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Zur
Interpretation
des 10. Kapitels von
Bernhard Schlinks Roman »Der
Vorleser« könnte die folgende
mehrteilige Arbeitsanweisung gestellt
werden:
Was ist bei diesen Arbeitsanweisungen verlangt?
Ganz allgemein gilt: Eine mehrteilige Arbeitsanweisung ist stets nur ein
Hinweis auf die Gesichtspunkte, die bei der Interpretation in jedem Fall
behandelt werden müssen. Zugleich stellt sie meistens eine Art
"Fahrplan" dar, nach der eine Interpretation aufgebaut sein sollte.
Die meistens durchnummerierte Form der Arbeitsanweisung darf aber nicht so
aufgefasst werden, als handle es sich dabei um einzelne Aufgaben, die wie
in einer Klassenarbeit, z. B. in Biologie, nacheinander "abgehakt" werden
können. Alle Teile zusammen geben das Ganze des Interpretationsaufsatzes,
der ein zusammenhängendes Textganzes darstellt.
Die Nummern der einzelnen Arbeitsanweisungen haben daher in der
schriftlichen Ausarbeitung des Interpretationsaufsatzes nichts zu suchen!
Wer dem "Fahrplan" der mehrteiligen Arbeitsanweisung folgt, sollte dabei
zwischen den einzelnen Teilen des Aufsatzes Absätze einfügen. Wer kann,
fügt eine Überleitung hinzu, ansonsten kann der Übergang aber auch ohne
sie erfolgen.
Grundsätzlich kann sich der Aufbau des Interpretationsaufsatzes auch am
allgemeinen Gliederungsschema
orientieren, wobei freilich die jeweiligen Vorgaben in der mehrteiligen
Arbeitsanweisung zu berücksichtigen sind. (vgl.
Wie
baut man einen Interpretationsaufsatz auf?)
ad 1)
Ordnen Sie das Kapitel in das Geschehen des 1. Teils des Romans ein.

Grundsätzlich geht es bei dieser Aufgabe darum, die zu analysierende
und zu interpretierende Textstelle in ihren inhaltlichen und strukturellen
Bezügen zum Gesamttext zu betrachten. (vgl.
FAQ: Wie ordnet man eine Textstelle ein?) Im vorliegenden Fall des
10. Kapitels des "Vorlesers" bedeutet dies:
-
Das Wesentliche der Handlung vor und nach dem Geschehen im 10.
Kapitel wiederzugeben.
-
Handlungselemente zu erfassen und wiederzugeben, die für das
Geschehen im 10. Kapitel bzw. dessen Verständnis besonders wichtig sind.
-
Wesentliche und auf das Geschehen im 10. Kapitel fokussierte
Handlungselemente nach diesem Kapitel zu erfassen und wiederzugeben.
Wie geht man vor? Zunächst einmal muss man natürlich erfassen,
worum es im 10. Kapitel des Romans geht. Dies lässt sich u. a. durch die
Beantwortung der folgenden Fragen klären:
-
Was ereignet sich am ersten
Tag der Osterferien während der Straßenbahnfahrt nach Schwetzingen?
-
Warum unternimmt Michael die
Fahrt?
-
Wie erlebt Michael die
Tatsache, dass er von Hanna während der Fahrt ignoriert wird?
-
Wie verläuft die Begegnung
von Michael und Hanna am Mittag des gleichen Tages?
-
Was beabsichtigt Michael in
diesem Gespräch mit Hanna?
-
Wie geht Hanna mit Michael in
diesem Gespräch um?
-
Wie endet das Gespräch bzw.
die Auseinandersetzung?
-
Welchen Stellenwert hat diese
"Geschichte" im Verlauf der Beziehung zwischen Hanna und Michael bis zu
diesem Zeitpunkt?
-
Welche Bedeutung hat sie für
die weitere Entwicklung der Beziehung zwischen den beiden?
-
Welche Bedeutung hat Michaels
Verhalten für seine spätere Entwicklung?
Als kurz gefasste Antwort auf diese Fragen lässt sich festhalten:
Die Auseinandersetzung, die zwischen Hanna und Michael wegen der
Geschehnisse während der frühmorgendlichen Straßenbahnfahrt nach
Schwetzingen zu Beginn der Osterferien stattfindet, stellt den ersten
ernsthaften Streit der beiden dar, wenn man von der Auseinandersetzung
um das Schulschwänzen Michaels (Teil I, 8. Kap., S.36) absieht. Michael
sieht sich in seinen Motiven missverstanden und von Hanna zu Unrecht
verletzt und gedemütigt. Er ist auf dem Heimweg von seinen Gefühlen so
überwältigt, dass er länger weint. Als er Hanna gegen Mittag zu Hause zur
Rede stellen will, dreht Hanna den Spieß um. Sie macht Michael nun
ihrerseits die heftigsten Vorwürfe. Zugleich droht sie ihm mit
Liebesentzug und fordert ihn mit klaren Gesten auf zu gehen. Sie tut dies,
obgleich Michael völlig verunsichert beginnt, den Fehler allein bei sich
zu suchen, und sich entschuldigt. Eigentlich entschlossen, für immer zu
gehen, verlässt Michael Hanna, kehrt aber nach einer halben Stunde wieder
zurück und nimmt alle Schuld auf sich. Mit dem Ritual ihres sexuellen
Zusammenseins gewährt ihm Hanna, ohne dass offenbar weitere Worte nötig
sind, ihre Verzeihung. Sie beantwortet Michaels verunsicherte Frage
danach, ob sie ihn liebe, sogar mit einem gestischen Ja. Dem erzählenden
Ich des reifen Michael Berg erscheint freilich das, was sich an diesem Tag
ereignet hat, besonders wichtig. Es erkennt, dass es sich an diesem Tag um
eine strategische Niederlage in einem von Hanna unter Umständen bewusst
inszenierten Machtspiel gehandelt hat: Von diesem Tag an, so urteilt
Michael Berg im Nachhinein, habe er Hanna gegenüber stets bedingungslos
kapituliert. Sein Versuch, mit Hanna schriftlich in Form zweier Briefe
darüber ins Gespräch zu kommen, scheitert: Hanna ist schließlich
Analphabetin.
Die zentralen Themen des Kapitels sind unter diesem Blickwinkel die
Entwicklung der Beziehung von Hanna und Michael und die Entstehung
und Bedeutung von Schuldgefühlen Michaels.
Hat man so erfasst, worum es in der Textstelle geht, muss man sich an
die Einordnung des Geschehens in den Gesamtverlauf der Handlung machen.
Das bedeutet zunächst einmal, den Inhalt des Romans zu überblicken und
zusammenzufassen. Dabei soll aber der Inhalt des Romans keineswegs
seitenlang ausgebreitet und jede Einzelheit erwähnt werden. Die
Gesamthandlung muss in ihren wesentlichen Zügen skizziert und jene
Gesichtspunkte daraus besonders hervorgehoben werden, die für das
Verständnis des Kapitels besonders wichtig sind. Die Leistung, die hier
erbracht werden soll, ist also nicht der Nachweis darüber, dass man den
Text bis zum Ende gründlich gelesen hat, sondern dass man unter einer
bestimmten Problemstellung - wie hier dem Geschehen im 10. Kapitel -
das Wesentliche aus dem Text "herauslesen" kann.
Dabei können z. B. die folgenden Fragen helfen:
-
Was ist vor dem 10. Kapitel geschehen?
-
Was sind die wichtigsten Geschehnisse?
-
Welche Geschehnisse usw. sind unter dem Blickwinkel dessen, was im
10. Kapitel passiert, besonders wichtig?
-
Was geschieht unmittelbar nach dem Geschehen des 10. Kapitels, was
im weiteren Verlauf des 1. Teils des Romans?
-
Welche der nachfolgenden Geschehnisse sind in einem besonders engen
Zusammenhang mit dem zu sehen, was sich im 10. Kapitel ereignet hat?
ad 2)
Fassen Sie den Inhalt des Kapitels in
Form einer kurzen Inhaltsangabe zusammen.
Ohne
Aussagekern wird dabei ein
kurz gehaltene
Inhaltsangabe des zu
analysierenden Kapitels verlangt. Dabei sollten Inhalt und Aufbau der
äußeren und inneren Handlung des Kapitels berücksichtigt werden. Äußere
Handlung bedeutet dabei das, was sich als Getanes oder Geschehenes von
außen betrachten lässt, innere Handlung das, was die Personen, hier
natürlich nur der Ich-Erzähler selbst, denken. Wenn sowohl der Inhalt, als
auch der Aufbau der inneren und äußeren Handlung dargestellt werden soll,
muss man die Handlung in Sinnabschnitte einteilen. Am besten stellt man
diese Beschreibung des Aufbaus an den Beginn, ehe man sich dann, noch
einmal darauf zurückgreifend, dem Inhalt des jeweiligen Sinnabschnittes
wieder zuwendet. ad 3)
Untersuchen Sie das Verhalten von Hanna und Michael in diesem Kapitel.
Arbeiten Sie dabei heraus, welche Ursachen der entstehende Konflikt hat
und wie die beiden Personen damit umgehen.
Bei diesem Arbeitsauftrag geht es zunächst darum, das Kapitel unter
einem systematischen Blickwinkel zu beschreiben und zu analysieren. Dies
erfolgt systematisch, getrennt für Hanna und Michael, und unter
klarem
Textbezug, der durch
sinngemäßes und
wörtliches Zitieren hergestellt wird. (vgl.
FAQ: Wie funktioniert das eigentlich mit einem korrekten Textbeleg?)
Bei der Analyse des Textes muss dabei besonderes Augenmerk auf die
Entstehung des Konflikts und den Umgang von Hanna und Michael damit
eingegangen werden. ad 4)
Zeigen Sie auch über die Kapitelgrenze hinweg auf, welche Bedeutung dem
Geschehen für die weitere Entwicklung der Beziehung von Hanna und Michael
zukommt.
Dieser Arbeitsauftrag der Arbeitsanweisung lenkt den Blickwinkel auf
den Stellenwert des im 10. Kapitel stattfindenden Geschehens für die
weitere Handlung. Auch an dieser Stelle wird ein systematischer Ansatz
verlangt, der bestimmte Gesichtspunkte der weiteren Handlung herausgreift,
die am Text belegt, den Blick auf die Gesamtinterpretation des Textes
richten. |
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