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Die Psychodynamik der
Adoleszenz bestimmt in hohem Maße das Verhalten von
Michael Berg
während seiner Affäre mit
Hanna Schmitz
und einige Zeit darüber hinaus.
Bei dem Ich-Erzähler führt sie zu einem "gestörten und bis weit ins
Erwachsenenalter andauernden Prozess der Identitätsentwicklung." (Köster
2000, S.45, Hervorh. d. Verf.). Daher ist davon auszugehen, dass
"Michael Berg in der Beziehung zu Hanna Schmitz zwar einen erheblichen
Schub in seiner psychosozialen Entwicklung erfährt, dass er aber
durch das konsequente Schweigen seiner Geliebten und der ihn umgebenden
Gesellschaft über die Vergangenheit in seiner Identitätsentwicklung
empfindlich gestört wird." (ebenda, S. 45f., Hervorh. d. Verf.)

In der Lebensphase der Pubertät (=sexuelles Reifen) und
Adoleszenz (= Jugendalter) findet auch bei
Michael Berg
eine große Umstellung statt. Er muss mit der
Änderung von Objektbeziehungen,
Gefühlslabilität,
Änderungen seines Körperbildes,
Änderung der sozialen Kontakte,
Änderung von Idealen, dem
Aufbau einer eigenen Identität, seiner
biologischen Reifung und seiner sozialen Integration in die Gesellschaft
zurechtkommen.
Der Prozess der Identitätsbildung, der im Text im Zusammenhang mit
Michael Berg thematisiert wird, umfasst dabei sämtliche dargestellten
Bereiche.
Änderung der Objektbeziehungen
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Kritik, wenn auch verhaltene, am Vater und seiner Einstellung zur
Familie
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Ablösung von der Familie (Gefühl des Abschiednehmens)
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Rebellion gegen christliche Sexualnormen
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"Ich hätte gerne gehabt, dass wir, seine Familie, sein Leben
gewesen wären." (S.31)
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"Mir war, als säßen wir das letzte Mal gemeinsam um den runden
Tisch. [...] Zugleich hatte ich das Gefühl, jetzt sei der Abschied
vollzogen." (S.31f.)
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"Dann wollte ich auch die sündige Tat." (21)
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Gefühlslabilität
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Ambivalenz zwischen sexueller Erregung und Schamgefühl
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Zerrissenheit bei Entscheidungen
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Ups and downs
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übertriebene Selbstkritik
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Empfindlichkeit
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"Ich konnte die Augen nicht von ihr lassen. [...] Ich wurde rot.
Einen kurzen Augenblick stand ich mit brennendem Gesicht. Dann hielt
ich es nicht mehr aus, stürzte aus der Wohnung [...]. (S.15.f.)
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"Ich denke, ich komme zu dem Ergebnis, [...] dass das Handeln eine
Sache für sich ist und der Entscheidung folgen kann, aber nicht muss."
(S. 21f.)
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"Jetzt stand ich auf und ging. Ich dachte, ich gehe für immer.
Aber nach einer halben Stunde stand ich wieder vor der Wohnung."
(S.49)
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"Ich mochte nicht, wie ich aussah, wie ich mich anzog und bewegte,
was ich zustande brachte und was ich galt." (S.39)
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"Ich fühlte mich, als ich jung war. immer entweder zu sicher oder
zu unsicher. Entweder kam ich mir völlig unfähig, unansehnlich und
nichtswürdig vor, oder ich meinte, ich sei alles in allem gelungen und
mir müsse auch alles gelingen. Fühlte ich mich sicher, dann bewältigte
ich die größten Schwierigkeiten. Aber das kleinste Scheitern genügte,
mich von meiner Nichtswürdigkeit zu überzeugen." (S.64f.)
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Änderung des Körperbildes
- Verstärktes Schamgefühl
- Gesteigerte Selbstwahrnehmung
- Pubertärer Wachstumsschub
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- "Ich schämte, mich so schwach zu sein. Ich schämte mich besonders,
als ich mich übergab." (S.5f.)
- "Ich fühlte mich in meinem Körper wohl." (S.41)
- "Ich hatte viel zu lange Arme und zu lange Beine, nicht für die
Anzüge, die meine Mutter herausgelassen hatte, aber für die
Koordination meiner Bewegungen." (S.39)
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Änderung der sozialen Kontakte
- Freundschaften mit gleichgeschlechtlichen Gleichaltrigen
- Peergroup-Orientierung
- Kontakt mit Mädchen
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- "Links von mir saß saß ein Mitschüler aus meiner alten Klasse,
Rudolf Bargen, [...] mit dem ich in der alten Klasse kaum zu tun
gehabt hatte, aber bald gut Freund war." (S. 64)
- "Aus der Kameradschaft der sommerlichen Nachmittage im Schwimmbad
entwickelten sich Freundschaften. Außer meinem Banknachbarn [...]
mochte ich in der neuen Klasse besonders Holger Schlüter, der sich wie
ich für Geschichte und Literatur interessierte und mit dem der Umgang
rasch vertraut wurde." (S. 72)
- "Ich kannte die Frauen und konnte gelassen und kameradschaftlich
sein. Das mochten die Mädchen." (S. 64)
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Änderung der Ideale
- Anerkennung der Ideale der Gruppe
- Abgrenzung von Werten und Normen der älteren Generation
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- "Wir Studenten sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung. Wir
rissen die Fenster auf, ließen die Luft herein, den Wind, der endlich
den Staub aufwirbelte, die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der
Vergangenheit hatte sinken lassen. Wir sorgten dafür, dass man atmen
und sehen konnte. " (S.87)
- "Aber ich wollte mehr, ich wollte das gemeinsame Eifern teilen."
(S.89)
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Aufbau einer eigenen Identität
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Zunahme der Urteilsfähigkeit
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Häufig idealistische Berufsvorstellungen
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Elterliche Scheinheiligkeit wird durchschaut und
angeprangert.
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Omnipotenzgefühle (=Allmachtphantasien) und dem Wunsch nach Grenzerfahrungen
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"Ich wusste, dass die phantasierten Bilder armselige Klischees
waren. Sie wurden der Hanna, die ich erlebt hatte und erlebte nicht
gerecht." (S.142)
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"Nach dem Referendariat musste ich mich für einen Beruf
entscheiden. Ich ließ mir eine Weile Zeit. [...] Ich tat mich schwer.
[...] der ersten Flucht folgte die nächste, als ich an eine
Forschungseinrichtung wechselte und dort eine Nische suchte und fand,
in der ich meinen rechtsgeschichtlichen Interessen nachgehen könnte,
niemanden brauchte und niemanden störte." (S.171f.)
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"»Ich habe dir nicht helfen können.« Mein Vater stand auf und ich
auch. »Nein, du musst nicht gehen, mir tut nur der Rücken weh.« [...]
»Du kannst jederzeit kommen.« Mein Vater sah mich an.
Ich glaubte ihm nicht und nickte." (S.138f.)
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"Mir war nie kalt. Während die anderen in Pullovern und Jacken Ski
fuhren, fuhr ich im Hemd." (S. 159)
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Soziale Integration
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Übernahme von gesellschaftlichen Rollenangeboten
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Einnahme einer Berufsrolle
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"Ich habe als Referendar geheiratet. [...] Als Julia fünf war,
haben wir uns scheiden lassen." (S.164f.)
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"Eines meiner Forschungsgebiete wurde das Recht im Dritten Reich."
(S.172)
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