|
Früher, so schien es jedenfalls lange, gab es im Rahmen
normativer Gattungskonzepte klare Regeln, welche Texte als
literarisch galten und welcher Literaturgattung sie zuzuordnen waren. Die
herkömmliche normative Gattungstrias von
Epik,
Dramatik und
Lyrik,
die auf
geschichtsphilosophischen oder anthropologischen Annahmen aufbaut, hat noch lange den
literaturwissenschaftlichen Diskurs bestimmt, obwohl längst Zweifel an deren
Gültigkeit erhoben worden sind. So dauerte es schließlich seine Zeit, bis »Karl
Bühlers (1879-1963) Modell der Sprachfunktionen (»Organon-Modell)
und seine Erweiterung durch »Roman
Jakobson (1896-1982) den Weg zu einem erweiterten Literaturbegriff ebneten,
der trotz der auch dagegen vorzubringenden Einwände (vgl. u. a.
Nickisch 1996,
S.353), Texte zum Gegenstand der Literaturwissenschaft und
Literaturgeschichtsschreibung machten, welche die Kulturgesellschaft im Laufe
ihrer geschichtlichen Entwicklung zwar hervorgebracht hatte, aber eben als nicht
literarisch angesehen hatte.
Der Essay sperrt sich, das zeigen die Vielzahl der Versuche, ihn entweder den
literarischen oder nichtliterarischen Texten zuzuordnen, gegen alle Schablonen.
Und aller dieser Versuche zum Trotz ist man auch heute nicht viel weiter als vor
50 Jahren, als u. a.
Just (1960,
Sp. 1907, zit. n. Belke
(1973/1980a) formulierte, dass der Essay
"genau zwischen Dichtung und Wissenschaft angesiedelt" sei. Und doch kann man,
selbst wenn man gerade aus didaktischen Gründen dem ganzen "Gattungshickhack" zu
entkommen wünscht, nicht umhin, einige wenige Aspekte zu
Klassifikationsversuchen, Ansätzen von Typologien und Definitionen in den Blick
zu nehmen.
Fragen, um die es im Zusammenhang mit dem Essay geht, drehen sich um
Grundprobleme literarischer
Kompetenz. Denn in diesem Zusammenhang müssen Fragen gestellt und
beantwortet werden, wie z. B., was unterscheidet einen literarischen von einem
nichtliterarischen Text (Problem der
Literarizität) und im
Falle der Zuordnung des Essays zu den literarischen Zweckformen (literarisierte
Gebrauchstexte) die Frage:
"Was macht einen
Gebrauchstext 'literarisch'?" (Vogt (2008,
S.192). Auch wenn sich solche Fragen nicht eindeutig, objektiv und allgemein
akzeptiert beantworten lassen, muss die Beschäftigung mit ihnen nicht unbedingt in eine
Verherrlichung der "Höhenkamm-Literatur" (Abraham/Kepser
2006,
S.26) münden muss.
In der Literaturwissenschaft tut man sich also allenthalben
schwer, eine literarische Form wie den Essay in den Kategorien und
Klassifikationssystemen der herkömmlichen und
neueren Gattungstheorie (→normative, an der herkömmlichen
Gattungstrias orientierte Konzepte; →nicht-normative
Gattungskonzepte) zu definieren. Und es macht auch im Hinblick auf
den Literaturunterricht in der Schule kaum Sinn, sich im Falle des Essays mit
normativ, stilistisch oder anthropologisch begründeten Modellen zur
Gattungsklassifikation zu befassen, die heutzutage als überholt gelten können.
(vgl.
Abraham/Kepser
22006, S.32). Das bedeutet indessen nicht, dass
systematische
Ansätze zur Klassifikation von Gattungen per se in die Irre führen müssen.
(vgl.
Klaus
Müller-Dyes 1996)
Einige
Vertreter der jüngeren Gattungstheorie neigen zu der Auffassung "die
essayistische Prosa (gelegentlich mit anderer nichtfiktiver Prosa) als
vierte Hauptgattung der Literatur" zu betrachten. (Nickisch
1996, S.361, Hervorh. d. Verf.) Aber auch dies ist natürlich keineswegs unumstritten. Eine
Form, die aufgrund ihres
"Unbestimmtheitscharakters" (Bude
1989 S.534), ihrer "absichtsvollen
Unbestimmtheit" (Schlaffer 1997, S.523) und ihrer "Inkommensurabilität" (Weissenberger
1985a, S.112) meistens irgendwo "zwischen den Bereichen Kunst und Wissenschaft,
Literatur als Dichtung und politischer bzw. kultur- und gesellschaftlicher
Publizistik, Ästhetik und Ethik gehandelt" wird (Nübel 2006,
S.15), lässt sich, wenn der Literaturbegriff selbst "elastisch" ist,
wohl am besten als
eine "Mischform" auffassen, zu deren Gruppe die Texte und Textklassen zählen, "die
verschiedenen Gattungen angehören (...) genauer formuliert: deren Eigenschaften
die Anwendung zweier oder mehrerer Gattungsbegriffe zulassen." (Müller-Dyes
1996, S.348)
Wenn Gattungsbegriffe als "Klassenbegriffe" aufzufassen sind,
"die über eine begrenzte Menge von mehr oder weniger isolierten, obligatorischen
wie fakultativen Merkmalen gebildet sind" (vgl.
ebd.,
S.316), dann lässt sich der Essay, das ist wohl schon seit längerem Konsens,
nicht als "eine eigenständige literarische Gattung" (Rohner
1968a, S.20) auffassen. Dennoch lassen sich, zumindest unter
Zuhilfenahme des klassifikatorischen Verfahrens, Merkmale des Essays benennen,
die ihn irgendwie als literarische Form qualifizieren können. Ein Idealtypus des
Essays mit ganz bestimmten Merkmalen gibt es indessen nicht. Aus der Analyse
lassen sich allenfalls verschiedene Prototypen essayistischen Schreibens
gewinnen, bei denen im Einzelfall zu entscheiden ist, ob sie mehr in die eine
oder andere Richtung tendieren. So schwer die gattungstheoretische Verortung der
"Kunstform" Essay ist, so wenig zielführend haben sich Versuche erwiesen, den
Essay in ein klassifikatorisches System von
Gebrauchstexten
eindeutig einzupassen. So ist sich schon
Belke (1973/1980a, S. 32) bewusst, dass sich der Essay eben nicht so ohne Weiteres in die Gruppe wissenschaftlicher
Gebrauchstexte fügt, denn selbst wenn das Thema eines Essays wissenschaftlicher Natur
sei, könne es eben doch in künstlerischer Weise erfasst und dargestellt sein.
Und der Essay könne gerade aufgrund des ihm eigenen persönlich geprägten
originellen Zugriffs seines Autors "seine Gültigkeit behalten, auch wenn seine
wissenschaftlichen Voraussetzungen überholt sind." (ebd.)
Für Rohner (1968a,
S.20) ist der Essay "ein kürzeres Stück betrachtsamer Prosa, das in
ästhetisch anspruchsvoller Form einen einzigen, inkommensurablen Gegenstand
kritisch deutend umspielt, dabei am liebsten reihend, verknüpfend,
anschauungsbildend verfährt, den fiktiven Partner im geistigen Gespräch
virtuos unterhält und dessen Bildung, kombinatorisches Denken, Phantasie
erlebnishaft einsetzt." (ebd.)
Danach war wohl für längere Zeit kaum umstritten, was auch Helga Bleckwenn (1978) mit ihrer
Definition zu erfassen suchte: Der Essay
als Prosatext wurde als eine "Kunstform" angesehen, der Ergebnis eines bewussten
literarisch-ästhetischen Gestaltungsprozesses war. Essays, die ohne den die
Dichtung kennzeichnenden fiktionalen Weltbezug daherkamen, waren auch für
Bleckwenn Texte kürzeren bis mittleren Umfangs, die im deutschen
Sprachraum traditionellerweise vom Bildungsbürgertum zunächst als
"Bildungsessay" rezipiert worden seien, ehe sie sich nach dem Ersten Weltkrieg
auch kultur- und gesellschaftlichen Themen zugewandt und damit einen
Strukturwandel zum Traktat
vollzogen hätten. (vgl. Bleckwenn
1978, S.121f.) So umkreisen die literaturwissenschaftlichen Definitionen
seitdem stets um die gleichen, mehr oder weniger normativ gehaltenen
Zuschreibungen von Textsortenmerkmalen, wenn ein solches Vorgehen nicht aus
prinzipiellen Erwägungen gegenüber dem Essay, essayistischem Schreiben und der
so genannten essayistischen Methode von vornherein für abwegig erklärt wird.
Beispielhaft für derartige literaturwissenschaftliche Definitionsversuche z. B.
Nickisch (1996,
S.360):
"Der Essay ist ein subjektiv gestaltetes und stilästhetisch durchformtes
abgeschlossenes Stück nichtfiktiver Prosa, das prinzipiell weder thematisch
noch tendenziell eingegrenzt ist und seinen Gegenstand in aller Regel
kritisch-skeptisch, intuitiv-assoziativ, anregend, facettenreich und oft
auch mehr oder weniger dialogisch (nicht aber methodisch, systematisch und
erschöpfend wie etwa Traktat oder Abhandlung) behandelt."
In welche metaphorischen Umschreibungen sich Definitionsversuche des Essays auch
immer verstiegen haben, scheint es, insgesamt gesehen, doch so zu sein, dass man kaum "über
die Minimalformel 'Essay = ein fiktionales Prosastück mittlerer Länge',
vielfach verbunden mit dem Zusatzprädikat 'ästhetisch anspruchsvoll'',
hinauszukommen" vermochte. (Nübel 2006,
S.18,
Hervorh. d. Verf.) oder um es mit den Worten von Adam (1981, S.94,
Hervorh. d. Verf.) zu sagen: "Der Essay ist ein gekonnt geschriebenes
Prosastück mittlerer Länge, in dem der Autor einen Stoff seiner Wahl völlig
unabhängig von Formmustern behandeln kann." Darüber, was denn mittlere Länge
sei, das sei ohne Verwunderung angemerkt, gehen die Meinungen allerdings schon
wieder auseinander. (vgl. Nübel 2006,
S.15) Ulmer (2012.
S.9) sind hingegen unter
didaktischen
Gesichtspunkten gerade metaphorische Annäherungen an den Essaybegriff (z. B.
Gedankenspaziergang) besonders wichtig, da sie die emotionalen Facetten des
Essaybegriffs erschließen würden, die im schulischen Kontext ausgesprochen
wertvoll seien. Sie schließt dabei an »Musils
(1880-1942) Konzept der "Utopie
des Essayismus" an und spricht von der "freiheitlich-emanzipatorischen
Grundidee der Textsorte" (ebd.,
S.16, Anm. 37) Dabei verkennt sie freilich nicht, dass dazu auch eine
Aufzählung von Textsortenmerkmalen gehört, die sowohl "offene wie geschlossene
Strukturaspekte des Essays gleichermaßen berücksichtigt." (ebd.
S. 16) (→Didaktische
und methodische Aspekte beim essayistischen Schreiben in der Schule)
Um der ganzen "Paradoxie literaturwissenschaftlicher Ordnungsbegriffe" (ebd.,
S.20) zu entkommen, sollte man den Begriff des Essay, insbesondere im
schulischen Rahmen, eher unter dem Blickwinkel seiner pragmatischen und
heuristischen Bedeutung betrachten und verwenden. So jedenfalls sehen es einige
namhafte Literaturwissenschafter und -didaktiker wie z. B. Vogt (2008,
S.193),
Müller-Dyes (1996, S.348) oder
Abraham/Kepser
(2006,
S.26). Statt den Blick auf den Nachweis von Textkomponenten zu legen, sollte
daher der Blick eher auf die beim essayistischen Schreiben realisierten
Sprachfunktionen und die Art der jeweiligen Themenentfaltung gerichtet werden.
Dies ist aus didaktischen Gründen ohnehin angeraten, wenn es darum geht, das
durch die Analyse von Essays als literarische Zweckform
erworbene
Textmusterwissen für das Abfassen von Essays als schulische Schreibform
im Unterricht der gymnasialen Oberstufe produktiv werden zu lassen.
Wie immer der Essay
literaturwissenschaftlich auch verortet werden kann: Hier wird, der Einfachheit
halber, von der oben dargestellten
Minimalformel ausgegangen, die, je nach vorliegendem Einzelfall, um weitere,
den jeweiligen Essay kennzeichnende Textelemente erweitert werden kann, die
funktional für die jeweilige
Entfaltung des
Themas relevant sind. In jedem Fall führen, das sei im Anschluss an
Abraham/Kepser
(2006, S.34) betont, "nominalistische Definitionsversuche" in der Literatur-
und Schreibdidaktik des Essays nicht wirklich weiter, selbst wenn eine gewisse
"Auseinandersetzung mit literarischen Gattungs- und Genrekonzepten" deshalb
"unverzichtbar (ist), weil sie den Diskurs im Handlungsfeld wesentlich
bestimmen und ohne ihre Kenntnis eine souveräne Teilhabe daran kaum möglich
ist." (Abraham/Kepser
2006, S.34)
Michel de Montaigne und Francis Bacon: Die französische und englische
Traditionslinie des Essay
Die Geschichte des Essays reicht weit über das bürgerliche
Zeitalter bis zum Beginn der Neuzeit zurück (vgl.
Goltschnigg 1997/2006, S.106) und "struktural verwandte
Darstellungsformen finden sich schon in der Antike bei »Plutarch,»Cicero,
»Seneca,
»Horaz, »Catulll,
»Marc
Aurel u. a. (vgl. Brief, Tagebuch,
Exempel, Dialog,
Diatribe)." (Metzler
Literaturlexikon, S.139)
Die eigentlichen Anfänge des Essays werden meist mit zwei "antipodische(n)
Ahnherren" (Goltschnigg
1977/2006, S.106) in Verbindung gebracht, die zwei
unterschiedliche "Prototypen" des Essays (Pfammatter
2002, S.73) hervorgebracht haben: Michel de Montaigne und Francis Bacon.
- Als literarische Form wird der Essay von dem französischen Politiker und
Philosophen Michel
de Montaigne (1533 - 1592) begründet, der eine offene, unverbindlich
daherkommende, betont-subjektive Form der Auseinandersetzung mit politischen,
kulturellen und literarischen Fragen sowie Problemen der allgemeinen
Sittlichkeit und sittlichen Lebensführung in dialogischer Form mit dem
gebildeten Leser sucht.
- Der bis zu seiner wegen Bestechlichkeit erfolgten
Amtsenthebung als Kronanwalt und Lordkanzler tätige
Philosoph Francis Bacon (1561-1626), der als einer
der Vorläufer des englischen Empirismus gilt, da er in
"»unverfälschter Erfahrung« (Beobachtung und Experiment)
(...) die einzige sichere Quelle des Wissens sah" (vgl.
Brockhaus multimedial, Bibliographisches Institut ] F. A.
Brockhaus AG 2008, zit. n.
Thorn 2012, S.27), begründet die englische Tradition des
Essay, "eines Typus, dessen apodiktische und belehrende
Tendenz eher an den
Traktat gemahnt." (Goltschnigg
1977/2006, S. 107)
Ob indessen diese zwar durchaus einleuchtende, aber auch nicht sonderlich
aussagekräftige "Typologisierung des essayistischen Materials nach den beiden
Urahnen Montaigne oder Bacon" (Nübel
2006,S. 22) wirklich Sinn macht, ist auch in der Literaturwissenschaft nicht
unumstritten.
Ludwig
Rohner (1966, S.355) versucht den Unterschieden der beiden dadurch
näherzukommen, dass er bei Montaigne "das Essayistische als einen eigentümlichen
Denkstil, als experimentierendes Schreiben" ausmacht, "das zwar vorzugsweise im
Essay anzutreffen" sei, aber auch in benachbarten Gattungen wie Brief, Tagebuch,
Autobiographie oder Lebenserinnerungen vorkomme. Bacon dagegen habe den Essay zu
einer geschlossenen literarischen Kunstform gemacht. Ähnlich sieht es auch G.
Haas (1969, S.4), der meint, dass der Essayismus "ein durchwaltendes, andere
Formen durchdringendes Gestaltungsprinzip" darstelle. Mit dem ausgehenden 18.
Jahrhundert jedenfalls wird, wie
Nübel (2006, S.4)
betont, der Essay "zum literarischen Paradigma der Verschränkung ästhetischer
und wissenschaftlicher Erkenntnisformen."
Im deutschen Sprachraum, wo »Herder
(1744-1803), »Schiller
(1759-1805) oder »Forster
(1754-1794) u. a. schon längst essayistische Prosa verfassten, wird der
Begriff des Essays erst um 1859 von »Herman
Grimm (1826-1901) verbreitet. Unzählige Autoren haben sich seitdem am Essay
versucht und sogar "viele Romanschriftsteller haben die im Essayistischen
liegenden Möglichkeiten genutzt, um reflexionsbestimmte und diskursive Partien
ihrer Werke in essayistischer Manier darzubieten. Was ältere Romanautoren (wie »Wieland
(1733-1813), »Heinse
(1746-1803), »Goethe
(1749-1832), »Jean
Paul (1763-1825), »Keller
(1819-1890) oder »Stifter
(1805-1868) ) in ihre Erzählwerke noch als gedanklich-theoretische
Binnentexte, Digressionen
o. ä. einschalteten, wird in modernen Romanen - bei (zumeist auch als Essayisten
bekannten) Romanciers wie »Thomas
Mann (1875-1955), »Hesse
(1877-1962), »Musil
(1880-1942),
»Broch
(1886-1952),
»Frisch
(1911-1991), »Johnson
(1934-1984), »Peter
Weiss (1916-1982) und vielen anderen - zum integralen Bestandteil und
Strukturelement er epischen Präsentation; so gilt der 'Essayismus' geradezu als
essentielles Gestaltungsprinzip dieser Romane, als eine "erweiterte
Erzähler-Reflexion" (Bleckwenn
1974/1978, S. 124) der überdies als dominant
gewordener Erkenntnismodus 'alle gattungsspezifischen Grenzen sprengt.'
(Müller-Funk 1995, S.176)" (Nickisch
1996, S.361, Verlinkung und biografische Daten angefügt durch d. Verf.)
(Zitate aus Bude (1989),
Schlaffer (1997),
Weissenberger
(1985a), Adam (1981,
zit. n.
Nübel (2006)
Gert Egle,
zuletzt bearbeitet am
29.09.2013
|
|