Bei der Anwendung des ▪ hermeneutischen Zirkels,
der auf der "wechselseitige(n) Beeinflussung von textseitigem Bedeutungsangebot
und leserseitiger Bedeutungserwartung" (Graf
2015, S.191 beruht, bei der Interpretation, wird das
deklarative Wissen
des Lesers, aber auch affektive Komponenten, vor allem bei der ersten Lektüre eines Textes
in den fortschreitenden Verstehensprozess einbezogen.
Dabei wird davon ausgegangen, dass sich nach dem erstmaligen
Lesen (Primärrezeption des Textes)
eines Textes ein erstes
Vorverständnis
gebildet hat, das sich kognitionspsychologisch als Erfassung der
▪
Textbasis mit ihren ▪
Mikro- und ▪
Makropositionen verstehen und beschreiben lässt. Um eine
erste Bedeutungskonstruktion vornehmen zu können, wird diese
Textbasis schon nach der ersten Lektüre mit dem von den
sprachlichen Strukturen weitgehend lösgelösten Vor- und
Weltwissen des Lesers zu einem mentalen Modell des Textes
verarbeitet, das als ▪
Situationsmodelll bezeichnet wird. Es
basiert auf
Inferenzen, die auf der Textbasis gebildet werden und
Inferenzen, die über diese Textbasis als Verknüpfungen mit dem
leserseitigen Wissen gebildet werden. Das Situationsmodell
reichert dabei das Verständnis des Textes auf der lokalen
Textebene (= propositionale Repräsentation des Textes),
welches die Bildung eines Situationsmodells überhaupt erst
aktiviert, nicht nur an, sondern verfeinert und modifiziert dieses
auch. (vgl.
Christmann
2015, S.177) Dabei stellt dieses bei der ersten Lektüre entstandene,
vielleicht in vielem noch recht unscharfe, aber sich doch in der
Regel auf die Anwendung bestimmter kognitiver Schemata stützende
mentale Modell unter hermeneutischer Perspektive das
Vorverständnis dar.
Dass das Lesen also bewusste oder unbewusste Spuren im Denken
und Fühlen eines Lesers eines Lesers
hinterlassen
hat, macht sich die hermeneutische Methode dadurch zu eigen,
dass sie darauf aufbauend und in vielfältiger Weise daran
anknüpfend, einen Weg aufzeigen will, wie man zu einem
vertiefteren Textverständnis gelangen kann. Dazu ist es
notwendig, man die mentalen und affektiven Repräsentationen oder
das mentale Modell als Ganzes, das die Primärrezeption erzeugt
hat, wahrnimmt und sich bewusst macht und sie quasi als
Erinnerungsstütze für den weiteren Verstehensprozess als
sogenannte ▪
Erstleseeindrücke
festhält. In diesem Prozess bildet sich das aus, was man
hermeneutisch das erste Textverständnis nennen kann.
Wie es im Einzelnen ausfällt, hängt von vielen textseitigen
Faktoren und leserseitigen Faktoren ab. Von der Textseite her
gesehen kommen dabei Aspekte in Betracht wie die
Textart oder
Textsorte, sein
Genre oder seine
literarische Gattung, seine Schwierigkeit
(besser gesagt
Verständlichkeit), sein
Thema und seine Art,
wie er dieses
entfaltet, seine Inhalte und wie
sie strukturiert sind und seine
▪
Verständlichkeit,
die unter
kommunikationspsychologischer Perspektive
abhängig ist von seiner ▪
Einfachheit, seiner ▪
Gliederung
und
Ordnung, seiner ▪
Kürze
und
Prägnanz, sowie seinem
Anregungsgehalt (▪
zusätzliche Stimulanz, ▪
motivationale
Stimulanz). Leserseitig ist das
Vorwissen (z. B.
deklaratives und
prozedurales
Wissen
unterschiedlichster Art ,
Weltwissen,
Fachwissen,
Sprachwissen
und
thematisches Wissen) von entscheidender Bedeutung. Erst diese
verbindet den mit
elaborativen Inferenzen auf der lokalen Textebene konstruierten
Textsinn explizit mit den abrufbaren Gedächtnisinhalten und liefert
dabei
Erklärungen, Verallgemeinerungen,
Hypothesen, Erwartungen und Assoziationen für
Gelesene, die
eindeutig über das im Text Enthaltene hinausgehen.
Hinzukommt noch dass die Inferenzbildung auch davon abhängt, wie
wie schnell ein Text gelesen wird (schnelles Lesen ist nicht
gerade inferenzfördernd!). Es kommt also immer auch auf die ▪
Lese- und
Rezeptionsstrategien an, wie das Vorverständnis und das
erste Textverständnis ausfällt.
Auf solche
kognitionspsychologischen und hermeneutischen Überlegungen
gründet sich im Übrigen auch das literaturdidaktische Postulat
von der die "Unverzichtbarkeit hermeneutischer Textzugänge im
Literaturunterricht" (Kammler
2005, S.189) Denn, wie Kammler betont, geht es "gerade in der Phase der
ersten Wahrnehmung eines literarischen Textes (...) darum, den Schülern die
Möglichkeit zu geben, sich selbst mit ihren eigenen Assoziationen und Eindrücken
einzubringen, um sich gleichzeitig auf den Text als potentiellen Vermittler von
Wahrheiten einzulassen."
Dass (erste) Textverständnis erweitert das Vorverständnis und
erweitert damit
auch den Horizont des Vorverständnisses (V1).
Dies darf man
aber nicht so verstehen, dass damit einfach zu dem bisherigen Vorverständnis
etwas hinzuaddiert wird. In Wahrheit entsteht dabei nämlich etwas Neues, weil
die vorläufigen Sinndeutungen neu konstruiert werden. Von diesem neuen
Vorverständnis (V2) ergibt sich aus der damit verbundenen
Verschiebung des Fragehorizonts bei der weiteren
Auseinandersetzung mit dem Text ein (erweitertes, korrigiertes) neues
Textverständnis (T1).
Wird dieser Prozess weiter fortgeführt,
findet ein fortlaufender Erkenntnisfortschritt statt, der prinzipiell
unabgeschlossen ist.
Die "Vermutungen", mit denen wir von unserem
jeweiligen Vorverständnis ausgehend über den Text anstellen, setzen uns quasi
die Brille auf, durch die hindurch wir einen Text zunächst einmal sehen.
In Form einer ▪
Zirkelbewegung
oder
▪
Spiralbewegung, die immer wieder zur Vertiefung, Erweiterung und
Neukonstruktion dieses ersten Textverständnisses zurückführt, entwickelt sich das
Textverständnis immer weiter.