Die sexuellen Erfahrungen, die
• Michael
Berg mit
• Hanna Schmitz
im •
Ersten Teil des Romans »Der
Vorleser« von •
Bernhard Schlink
macht, können zwar als •
Initiation aufgefasst werden, doch haben die Vorgänge auch eine andere
Seite.
Die Beziehung zwischen Hanna
und Michael zeugt auch von •
sexueller Gewalt gegen einen Jungen
und ist damit die Geschichte eines •
sexuellen Missbrauchs.
Unter
dem Blickwinkel des heutigen Strafrechts fällt das, was sich zwischen
Michael und Hanna abspielt unter die •
Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung und dabei insbesondere unter
den Paragraphen 182 StGB, der den
•
sexuellen Missbrauch von
Jugendlichen (StGB 182) zum Gegenstand hat.
Die Betrachtung der Beziehung von Hanna und Michael unter diesem Aspekt kann
dabei die besondere • Adoleszenzproblematik, die Michael hat, erhellen.
Ende Februar 1959 macht sich Michael auf den Weg, um sich auf Wunsch
seiner Mutter bei Hanna Schmitz zu bedanken. Diese Begegnung ist in der
Erinnerung des Erzählers deutlich in zwei Teile geteilt. An das, was sie
in der ersten Zeit während seines Besuchs bei ihr in der Küche gesprochen
haben, kann sich der Erzähler nicht mehr erinnern. Allerdings bemerkt er,
dass Hanna während ihres Gesprächs in der Küche auch ihre Unterwäsche vor
seinen Augen bügelt, was wohl mehr als seine reine Aufmerksamkeit erregt,
denn trotz seines Willens nicht hinzuschauen, kann der davon seinen Blick
nicht abwenden. (S.14) So sehr ist seine Wahrnehmung davon gebannt, dass
er sich zwar noch daran erinnern kann, welche Kleidung sie getragen hat
und wie ihre Frisur ausgesehen hat, aber er hat kein Bild von ihrem Gesicht mehr
vor Augen.
Zwar glaubt das • erzählende Ich zu wissen, dass der junge
Michael das Gesicht schön gefunden habe, doch muss es versuchen, dieses
Gesicht mit einer nüchternen Beschreibung zu "rekonstruieren", weil sich
die späteren Gesichter Hannas über diese Eindrücke gelegt hätten. Damit
wird aber zugleich auch ausgedrückt, dass die Wiedergabe des Geschehens
aus der Perspektive des • erlebenden Ichs, zumindest in diesem Falle, durch
die Wahrnehmung des erzählenden Ichs getrübt ist.
Als sich Michael verabschieden will, beginnt der, auch durch ein neues
Kapitel ausgedrückte, zweite Teil des Besuchs. Hanna will ihn, da sie
selbst auch gehen muss, noch ein Stück weit begleiten. Dabei kann er,
während er im Flur wartet, durch einen offen stehenden Türspalt
beobachten, wie sich Hanna in der Küche die Strümpfe anzieht. Mit
voyeuristischer Genauigkeit beschreibt das erlebende Ich, was es in den
Bann zieht:
"Sie zog die Kittelschürze aus und stand in hellgrünem Unterkleid.
Über der Lehne des Stuhls hingen zwei Strümpfe. Sie nahm einen und
raffte ihn mit wechselnd greifenden Händen zu einer Rolle. Sie
balancierte auf einem Bein, stützte auf dessen Knie die Ferse des
anderen Beins, beugte sich vor, führte den gerollten Strumpf über die
Fußspitze, setzte die Fußspitze auf den Stuhl, streifte den Strumpf über
Wade, Knie und Schenkel, neigte sich zur Seite und befestigte den
Strumpf an den Strumpfbändern. Sie richtete sich auf, nahm den Fuß vom
Stuhl und griff nach dem anderen Strumpf." (1. Teil, Kap. 4, S. 15)
Was hier erzählt wird, trägt deutlich die "Handschrift" des erlebenden
Ichs. Geradezu atemlos verfolgt der junge Michael auch die kleinste
Bewegung, was sprachlich mit einer nur von Kommas unterbrochenen
Aufzählung unterstrichen wird.
Die erotische Wirkung dieses Motivs ist
durch die Werbung, aber auch durch Filme wie "Die
Reifeprüfung" (Regie: Mike Nichols, USA 1967) mit Dustin
Hoffmann und Anne Bancroft hinlänglich bekannt und wird dort, allerdings
in etwas anderer Form, sogar
in verschiedenen Filmplakaten in Szene gesetzt.
Dass der Fünfzehnjährige bei diesem Anblick seinen sexuellen Phantasieren
erliegt und Hannas Körper mit seinen Augen geradezu abtastet, ist von
daher nichts Außergewöhnliches, zumal ein solcher Anblick in den sechziger
Jahren, in denen die Szene spielt, wohl auch noch manch Erwachsenen
"übermannt" hätte. Was damals der Seidenstrumpf, das ist wohl heute die
neue "Lust" an Dessous geworden, denen - in allen möglichen Varianten -
eine besondere ausgeprägte Verführungskraft zugesprochen wird.
Weniger die Tatsache, dass Michael den voyeristischen Blick genießt, bis
er sich im Gefühl, von Hanna dabei ertappt worden zu sein, beschämt
davonmacht, ist daher für das Verständnis der Szene wichtig. Daran ist,
zumindest nach heutigen moralischen Maßstäben, wohl nicht viel
auszusetzen. Die Frage ist, ob und inwieweit das Ganze von Hanna
inszeniert worden ist, um den Jugendlichen in Erregung und in Scham zu
versetzen.
Sieht man genauer hin, entpuppt sich das Ganze nämlich mit großer
Wahrscheinlichkeit so, wie es das erzählende Ich des Fünfzigjährigen
später in einem anderen Zusammenhang vermutet (vgl. S. 49), nämlich als
bewusste Inszenierung in einem "Machtspiel".
Schon die Tatsache, dass sie
vor dem jungen Mann ihre Unterwäsche bügelt, stellt sich auf diesem
Hintergrund keineswegs als "normaler" Vorgang dar. Auch wenn der Erzähler
davon nichts zu berichten weiß, ist doch davon auszugehen, dass Hanna
spürt, in welche Aufregung allein dieses Tun den Fünfzehnjährigen
versetzt. Dass sie darüber hinaus beim Umziehen bzw. Anlegen ihrer
Strümpfe die Türe einen Spalt weit offen lässt, um Michael solche Blicke
zu gewähren, ist Teil ihres Kalküls, das aufgeht, als sie Michael ganz
unverwandt und ohne die geringste Scham in die Augen blickt. (vgl. S. 16)
Nur so erklärt sich im Übrigen auch, dass sie eine Woche später, ohne dass
es eigentlich erneut zu einer erotisch irgendwie aufgeladenen
Kommunikation zwischen beiden gekommen ist, nackt hinter Michael steht und
ihn an seinem erigierten Penis berührend erklärt: "Darum bist du doch
hier!". (S.26)
In der Zeit nach seinem Erlebnis beim ersten Besuch bei Hanna durchlebt
Michael Nächte, in denen seine erregenden Phantasien immer wieder zu
Samenergüssen im Schlaf führen. Auch wenn nicht explizit gesagt wird, dass
sich dieses Phantasien unmittelbar um Hanna drehen, so ist doch davon
auszugehen, dass die "Bilder und Szenen", von denen die Rede ist, damit in
Zusammenhang stehen. Diese erzeugen in dem Jugendlichen, insbesondere weil
er auch bewusst solchen Phantasien nachhängt, ein "schlechtes Gewissen".
(S.20) Solche Gewissensbisse sind angesichts der in dieser Zeit
herrschenden Moral, die die Masturbation im Allgemeinen noch als
unmoralisch, selbstsüchtig, ja widernatürlich angesehen hat. Dennoch
fürchtet Michael nicht für seine "Geheimnisse der Kindheit" von Mutter und
Schwester und sogar von seinem Pfarrer offenen Tadel zu bekommen, während
er aber zugleich die stattdessen antizipierten liebevollen und besorgten
Ermahnungen als noch größeres Übel empfindet. Hinter diesem Gefühl steht
dabei wohl der Anspruch von den Erwachsenen nicht mehr als Kind behandelt
werden zu wollen.
Angesichts dieser Umstände ist die vom erzählenden Ich aufgeworfene Frage
danach, warum der junge Michael es dann doch unternimmt, Hanna zu
besuchen, mehr als berechtigt. Allerdings zeigt sich auch bei dieser
Reflexion des fünfzigjährigen Erzählers, dass seine Sicht der Dinge die
Wahrnehmung des Jugendlichen deutlich überlagert.
Im Nachhinein so
erscheint es ihm nämlich geradewegs wie eine rational bewusste
Entscheidung in einem Konflikt zwischen sexuellen Trieben und Moral, der
Wunsch nach der "sündigen Tat" Ausdruck erscheint so wie ein Aufbegehren
gegen die herrschende Moral. (vgl. S. 21) Auch wenn dies angesichts der
"Gewissensnöte" des Fünfzehnjährigen angezweifelt werden darf, steht doch
fest, dass es seine eigene Entscheidung ist, als er sich eine Woche nach
ihrer ersten Begegnung wieder zu Hanna aufmacht. Allerdings spielen dabei
auch andere, möglicherweise vorgeschobene Gründe eine Rolle, von denen
dann im Horizont des erlebenden Ichs die Rede ist:
"Hinzugehen mochte gefährlich sein. Aber eigentlich war unmöglich,
daß die Gefahr sich realisierte. Frau Schmitz würde mich verwundert
begrüßen, eine Entschuldigung für mein sonderbares Verhalten anhören und
mich freundlich verabschieden. Gefährlicher war, nicht hinzugehen; ich
lief Gefahr, von meinen Phantasien nicht loszukommen. Also tat ich das
Richtige, wenn ich hinging. Sie würde sich normal verhalten, ich würde
mich normal verhalten, und alles würde wieder normal sein." (S.21)
Kein Wunder, dass derartige Überlegungen dem erwachsenen Michael Berg
wie "Vernünfteleien" vorkommen, mit denen er als Jugendlicher sein
"schlechtes Gewissen zum Schweigen gebracht" habe. Zugleich aber spürt das
erzählende Ich heraus, dass diese allein die Entscheidung, Hanna erneut
aufzusuchen, nicht hinreichend motivieren bzw. erklären können. So stellt
der Erzähler ernüchtert fest: "Ich weiß nicht, warum ich es tat." (S. 21)
Die Erklärung dafür sieht er in einem sein ganzes Leben durchziehenden
Muster von Denken und Handeln: "Ich denke, komme zu einem Ergebnis, halte
das Ergebnis in einer Entscheidung fest und erfahre, daß das Handeln eine
Sache für sich ist und der Entscheidung folgen kann, aber nicht folgen muß.
[...] Es, was immer es sein mag, handelt; es fährt zu der Frau, die ich
nicht mehr sehen will [...]". (S.21f.) Das Handeln hat, so führt er weiter
aus, für ihn stets "seine eigene Quelle" und folgt für ihn erfahrungsgemäß
nicht zwingend aus einem kognitiven Entscheidungsprozess.
Als Michael von Hanna aufgefordert wird, seine Sachen auszuziehen, zögert
Michael zunächst, überwindet aber, als er bemerkt, dass die Badewanne fast vollgelaufen ist, seine natürliche Scham. Doch als Hanna entgegen ihrer
Versicherung, sie werde nicht hinschauen, ihn doch genau mustert, wird er
rot. Nachdem er sich in Abwesenheit Hannas selbst den Schmutz vom Körper
abgewaschen hat, spürt er eine Erektion, die er auf das Gefühl eines nicht
näher bezeichneten "erregenden Behagens" zurückführt. (S.26)
Die Tatsache,
dass er diese Regung in dieser Situation keineswegs mit Hanna verbindet,
zeigt, dass er sich den sexuellen Kontakt mit Hanna eigentlich überhaupt
nicht vorstellen kann, nicht vorstellen will oder aber eine solche
Vorstellung nicht zulassen kann.
So wendet er Hanna, als diese mit einem
Badetuch zurückkommt und ihn abtrocknen will, schamhaft den Rücken zu, als
sie ihn abtrocknet. Wie gelähmt bleibt er stehen, als sie damit fertig
ist, womöglich aus Scham ebenso wie wegen Erwartung, was nun passieren
würde.
Jedenfalls gewinnt man den Eindruck, dass das Abtrocknen von ihm
als erstes Signal für Hannas sexuelles Interesse an ihm gedeutet wird. Als
er dann spürt, dass sich Hanna ebenfalls auszogen hat und sie ihm zugleich
unterstellt, dass der Wunsch nach Sex mit ihr ja schließlich das Motiv
seines Besuches sei, ist er völlig konsterniert und sprachlos. So bleibt
er von der Situation und dem Anblick der nackten Frau, nachdem er sich
umgedreht hat, so überwältigt, dass er lediglich eine Äußerung über ihre
Schönheit herausbringt, die von Hanna mit der Bemerkung: "Ach, Jungchen,
was redest du." abgetan wird. Stattdessen beginnt sie mit Liebkosungen des
Jungen, die bei Michael zunächst Angst auslösen, eine Angst, die in der
Vorstellung gipfelt, dass er "ihr nicht gefallen und nicht genügen würde."
(S.27) Damit bricht sich auch die Angst Bahn, den Ansprüchen Hannas im
Allgemeinen und im Sexuellen im Besonderen als unerfahrener Jugendlicher
nicht entsprechen zu können, die Angst davor, als Versager dazustehen, wie
er dies später einmal, in einem allerdings anderen Kontext, selbst
formuliert ("Oder wollte sie keinen Versager als Geliebten?", S. 37)
Die erste sexuelle Begegnung zwischen den beiden ist damit von Hanna
bewusst herbeigeführt worden. Sie hat, wie das erzählende Ich später für
einen Moment zu sehen scheint, das Ganze bewusst arrangiert (vgl. S. 49)
und nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen gestaltet. Für etwas
anderes als Sex, das ist schon hier klar, ist in der Beziehung der beiden
kein Raum. Das zeigt auch Hannas Verwendung des Diminutivs "Jungchen", das
Michael die Gleichberechtigung abspricht und seine erwachsene Potenz
abwertet. Das "Jungchen" wird damit der erwachsenen Sexualität Hannas
unterworfen, wird zu deren bloßem Objekt degradiert und damit auch Opfer
sexualisierter Gewalt, auch wenn weder das erlebende, noch das erzählende
Ich dies in seiner Tragweite wirklich wahrhaben wollen.
In der Nacht nach dem ersten Geschlechtsverkehr mit Hanna hat sich
Michael, wie er nüchtern berichtet, "in sie verliebt." (S.28) Das scheinen
ihm die Gefühle und Regungen zu signalisieren, die ihn in dieser Nacht
überwältigen: "Ich schlief nicht tief, sehnte mich nach ihr, träumte von
ihr, meinte, sie zu spüren, bis ich merkte, daß ich das Kissen oder die
Decke hielt. Vom Küssen tat mir der Mund weh. Immer wieder regte sich mein
Geschlecht, aber ich wollte mich nicht selbst befriedigen. Ich wollte mich
nie mehr selbst befriedigen. Ich wollte mit ihr sein." Hin- und hergerissen
von seinen sexuellen Fantasien bietet er seine ganze Selbstbeherrschung
auf, um sexuelle Befriedigung durch Onanie zu vermeiden. Angesichts dessen
erscheint die Erklärung, er habe sich in Hanna verliebt, kaum mehr als ein
Deutungsmuster darzustellen, die diese Empfindungen des pubertierenden
Jugendlichen legitimieren sollen.
So ähnlich scheint auch der 50-jährige Michael Berg das Ganze zu sehen,
auch wenn er auf die Frage, ob er sich nur in Hanna verliebt habe als
Preis dafür, dass sie mit ihm geschlafen habe, eigentlich keine direkte
Antwort weiß.
Immerhin kommt ihm in Erinnerung, dass er bis hin zur Erzählergegenwart
als 50-Jähriger nach dem Sexualverkehr mit einer Frau stets das Gefühl
habe, er sei "verwöhnt" worden und müsse es auf zweierlei Weise
"abgelten".
Zum einen dieser Frau gegenüber, die er - auch bei
gegenteiligen Empfindungen - geradezu zwanghaft zu lieben versuche, zum
anderen gegenüber der Welt, deren Anforderungen er dann besonders penibel
erfüllen wolle. ("Bis heute stellt sich nach einer Nacht mit einer Frau
das Gefühl ein, ich sei verwöhnt worden und müsse es abgelten - ihr
gegenüber, indem ich sie zu lieben immerhin versuche, und auch gegenüber
der Welt, der ich mich stelle.", S. 28)
Sexuelle Kontakte mit Frauen
hinterlassen in der Zeit nach Hanna, daran lassen diese Ausführungen
keinen Zweifel, Schuldgefühle bei Michael Berg, und zwar ein Leben lang.
Psychische Spätfolgen eines Mannes, der als Jugendlicher selbst Opfer
sexuellen Missbrauchs geworden ist?
Die "Antwort", die sich das erzählende Ich auf seine selbst gestellte
Frage zu geben versucht, rekurriert auf ein Kindheitserlebnis. Als kleiner
Junge im Alter von vier Jahren, so berichtet das erzählende Ich, sei er an
kalten Wintertagen in der geheizten Küche von seiner Mutter gewaschen und
angezogen worden. Dabei habe er stets ein "wohliges Gefühl der Wärme"
empfunden (S.29).
Dieses Geschehen ist ihm aber keineswegs so ungebrochen
positiv in Erinnerung geblieben. Und dies ist auch der Grund, weshalb er
in seinem Leben offenbar häufiger daran denken muss: "Ich erinnere mich
auch, daß wann immer mir die Situation in Erinnerung kam, ich mich fragte,
warum meine Mutter mich so verwöhnt hat. War ich krank? Hatten die
Geschwister etwas bekommen, was ich nicht bekommen hatte? Stand für den
weiteren Verlauf des Tages Unangenehmes, Schwieriges an, das ich bestehen
mußte?" (S.29)
Von Kindheit an, so scheint es, hat sich damit ein Schema
ausgebildet, das körperliche Zuwendung als nicht verdiente Verwöhnung
interpretiert und den Genuss an der Verwöhnung mit Schuldgefühlen und
Selbstzweifeln bestraft, die mit bestimmten Verhaltensweisen abgegolten
bzw. gemildert werden können. In dieses Muster fällt auch das Verhalten
Michaels nach seinem ersten sexuellen Verkehr mit Hanna. Als er nämlich am
nächsten Tag wieder zur Schule geht, tut er es auch "für die Frau", die
ihn "so verwöhnt hatte". (S.29)
Die ersten sexuellen Erfahrungen, die Michael mit Hanna macht, sind
einseitig von Hanna und ihren Bedürfnissen bestimmt und hinterlassen bei
Michael ein Gefühl der Verunsicherung. Er kann nämlich nicht recht
einschätzen, welche Bedeutung das Ganze für die 21
Jahre ältere Frau überhaupt gehabt hat. Noch nach sechs oder
sieben Tagen, an denen sie schon Geschlechtsverkehr miteinander hatten,
quälen das erlebende Ich die zwei Fragen: "Aber war ich ihr Geliebter? Was
war ich für Sie?" (S.36) Fragen, die zeigen, dass der junge Michael sich
eigentlich über die Gründe, die zur Aufnahme sexueller Beziehungen geführt
haben, und die Motive für deren Beibehaltung völlig im Unklaren ist. Noch
ist er aber auch noch nicht bereit, seine Gefühle für Hanna mit einem
Liebesbekenntnis auszudrücken ("Zuerst wollte ich sagen: Ich liebe dich.
Doch dann mochte ich nicht.", ebd.) Zwischen beiden ist, das spürt der
Fünfzehnjährige heraus, bis dahin, aller sexueller Begegnungen zum Trotz,
keine Nähe und auch kein Vertrauen entstanden. Sie kennen nicht einmal
ihre Namen und als Michael "die Frau" - so nennt er sie noch am Anfang des
8. Kapitels!- danach fragt, gibt Hanna diesen erst nach einem
misstrauischem Zögern preis.
Etwa eine Woche nach der ersten sexuellen Begegnung reflektiert Michael
Berg in der Rolle des
erlebenden Ichs m
8. Kapitel des 1. Teils
über seine bis dahin gemachten sexuellen Erfahrungen mit Hanna:
"Ich hätte das Duschen lieber gelassen. Sie war von
peinlicher Sauberkeit, hatte morgens geduscht, und ich mochte den Geruch
nach Parfum, frischem Schweiß und Straßenbahn, den sie von der Arbeit
mitbrachte. Aber ich mochte auch ihren nassen, seifigen Körper; ich ließ
mich gerne von ihr einseifen und seifte sie gerne ein, und sie lehrte
mich, das nicht verschämt zu tun, sondern mit selbstverständlicher,
besitzergreifender Gründlichkeit. Auch wenn wir uns liebten, nahm sie
selbstverständlich von mir Besitz. Ihr Mund nahm meinen, ihre Zunge
spielte mit meiner, sie sagte mir, wo und wie ich sie anfassen sollte,
und wenn sie mich ritt, bis es ihr kam, war ich für sie nur da, weil sie
sich mit mir, an mir Lust machte. Nicht dass sie nicht zärtlich gewesen
wäre und mir nicht Lust gemacht hätte. Aber sie tat es zu ihrem
spielerischen Vergnügen, bis ich lernte, auch von ihr Besitz zu
ergreifen.
Das war später. Ganz lernte ich es nie. Lange fehlte es mir auch nicht.
Ich war jung, und es kam mir schnell, und wenn ich danach langsam wieder
lebendig wurde, ließ ich sie gerne von mir Besitz nehmen. Ich sah sie
an, wenn sie über mir war, ihren Bauch, der über dem Nabel eine tiefe
Falte warf, ihre Brüste, die rechte ein winziges bißchen größer als die
linke, ihr Gesicht mit dem geöffneten Mund. Sie stützte ihre Hände auf
meine Brust und riß sie im letzten Moment hoch, hielt ihren Kopf und
stieß einen tonlos schluchzenden, gurgelnden Schrei aus, der mich beim
ersten Mal erschreckte und den ich später begierig erwartete.
Danach waren wir erschöpft. Oft schlief sie auf mir ein." (S.33f.)
Michael kann mit dem von Hanna ständig wiederholten Duschen und der
peniblen Körperreinigung wenig anfangen. Mehr noch: Ginge es nach ihm,
dann wäre ihm der Alltagsgeruch Hannas viel lieber. Auch wenn sich Michael
darüber an dieser Stelle keine weiteren Gedanken macht, scheint er doch zu
spüren, dass die "echte", in den Gerüchen und den Handlungen der
Erwachsenwelt agierende Hanna damit, sobald sie sich begegnen, in eine
neue Rolle schlüpft, ohne diese für Michael verständlich zu definieren.
Andererseits überlagern die in diesem Reinigungsritual vorgenommenen
Handlungen, die für Michael stets auch ein Erkunden des weiblichen Körpers
unter sexueller Erregung bedeuten, solche Widerstände gegen das
Duschritual. Michael betont, dass er selbst gerne von Hanna eingeseift
worden sei und er diese gerne eingeseift habe.
•
Sexuelle Gewalt gegen
Jungen
•
Überblick
•
Spätfolgen
sexueller Gewalt bei Männern
•
Überblick
•
•
Psychische Folgen •
•
Textauswahl
•
Jungen sind
auch Opfer! - Sexuelle Gewalt gegen Jungen
•
Ein kulturelles
Paradox: Mannsein und Opfersein
•
Lehrerin hatte Sex mit 13-jährigem
Schüler. Zweieinhalb Jahre Haft für ehemalige Vertrauenslehrerin (2005)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.05.2024