann, keine Eigenschaft, die alle Stühle
besitzen." (Jäkel/Meyer
2013, S.311)
Für Wittgenstein war klar, dass Kategorien übergreifender
und und sich kreuzender Merkmale anders als im klassischen Ansatz
über ihre Ähnlichkeit zu beschreiben waren und diese Ähnlichkeiten eine
"Familie" konstituierten.
Das Kriterium der Familienangehörigkeit gibt aber letztlich
keine Auskunft darüber, ob ein Vertreter prinzipiell einer
bestimmten Kategorie zuzuordnen ist, sondern gibt nur an, wie nah
oder wie fern der jeweilige Vertreter zu dem
Prototypen steht, den besten
Vertretern einer bestimmten Kategorie (vgl.
Blank 2001, S. 47f.,
Heinemann/Heinemann 2002,
S.103)
Familienähnlichkeit und Typikalität
Was Wittgenstein als Hypothese formulierte, konnte die empirisch
ausgerichtete ▪ Kognitionspsychologie bei ihrer Analyse
sogenannter natürlicher Kategorien (z. B. Obst, Fisch, Vogel,
Pflanze, Stuhl u. ä.) mit zahlreichen Experimenten bestätigen.
Es
zeigte sich dabei, dass die Familienähnlichkeit ein grundlegendes
Organisationsprinzip konzeptuellen Wissens darstellt. So konnte die
▪ klassische Vorstellung, dass eine Kategorie auf der
Merkmalsgleichheit aller ihrer Exemplare beruht (andernfalls gehört
das Exemplar nicht dazu) verworfen und durch die auf der Idee der
Familienähnlichkeit beruhende Vorstellung ersetzt werden.
Deren
Grundgedanke besteht darin, "dass Merkmale von den Exemplaren einer
Kategorie geteilt werden, aber nicht in einer Weise, dass jedes
Exemplar alle Merkmale aufweisen muss." (Wentura/Frings
2013, S.128) Als Konsequenz daraus können die Exemplare, die zur
Familie gehören, danach unterschieden werden, wie typisch sie für
die Familie als solche sind. Jedes Exemplar weist danach einen
bestimmten Grad an Typikalität
auf, so dass es eher typische bzw. eher "zentrale" oder eher
untypische bzw. "randständige" Vertreter der Familie gibt. So
besteht dann zwischen zwischen zentralen Vertretern einer Kategorie,
die viele zentrale oder prägnante Merkmale gemeinsam haben, eine
hohe Familienähnlichkeit bei anderen dagegen eher eine schwach
ausgebildete.
Manche Begriffe besitzen eine höhere Familienähnlichkeit als andere.
Das bedeutet, dass ein Begriff, bei dem alle Beispiele untereinander
sehr ähnlich sind und viele dieser Objekte viele seiner
Eigenschaften teilen, "kohärenter (ist) als ein Begriff, bei dem
manche Beispiele vielleicht gar keine Ähnlichkeit zueinander
aufweisen." (Jäkel/Meyer
2013, S.312)
Diese unterschiedliche Kohärenz der Begriffe, nicht zu verwechseln
mit dem
textlinguistischen Begriff der Kohärenz, lässt sich leicht an
verschiedenen
Begriffshierarchien demonstrieren. Dabei ist die Kohärenz eines
Begriffs (Kategorie) um so größer, je spezieller er ist. Das
bedeutet wiederum, dass ein Begriff auf einer höheren
Hierarchieebene eben eine Vielzahl von Objekten zusammenfassen muss,
die ganz unterschiedliche Grade von Ähnlichkeiten aufweisen.
Das Basislevel (basic level) in einer Begriffshierarchie
Die Eigenschaft einer Kategorie verschiedene Exemplare in einem
Begriff zusammenzufassen, wird als
Kohärenz bezeichnet. Dementsprechend "(erlangen) Kategorien
(...) ihre Kohärenz dadurch, dass jedes Exemplar ein oder mehrere
Merkmale mit anderen Exemplaren teilt, es aber kein einzelnes
Merkmal oder Merkmalsbündel gibt, das von allen Exemplaren geteilt
wird." (Waldmann
2017, S.361)
Folgt man einer umfassenden Begriffshierarchie von oben nach unten,
dann gibt es eine Schwelle, das sogenannte
Basislevel (basic level), bei dem
die Kohärenz "sprunghaft ansteigt." (Jäkel/Meyer
2013, S.312). Das ist die Ebene, bei der "der Informationsgehalt
über ein Objekt (...) am vorteilhaftesten (ist)" (ebd., S.312).
Legt man dabei z. B. eine dreiteilige Begriffshierarchie
zugrunde, lässt sich dies bei einem natürlichen Objekt gut zeigen:
Natürlich spielt bei
der Kategorisierung auch das vorhandene Vorwissen eine Rolle für
jeweilige Basislevel. Wer als Hundeexpertin* über ein ausgeprägtes
Wissen über die verschiedenen Hunderassen besitzt, kann eine weitaus
differenziertere Begriffshierarchie zugrundelegen und im Falle, dass
er ein konkretes Exemplar von Hund vor sich hat, ihn auf einem
dem/der Hundeexpertin* verfügbaren Basislevel kategorisieren.
In der
Kohärenzqualität einer Kategorie ausgedrückt, lässt sich auch
formulieren:
-
Ski ist
kohärenter als Wintersportgerät, Alpin-Ski kohärenter als
Ski.
-
Gitarre ist
kohärenter als Musikinstrument, Konzertgitarre kohärenter als
Gitarre.
Wer z. B. über ein
Objekt weiß, dass es sich um ein Wintersportgerät handelt, weiß viel
weniger über das Objekt, als wenn er/sie weiß, dass es sich Ski
handelt. Und bei der Gitarre verhält es sich ebenso: Wer nur weiß,
dass es sich um ein Musikinstrument handelt, weiß weniger als die
Person, die weiß, dass es sich um eine Gitarre handelt. Noch
Genaueres muss man allerdings wissen, wenn man sich z. B. eine
Gitarre kaufen will. Da kommt es ja darauf an, welche Art von
Gitarre in Frage kommt: Eine Konzertgitarre, eine elektrische
Gitarre usw.
In
kognitionspsychologischen Experimenten konnte dazu festgestellt
werden, dass die Versuchsteilnehmerinnen* zur Lösung der Aufgabe
verschiedene Objekte zu benennen die ihnen gezeigt wurden, in der
Regel ein solches Basislevel bevorzugten, und von Kindern weiß man,
dass sie Begriffe zuerst auf dem Basislevel lernen; außerdem, das
haben die Forschungen von Eleanor
Rosch et. al. (1976) ergeben, funktioniert die Kategorisierung
auf dem Basislevel erheblich schneller und zuverlässiger als auf
einer höheren oder tieferen Ebene in der Begriffhierarchie. Dennoch:
Das Basislevel ist keine objektive Größe, sondern hängt natürlich
wiederum von einer ganzen Reihe weiterer Faktoren ab.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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