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Lese- und Rezeptionsstrategien
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Lesen und Textverstehen
(CI-Modell)
Die
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werkimmanente Interpretation basiert auf
den hermeneutischen bestimmten Annahmen über Textproduktion und Textrezeption. Sie münden bei der Interpretation
in die Vorstellung vom hermeneutischen Zirkel. (gr. hermeneuein = deuten,
interpretieren; kirkos = Kreis).
Fragendes Verstehen als Grundfigur
Die Einnahme einer Haltung des fragenden Verstehens ist eine der wichtigsten
Voraussetzungen des
hermeneutischen Zirkels
auf der Seite des Lesers. Und gerade "die Dialektik von Frage und Antwort ist
stets die Grundfigur des hermeneutischen Prozesses" (Reichert
1995, S. 221)
Dabei verschiebt sich
mit jeder Antwort auf eine an den Text gerichtete Frage und von diesem
beantwortete Frage der vom Leser eingenommene Fragehorizont. In diesem
Vorgang entwickeln sich immer wieder neue Fragen, die in einem weiter fortschreitenden
und prinzipiell niemals abgeschlossenen Prozess gestellt und beantwortet
und auch auf ihre Konsistenz überprüft werden.
Die
erkenntnistheoretischen Grundlagen der Denkfigur des fragenden
Verstehens Mit einem Auszug aus Hans-Georg Gadamers Werk "Wahrheit und Methode" (1962)
zeigt
Reichert die erkenntnismethodischen Grundlagen des fragenden Verstehens auf.
"Dass ein überlieferter Text Gegenstand der Auslegung wird, heißt
bereits, dass er eine Frage an den Interpreten stellt. Auslegung enthält
insofern stets den Wesensbezug auf die Frage, die einem gestellt ist.
Einen Text verstehen, heißt diese Frage verstehen. Das aber geschieht
(...) dadurch, dass man den hermeneutischen Horizont gewinnt. Diesen
erkennen wir jetzt als den Fragehorizont, innerhalb dessen sich die
Sinnrichtung eines Textes bestimmt. - Wer verstehen will, muss also
fragend hinter das Gesagte zurückgehen. Er muss es als Antwort von einer
Frage her aus verstehen, auf die es die Antwort ist. So hinter das Gesagte
zurückgegangen, hat man aber notwendig über das Gesagte
hinausgefragt. Man versteht den Text ja nur in seinem
Sinn, indem man den Fragehorizont gewinnt, der als solcher
notwendigerweise auch andere mögliche Antworten umfasst. Insofern ist
der Sinne eines Satzes relativ auf die Frage, für die er eine Antwort
ist, d.h. aber, er geht notwendigerweise über das in ihm selbst Gesagte
hinaus. (S.351 f., zit. n.
Reichert
1995, S.224)"
Die Grundregel
hermeneutischen Verstehens
Die Hermeneutik geht zunächst einmal von der Grundregel aus,
dass das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen heraus
verstanden werden muss.
Die Methode Ausgehen vom Ganzen, danach Untersuchung der Teile in ihrer Funktion für das
Ganze und erneut Rückkehr zum Ganzen wird als ▪
hermeneutischer
Zirkel bezeichnet.
Dieses zirkuläre Wieder-Zurückkehren zum
Ausgangspunkt des Verstehens kann allerdings den im Prozess des Verstehens
gewonnenen Verstehenszuwachs nicht ohne weiteres abbilden (s.
hermeneutische Spirale).
Die Grundregel kann für das Verstehen im Allgemeinen, insbesondere aber für
das ▪ Verstehen von Texten,
genutzt werden, muss aber, soll sie heute noch anwendbar sein,
um ▪ kognitionspsychologische Aspekte erweitert werden.
Wer einen Text liest, geht zunächst einmal mit dem
Horizont seines eigenen Wissens und seiner Erfahrungen, auch
Lektüreerfahrungen, an den Text heran. Dieser stellt eine wesentliche
Grundlage bei der ▪
kognitiven
Verarbeitung der Textinformationen dar.
Bei der werkimmanenten Interpretation sollen diese mentalen
Prozesse durch die Einnahme einer
Haltung des fragenden Verstehens
zumindest zum Teil bewusst gemacht, in jedem Fall aber genutzt
werden, um zu einem vertieften Textverständnis zu gelangen.
Auch
wenn die Hermeneutik dies kognitionstheoretisch und
-psychologisch noch nicht so begründet hat, handelt es sich
dabei doch um einen konstruktiven Prozess, der sich im Rahmen
von Wechselwirkungen bei der Text-Leser-Interaktion vollzieht.
Die Vorstellung, dass es gelingen könne, eine
▪ Horizontverschmelzung
im Sinne von ▪
Gadamers
philosophischer Hermeneutik
zwischen dem Horizont des Autors und dem des Lesers
erreichen, ist und war zwar lange eine besonders liebgewonnene
Zielperspektive der Hermeneutik, lässt sich aber heute in dieser
Form nicht mehr halten.
Hermeneutische Spirale
Auch der Begriff und die Vorstellung einer Zirkelbewegung bei der Entwicklung
eines Verstehensprozesses trifft heutzutage allerdings nicht mehr auf ungeteilte
Zustimmung.
So spricht sich
Jürgen Bolten (1985) für den Begriff der hermeneutischen Spirale aus. Weil
nämlich der Verstehensprozess zu einem fortlaufenden Verstehenszuwachs führe,
werde das Vorverständnis bzw. der jeweils erreichte Vorgriff auf das Ganze des
Textes fortwährend durch ein immer genauer und tiefer gehendes Verstehen ersetzt
und verbessert. Dies entspricht auch eher den ▪
Wechselwirkungen zwischen textgeleiteten und leserseitigen, auf-
und absteigenden kognitiven Verarbeitungsprozessen im
Gehirn.
Für Bolten ergibt sich daraus die
Forderung nach einem
integrativen Verstehen, das verschiedene Deutungsansätze philologischer,
literarischer oder wirkungsgeschichtlicher Art in einer hermeneutischen
Spiralbewegung aufnimmt.
"Einen Text verstehen heißt demzufolge, Merkmale der 'Textstruktur' bzw. des
'-inhaltes' und der 'Textproduktion' unter Einbeziehung der 'Text-' und
'Rezeptionsgeschichte' sowie der Reflexion des eigenen
'Interpretationsstandpunktes' im Sinne eines wechselseitigen
Begründungsverhältnisses zu begreifen. Dass es dabei weder 'falsche' noch
'richtige', sondern allenfalls mehr oder minder angemessene Interpretationen
geben kann, folgt aus der [...] Geschichtlichkeit der Verstehenskonstituenten
und der damit zusammenhängenden Unabschließbarkeit der hermeneutischen Spirale.
[...] Der Spiralbewegung entsprechend, unterliegt die Interpretation
hinsichtlich ihrer Hypothesenbildung diesbezüglich einem Mechanismus der
Selbstkorrektur. " (Bolten
1985, S.362f.)
Die Tatsache
aber, dass - hermeneutisch gesprochen - beim Textverstehen
auf der Basis des hermeneutischen Zirkels sukzessiv die "Vorurteile"
bzw. wirkmächtigen vorstrukturierenden und präformierenden
Denkstrukturen, die sich aus der "Tradition" ergeben, in einem
als Interaktion zwischen Text und Leser begriffenen, tendenziell
nicht abschließbaren Verstehensprozess einer Überprüfung und
Revision unterworfen werden, macht den hermeneutischen Zirkel
nicht nur als Denkfigur, sondern auch in der Praxis der
Interpretation weiterhin aktuelle. , auch wenn er sicher
zu modifizieren ist, auch heute durchaus noch aktuell. Das gilt
auch unter Heranziehung kognitionspychologischer Erkenntnisse,
die das Prinzip, dass vor allem bei komplexen Texten schon
getroffene Annahmen über die Bedeutung bestimmter Textstellen
beim Lesen, der ▪
Inferenzbildung auf lokaler Textebene, stets mit dem
globalen
Situationsmodell abzugleichen sind, durchaus in Einklang zu
bringen ist. Hermeneutische Verfahren können so mit ihrer
besonderen dialogischen Form der Text-Leser-Interaktion eine
"textnahe Sinnkonstruktion" entstehen entwickeln (Graf
2015
S.191)
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Lesen und Textverstehen
(CI-Modell)
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023
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