Zwei Formen des Erzählerberichts: Showing und telling
Um herauszuarbeiten, wie
mittelbar das Erzählte präsentiert wird, hat die Erzählforschung auf der
Grundlage verschiedener theoretischer Ansätze immer wieder Konzepte
entwickelt, die mit ihren jeweiligen Begriffsbildungen oft sehr
verschieden ausfallen. Dabei werden immer wieder Begriffspaare gebildet,
die "sich im Ansatz jeweils das gleiche Phänomen beziehen, nämlich einen
verschiedenen Grad der
Mittelbarkeit
oder – anders gewendet – an
mimetischer Illusion
im Rahmen der Erzählung." (Martínez/Scheffel
112019, S.52) In den Kategorien der
älteren
Erzähltheorie kann in diesem Zusammenhang von Erzählerbericht im
engeren und weiteren Sinne gesprochen werden. In der strukturalistischen
Erzähltheorie von »Gérard
Genette (1930-2018) (1972,
dt. 1994, 32010)
wird das Phänomen, ob beim Erzählen die Illusion einer unmittelbaren
Nähe des Erzählers zum Erzählten entsteht oder der Leser den Eindruck
gewinnt, er stelle das Ganze aus größerer Distanz dar, als Teil des
Modus beim
Erzählen mit der Kategorie der
Distanz erfasst.
In der angelsächsischen Erzählforschung
wird das Phänomen als Showing und Telling beschrieben (vgl.
Lubbock 1921,
Friedman
1955,
1975).
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Wiedergabe zeitlicher Vorgänge |
Wiedergabe zuständlicher Gegebenheiten
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Erzählerbericht i. e. S.
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Erzählerkommentar
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Zurücktreten des Erzählers und die Einschränkung des Wahrnehmungsfeldes
beim Erzählen
Jochen Vogt
(1990) weist unter Hinweis auf Stanzel auf die Besonderheiten
hin:
»Im Zusammenspiel der typisch "personalen"
Erzähltechniken - Stanzel nennt das "Zurücktreten des Erzählers
..., das Vorherrschen szenischer Gestaltung, des Dialogs, der erlebten
Rede und der Bewusstseinsspiegelung, und nicht zuletzt die Fixierung des
point
of view der Darstellung im Bewusstsein der Romangestalt" (S.
42f.) - wird die Forderung einer möglichst intensiven Illusion von
"Wirklichkeit" weitgehend erfüllt. Die angelsächsische
Erzähltheorie hat diese Forderung unter das Schlagwort showing (im
Gegensatz zu telling) gestellt. Der Verzicht auf
Erzählereinmischungen sowie die Fixierung eines Blickpunktes (oder
mehrerer Blickpunkte) im Figurenbewusstsein bewirkt für die Erzählung
grundsätzlich eine Einschränkung des Wahrmehmungsfeldes (und damit des
Erzählbaren) nach den Gesetzen subjektiv-psychologischer Perspektivik."
(Jochen Vogt
(1990), S.54)
Beispiel
Fricke/Zymner
(1993) haben in der
Ringparabel von
Gotthold Ephraim
Lessings (1729-1781) Drama
Nathan der Weise den
Wechsel von telling und showing und seine Funktion herausgearbeitet und
kommen zum Ergebnis:
"Nach einem kurzen Dialog-Einschub
zwischen
Nathan und
Saladin wird die Erzählung berichtend und raffend,
mit kurzen einmischenden Erzählerkommentaren ("Wie auch wahr!",
"Wie nicht minder wahr!") wieder aufgenommen. Der Richter ist
die erste Figur der Erzählung, der die
direkte Rede zugestanden
wird. Das dominante
telling der ersten Hälfte der Erzählung wird
somit abgelöst durch ein
neutral gestaltetes
showing.
Zuvor wird eine vorbereitende Motivation ihrer erzählerischen Gestaltung
szenisch präsentiert. Saladin sagt nämlich: Mich verlangt zu
hören, Was du den Richter sagen lässest. Sprich!" [...] Der
Wechsel von zeitraffendem Erzählerbericht zu
zeitdeckender direkter
Rede, der Wechsel im
Erzähltempo entspricht einem erzähl- und
gleichzeitig bühnentechnischen Kalkül. Der Zweck dieses Wechsels ist es
vor allem, sowohl den epischen als auch den dramatischen Fiktionsrahmen
punktuell zu durchbrechen. In der Richterrede kann Lessing nämlich seine
sentenzartigen Appelle unterbringen, Appelle, die weder durch die
Dramenfiktion noch durch die Erzählfiktion relativiert werden, weil sie
durch ihre Allgemeinheit die ästhetische Distanz zu Zuschauer und Leser
aufheben. »Es eifre ein jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen
freien Liebe nach!« (Verse
2041f.) - das ist so ein Appell, der als
doppeltes Rollensprechen, als direkte Rede des Richters in der
Erzählfiktion und als Ausruf Nathans im dramatischen
Haupttext
rampenüberschreitend Nathans früher geäußertem Wunsch entspricht: »Möcht
auch doch / Die ganze Welt uns hören.«." (Fricke/Zymner 1993, S.271f.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
02.06.2024
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