Die
Werkinterpretation nutzt die hermeneutische Denkfigur des
sogenannten hermeneutischen Zirkels, um im Idealfall zu einer
Aufhebung der hermeneutischen Differenz (Distanz) zwischen den
Horizonten des Interpreten und des Autors (bzw. des
Texthorizontes) zu gelungen, die als Voraussetzung für
gelungenes Versehen gilt.
»Hans-Georg
Gadamer (1900-2002) hat für diesen Verstehensprozess, der auch an
die ▪
Reflexion des historisch bedingten Verstehenshorizonts des
Rezipienten gebunden ist, als" Horizontverschmelzung"
(Gadamer 1960/1990, S.312 zit. n.
Köppe/Winko 2013 3.2.2 Literaturwissenschaftliche Adaptionen
der philosophischen Hermeneutik Gadamers)
bezeichnet.
Diese
Vorstellung, die heute gemeinhin als überholt angesehen wird
(vgl. Graf
2015, S.191),
weil sie das vertiefte Textverständnis an die Verringerung der
sogenannten hermeneutischen Differenz bindet, und damit stets,
wenn auch im besten Falle nur annäherungsweise, vorgibt, es gäbe
so etwas wie eine objektiv richtige Interpretation, kann heute
wohl nur noch zur Erklärung des Hintergrunds der Methode
verwendet werden.
Allerdings lässt auch die Theorie der
Horizontverschmelzung zu, dass man unter den aktuellen
Bedingungen des Verstehens, gerade weil es sich um zwei
verschiedene Horizonte handelt, nämlich dem des Autors und dem
des Rezipienten, eben auch zu einem anderen Verstehen gelangt, das
nicht auf der idealistischen Annahme der Verschmelzung der Horizonte
beruht. (vgl.
Baasner 1997/22006, S.162)
Allerdings
treibt die "Horizontverschmeltzung", insbesondere im schulischen Literaturunterricht
immer noch skurrile Blüten. Dies gilt vor allem im Zusammenhang mit biografischen Ansätzen der
Interpretation, wenn Schülerinnen und Schüler herausfinden
wollen, "was der Autor mit seinem Text gemeint hat oder sagen
will".
Damit soll aber nicht
grundsätzlich in Frage gestellt werden, dass biografische
Ansätze, wenn sie sich ihrer Voraussetzungen bewusst sind, nicht
auch interessante Erkenntnisse über einen Text vermitteln können.
Bei aller
Kritik an der Horizontverschmelzung wird damit
das ▪ Prinzip des hermeneutischen Zirkels, nämlich der
"wechselseitige(n) Beeinflussung von textseitigem Bedeutungsangebot
und leserseitiger Bedeutungserwartung" (Graf
2015, S.191),
nicht einfach über den Haufen geworfen.