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Themabereich: Lesen »
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Lese- und Rezeptionsstrategien
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Lesen und Textverstehen
(CI-Modell)
Der ▪
hermeneutische Zirkel, der
sich "in einer immer wieder erneut wiederholten
Rückkoppelungsschleife zwischen dem Verstehen von Textteilen und
Textganzem, zwischen Erwartungen an den Text bzw. Veränderungen
dieser Erwartungen durch den Text" (Christmann/Groeben
1999/2001, S.147) vollzieht, ist ein typisches Beispiel
dafür, wie Informationen aus einem literarischen Text kognitiv
verarbeitet werden und wie ein Leser bzw. eine Leserin in diesem
Prozess ▪
Sinn konstruiert.
Der Leser spielt
dabei eine überaus aktive Rolle und bringt sein Vorwissen (z. B.
Weltwissen, Fachwissen,
Sprachwissen,
Textmusterwissen,
Textstrukturwissen), seine Leseerfahrungen und andere
Faktoren damit ein, die in der Terminologie der Hermeneutik als
Horizont
des Lesers bezeichnet werden.
Die
Textinformationen werden nämlich bei der Verarbeitung der ▪
visuellen Wahrnehmung von Buchstaben, Wörtern, Sätzen oder
Texten in einer spezifischen Text-Leser-Interaktion verarbeitet,
die auf Wechselwirkungen " "zwischen den Merkmalen des
vorgegeben Textes (z. B. Syntax, Struktur, Inhalte,
Verständlichkeit, Anregungsgehalt) und der Kognitionsstruktur
des Rezipienten (z. B. Vorwissen, Erwartungen, Zielsetzungen und
Interessen" beruhen (Christmann
2015, S.170, vgl.
Christmann/Groeben 1999/2001, S.146).
Dabei erfolgt
die neuronale und kognitive Verarbeitung immer als ein
verschränkter Prozess "von textgeleiteten, 'aufsteigenden' Prozessen (bottom
up: von der Textinformation zum rezipierten Wissen) und andererseits
konzept- bzw. erwartungsgeleiteten, 'absteigenden' Prozessen (top down:
vom Vorwissen zum konkreten Textverständnis)"
(Christmann/Groeben 1999/2001, S.146).
Die Annahme
einer
prinzipiellen kognitiven Konstruktivität des Textverstehens
bei der Verarbeitung von literarischen Texten, die sich eher mit
der Vorstellung einer
Spiralbewegung als der einer Zirkelbewegung verbinden lässt,
kann dabei die Besonderheiten bei der Rezeption und Verarbeitung
literarischer (fiktionaler) Texte dennoch berücksichtigen.
Im Unterschied
zur Erschließung
pragmatischer Texte (auch:
Sachtexte,
Gebrauchstexte,
expositorische Texte,
nichtfiktionale Texte)
verlangen die im Gegensatz zu diesen vieldeutigen und
vielgestaltigen literarischen Texte einen weitaus höheren
"Konstruktionsaufwand" des Lesers beim Textverstehen. Neben der
prinzipiellen Vieldeutigkeit hat dies auch damit zu tun, dass
die ▪
Textbasis aufgrund meist fehlender oder nur spärlich
gesetzter ▪
Makropropositionen wie z. B. Überschriften,
Zwischenüberschriften, Zusammenfassungen und Ähnliches mehr eine
höhere Eigenaktivität verlangt, um einen sinnvollen oder
plausiblen Zusammenhang (Kohärenz)
der Textelemente herzustellen. (vgl.
(Christmann/Groeben 1999/2001, S.147, vgl.
Christmann
2015, S.171).
Insgesamt ist
bei literarischen Texten "der Leserfaktor in Form von
Rezeptionseinstellungen des Lesers (Erfahrungshintergrund,
Wünsche, Ziele und Werthaltungen), aber auch (...) Faktoren wie
Genrewissen, Unsicherheitstoleranz, sprachliche Sensibilität und
Genussfähigkeit" (Christmann
2015, S.171) also stärker zu berücksichtigen.