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Themabereich: Lesen »
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Lese- und Rezeptionsstrategien
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Lesen und Textverstehen
(CI-Modell)
▪
Hermeneutischer Zirkel
▪
Überblick
▪
Vom Vorverständnis
ausgehen
▪ Horizontverschmelzung als Idealziel
▪
Kognitionspsychologie
und hermeneutischer Zirkel
▪ Einen literarischen Text untersuchend erschließen
Um einen Text zu verstehen, muss man mit dem Text möglichst nahe
interagieren.
In dem Moment, in dem wir einen Text wahrnehmen, steht es uns
frei, in weitere Interaktionen mit ihm zu treten. Vielleicht
können wir im ersten Moment noch keine textlichen Strukturen
wahrnehmen oder lesen, sehen nur einen Kiosk vor uns, wo
Zeitungen und Zeitschriften ausliegen oder wandeln durch eine
Buchhandlung oder eine Bücherei. Sobald wir aber einen Text
lesen, beginnen wir, mit ihm zu interagieren.
Da springt einem vielleicht die Schlagzeile einer Zeitung ins
Auge oder man liest einen Buchtitel. Kann sein, dass wir dann
nicht weiter Notiz davon nehmen, weil das, was wir gelesen
haben, uns nicht weiter interessiert und keine weiteren Gedanken
oder Gefühle auslöst. Möglich aber auch, dass der Text unsere
kognitive und emotionale Aufmerksamkeit geweckt, erregt und
aufrechterhält, so dass wir uns dafür entscheiden, mit dem Lesen
des entsprechenden Texts zu beginnen.
Mit dem Lesen vertieft sich unsere Interaktion mit dem Text.
Wenn der Text und die Umstände, unter denen wir lesen, uns
interessiert, werden wir unseren Leseprozess aufrechterhalten
und dabei in einen komplexen Interaktionsprozess mit dem Text
eintreten, während dem zahlreiche ▪
kognitive
und emotionale Prozesse ablaufen. Die Vorgänge beim
Textverstehen brauchen dabei nicht bewusst gesteuert werden,
denn wir greifen dabei auf ▪
Schemata,
die wir erworben und im ▪
Gedächtnis gespeichert haben, zurück, mit denen wir an Texte
herangehen und versuchen, uns einen Reim auf sie zu machen.
Die bewusste Steuerung des Verstehensprozess in einer
Zirkelbewegung
Im schulischen Kontext des Deutsch- und Literaturunterrichts
geht es u. a. auch um den Erwerb solcher Schemata im
Rahmen eines an Kompetenzen ausgerichteten Unterrichts.
Hier
sollen Schülerinnen und Schüler vielfältige Erfahrungen mit
Texten machen, in spontane und methodengestützte Interaktionen
mit Texten treten und sich über Texte, deren Inhalte, Themen,
Wirkungen, Absichten u. ä. m. in rationalen Diskurs austauschen.
Eine der Methoden, die dabei helfen soll, ist die sogenannte ▪
Werkinterpretation, die auf der sogenannten werkimmanenten
Methode beruht. Im Literaturunterricht sind ihre dafür
didaktisch modellierten Prinzipien die bis heute wichtigsten
Verfahren, mit denen literarische ▪
Texte erschlossen und verstanden werden sollen sowie im
Anschluss daran über sie kommuniziert werden soll.
Ihre
grundlegende Denkfigur, die man ▪
fragendes Verstehen nennt, gilt gemeinhin als Basis des auf
zahlreichen einzelnen Methoden beruhenden ▪
Konzepts des untersuchenden
Erschließens literarischer Texte.
Das fragende Verstehen ist eine Art
"Frage-Antwort-Pingpong-Spiel" zwischen Text und Leser*in, die
Fragen an den Text stellen, diese vom Text bzw. mit Hilfe des
Textes beantworten, um dann auf dieser Grundlage wieder eine
neue Frage an den Text zu stellen. Dabei wird das, was man über
den Text weiß, Frage um Frage, Antwort auf Antwort in einem
grundsätzlich eigentlich nie wirklich abgeschlossenen Prozess,
immer mehr und erweitertet damit den Horizont von Leser*innen,
also etwas vereinfacht gesagt das, was sie beim Verstehen des
Textes einbringen können und "wie tief" sie dabei vordringen.
Dabei kann das, was man zu einem Text "meint", immer am Text
auch überprüft werden.
Dabei verschiebt sich
mit jeder Antwort auf eine an den Text gerichtete Frage und von diesem
beantwortete Frage der vom Leser eingenommene Fragehorizont. In diesem
Vorgang entwickeln sich immer wieder neue Fragen, die in einem weiter fortschreitenden
und prinzipiell niemals abgeschlossenen Prozess gestellt und beantwortet
und auch auf ihre Konsistenz überprüft werden.
Fragen an den Text und die Antworten, die er gibt, vollziehen
also eine fortlaufende gedankliche Zirkelbewegung, für die die
Fachwissenschaft den Begriff des ▪
hermeneutischen Zirkels (gr. hermeneuein = deuten,
interpretieren; kirkos = Kreis) verwendet.
Ausgangspunkt ist das Ganze des Textes, dann geht es zu den
Teilen
Die
Zirkelbewegung geht zunächst einmal vom Ganzen aus, d. h. ihr
Startpunkt ist das, was, salopp gesagt, nach der ersten Lektüre
eines Textes "hängengeblieben" ist. Was wir nach
dem
ersten Lesen eines Textes über ihn denken oder auch welche
Gefühle er bei uns ausgelöst hat, ist der Eindruck, der aus dem
Textganzen entstanden ist. ▪
Erstleseeindrücke,
die vom Textganzen ausgehen, müssen weder besonders tiefgreifend
oder gar "druckreif" sein.
Was sich nach dem
ersten Lesen eines Textes als sogenanntes Vorverständnis des Textes
entwickelt hat, ist schließlich eine psychische Realität, ist genauso
wie es eben ist. Es gibt also keinen Maßstab, mit dem jemand von außen,
bewerten könnte, ob das Vorverständnis etwas "taugt" oder nicht.
Entscheidend für das
weitere Vorgehen ist aber, dass man nicht beim Vorverständnis des Textes
stehen bleibt, sondern sich auf eine ergebnisoffene Interaktion mit dem
Text in der Zirkelbewegung von Frage und Antwort einlässt. Ohne die
volitionale
Bereitschaft dazu, kann sich auch keine
Motivation aufbauen,
die im Zuge des sich auf diese Weise mehr und mehr vertiefenden
Textverstehens entwickeln kann.
Was bei der privaten
Lektüre das Recht jedes Lesers bzw. jeder Leserin ist, einen Text, weil
man ihn schlicht "doof" findet, wenn dem nicht bestimmte
Informationsbedürfnisse entgegenstehen, einfach links liegen zu lassen,
oder in einem solchen Fall die Lektüre einfach abzubrechen, hat im
Literaturunterricht keinen Platz. Hier "muss" man ran, darf man.
ohne
dafür irgendwie "abgestraft" zu werden, nicht einfach die Flinte ins
Korn werfen, sondern muss sich der Arbeit mit dem Text und dem Nachweis
stellen, dass man und wie man versucht hat, zu einem vertieften
Textverständnis gelangt ist. Nicht dass man am Ende nicht daran
festhalten dürfte, dass ein Text "doof" ist, es kommt darauf an, in
einem rational nachvollziehbaren und auf den Text bezogenen Verfahren zu
zeigen, warum dieses (Geschmacks-)Urteil zutrifft, wie es zustande
kommt. Dabei darf man sich auch nicht scheuen, die eigenen
Voraussetzungen (Erfahrungen, Einstellungen, Vorwissen u. ä.) zu
reflektieren, unter denen ein solches Urteil zustande kommt.
Dass die Arbeit an
einem Text sich über dieses fragende Verstehen durch eine komplexe ▪ kognitive
Verarbeitung der Textinformationen vollzieht, ist zu einem
umfassenden Verständnis der Vorgänge allerdings unabdingbar. Ohne
Berücksichtigung der ▪
Wechselwirkungen zwischen textgeleiteten und leserseitigen, auf-
und absteigenden kognitiven Verarbeitungsprozessen lassen
sich die Vorgänge, die sich dabei im
Gehirn abspielen, nicht wirklich verstehen.
Diese Einschränkung
bedeutet hingegen nicht, dass die werkimmanente Methode mit ihrer
Zirkelbewegung fragenden Verstehens keine sinnvolle Strategie darstellt,
mit der Schülerinnen und Schüler zu einem vertieften Textverständnis
gelangen können.
Erschließungsverfahren
wie das ▪ untersuchende Erschließen
literarischer Texte haben dabei schon lange die textimmanente
Betrachtung eines literarischen Werkes hinter sich gelassen und die ▪
textbegleitende Interpretation dadurch ▪
kontextualisiert, dass sie mit Transferaufgaben zu Zeithintergrund,
Autorbiografie, literaturgeschichtlicher Einordnung,
Entstehungsgeschichte sowie zur literarischen Wertung auch
Grundlagen– und Orientierungswissens für das literarische Verstehen
einbezieht, das über die rein ästhetische Qualität des Werkes
hinausgeht.
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Themabereich: Lesen »
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Lese- und Rezeptionsstrategien
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Lesen und Textverstehen
(CI-Modell)
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Hermeneutischer Zirkel
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Vom Vorverständnis
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▪ Horizontverschmelzung als Idealziel
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Kognitionspsychologie
und hermeneutischer Zirkel
▪ Einen literarischen Text untersuchend erschließen
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
28.06.2024
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