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Lesen und Verstehen von Texten

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Hermeneutische Modelle

Das ▪ Lesen und Verstehen von Texten beschäftigt die Menschen seit es schriftliche Texte gibt. Auch wenn wir heutzutage auch mündliche Äußerungen zu Texten zählen.

Über viele Jahrhunderte hinweg stand das Textverstehen, das wie das Lesen überhaupt bis ins 18. Jahrhundert hinein Sache von Experten war, im Zeichen der Hermeneutik, verstanden als eine literar.–philologische Kunstlehre der Textinterpretation als auch der philosophischen Theorie der Auslegung und des Verstehens überhaupt." (Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 32004, S.252)

Philologische Textkritik in der griechischen Antike

Schon ▪ in der griechischen Antike hatten in der noch immer von Mündlichkeit geprägten Kultur hermeneutische Verfahren der Textauslegung und Interpretation Konjunktur.

Ein Beispiel dafür ist »Aristarchos von Samothrake (um 216 - 144 v. Chr.), ein bekannter griechischer Philologe und Direktor der neben der »Bibliothek von Pergamon wohl noch bedeutenderen »Bibliothek von Alexandria. Als »Philologe beschäftigte er sich vor allem mit der Grammatik, der Literatur- und »Textkritik, welche vor allem untersuchte, welche Einflüsse die Überlieferung auf eine bestimmte Textgestalt genommen hat, um dann eine quasi kanonische Textfassung zu rekonstruieren. Dabei leitete Aristarch seine Prinzipien der Textkritik aus der Beschäftigung mit Texten »Homers her.

Lehre vom mehrfachen Schriftsinn im Mittelalter

In den "▪ Expertenkulturen" des Lesens (Bickenbach 2015, S.401) im Mittelalter, die das ▪ monastische,▪ studierende und ▪ scholastische Lesen praktizierten,  dominierte die auf »Augustinus (353-430), neben »Hieronymus (347-420), Ambrosius von Mailand (339-397) und Papst Gregor dem Großen (540-604) einer der vier lateinischen Kirchenväter der »Spätantike, zurückgehende ▪ Verstehenslehre vom mehrfachen Schriftsinn bei der mittelalterlichen Bibelauslegung (Bibelexegese). Darunter verstand man die Unterscheidung zwischen dem Sinn eines Textes, wie er an der Oberfläche der Buchstaben haftet und seiner eigentlich relevanten metaphorischen, allegorischen und/oder heilsgeschichtlichen Bedeutung.

Rhetorik und Poetik als Grundlagen und Bezugspunkte der Auslegung von Texten bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

Bis in das 18. Jahrhundert reichte denen, die sich professionell mit Lesen und der Auslegung von Texten befassten, das Wissen aus, das in der Poetik und Rhetorik überliefert und systematisch organisiert war und normative Verbindlichkeit bei der Auslegung von Texten beanspruchen konnte.

Wirklich ▪ neue Akzente, die das Lesen als eine Kulturtechnik auffasste, über die auch ein größeres Publikum verfügen sollte, setzte eigentlich erst das ▪ Zeitalter der Aufklärung, das mit dem Ende des 17. Jahrhundert einsetzte und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts datiert wird. In dieser Zeit ▪ veränderte sich die Lesekultur grundlegend. Zugleich führte das sich in dieser Zeit verändernde anthropologische, soziale, politische, ökonomische und psychologische Wissen über das menschliche Subjekt auch dazu, dass sich nicht nur der Umgang mit Texten grundlegend, sondern auch die Sujets der Literatur sich zusehends veränderten.

Das auf Grund der gesellschaftlichen und sozialen Wandlungsprozesse veränderte Autorbild und und die gänzlich anderen Vorstellungen vom künstlerischen Werk zogen auch einen Paradigmenwechsel im Umgang mit den neuen Lesestoffen nach sich, den man als "hermeneutische Wende" (Frank1986, S.120) bezeichnet hat. Sie entwickelt sich, historisch betrachtet, aus der "Sprengung eines bis dahin gültigen Sinnrahmens und die daraus resultierende Explosion des Wissens über den Menschen." (Bogdal 1996, S.148)

»Johann Martin Chladenius (1710-1759) mit »Georg Friedrich Meier (1718-1777) einer der maßgeblichen Theoretiker der aufklärerischen Hermeneutik geht es in seiner Hermeneutik "nicht um die Frage, wie man versteht, sondern wie man etwas richtig auslegt" (Szondi 1975, S. 29) Ihre "sachorientierte Hermeneutik" (ebd., S. 142) richtet sich gegen den »Sensualismus, für den Sinneswahrnehmungen im Gegensatz zum Rationalismus als wichtigste Erkenntnisquellen dienen. Für die aufklärerischen Hermeneutiker muss jemand, der einen Text richtig versteht, die Einsicht des jeweiligen Autors in der Sache nachvollziehen, was aber nicht bedeutet, dass der Autor selbst verstanden werden soll, sondern lediglich dessen Verständnis einer Sache oder eines Sachverhaltes. (vgl. Szondi 1975, S.142)

Die Grundlegung der Texthermeneutik im 18. Jahrhundert

Die eigentliche ▪ hermeneutische Wende leitet der der ▪ Romantik verbundene Philosoph »Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) ein. Sein Verdienst ist es wohl als einer der ersten überhaupt erkannt zu haben, d dass auch das wahrnehmende Subjekt Einfluss auf das Verstehen nimmt und der Verstehensprozess auch von seinen Entscheidungen abhängt. Dabei basiert seine Hermeneutik auf der neuartigen, aufklärerischen Sicht auf den Menschen und ihrer neuen Vorstellungen über den Autor und dass Werk, die in ihrer Anwendung auf die Texte, zu dessen "Tiefendimensionen" (Bogdal 1996, S.142) führt, "auf die hin Texte gelesen werden müssten, um adäquat verstanden zu werden." (ebd.) Seine  »"Kunstlehre des Verstehens" (Schleiermacher), versteht sich als "das geschichtliche und divinatorische (profetische) objektive und subjektive Nachkonstruieren der gegebenen Rede" (Schleiermacher 1977, S. 93, zit. n. Köppe/Winko (2013). 3.2.1 Die philologische Hermeneutik Schleiermachers).

Schleiermachers "Kunst des Verstehens" modelliert – auf eine griffige Formel gebracht – "Verstehen [...] als reproduktive Wiederholung der ursprüngl(ichen) Produktion aufgrund von Kongenialität." (Metzler Literaturlexion,21990, S.197). Im Kern versucht Schleiermacher, "sprachliche Äußerungen oder ihre Dokumente aus dem Textkontext und dem Lebenskontext so zu rekonstruieren, dass nicht nur intuitives, sondern intersubjektiv begründbares Wissen sein Verständnis belegt." (Rusterholz 1996, S. 113)  Dabei müssen zwei Auslegungsprozesse ineinandergreifen: Die ▪ "grammatische" und die ▪"psychologische Auslegung".

Die hermeneutische Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Wilhelm Dilthey im 19. Jahrhundert

Dem deutschen Philosophen »Wilhelm Dilthey (1833-1911) ging es vor allem um "eine philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften" (Schulte-Sasse/Werner 1977/91997, S.30), die sich mit ihren besonderen Erkenntnisweisen von denen der Naturwissenschaften abgrenzen sollte. Daher ist er bemüht, seine Texthermeneutik im "Zusammenhang von Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften" (Dilthey, zit. n. Baasner 1997/22006) zu begründen.

Die Naturwissenschaften, so seine Überzeugung, stelle Hypothesen über kausale Zusammenhänge auf, die verifziert oder falsifiziert werden können. Damit erkläre sie die Natur. Die Geisteswissenschaften zielten hingegen auf der Grundlage einer "verstehenden Psychologie" auf das Verstehen.

Seine Annahme, dass es jederzeit möglich ist, sich so in ein geistig-geschichtlicher Gebilde "hineinzuversetzen", dass dessen quasi objektiver Sinn sich der verstehenden bzw. erlebenden Anschauung erschließt, überwindet die hermeneutische Distanz oder Differenz zwischen dem Gegenstand des Verstehens und dem erkennenden Subjekt.

In seiner Texthermeneutik verzichtet er auf die Komponente der "grammatischen Auslegung" und reduziert das hermeneutische Verstehen auf die psychologische Interpretation, die von der Einbeziehung der Kontexte historischer, gesellschaftlicher oder politischer Art gänzlich absieht. Literatur ist für ihn "Ausdruck des Seelenlebens" (Dilthey 1906/1957, S.320, zit. n. ebd., S.195).

Die historische Bedingtheit allen Verstehens in der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamer im 20. Jahrhundert

Der deutsche Philosoph und Begründer der philosophischen Hermeneutik »Hans-Georg Gadamer (1900-2002), der einen Universalanspruch der Hermeneutik bei allen Versehensprozessen postuliert, setzt in seiner Texthermeneutik auf den "methodisch–reflexiven) Dialog zwischen Werk und Leser" ( Bogdal 1996, S.144).

Besonders wichtig ist seine klare Berücksichtigung der historischen Bedingtheit des hermeneutischen Verstehens. Wer literarische Werke verstehen will, muss danach die Bedeutung von Vorurteilen anerkennen, mit denen jeder Leser an das Verstehen herangeht. Diese (positiven) Vorurteile bestehen aus wirkmächtigen vorstrukturierenden und präformierenden Denkstrukturen, die sich als "Sinn- und Einheits- und Wahrheitserwartung des Lesers an den Text" (Kammler 2000, S.15) beschreiben lassen. Sie ergeben sich aus der "Tradition" bzw. dem "Überlieferungsgeschehen" (Gadamer 1960/31972, S.275, zit. n.  Bogdal 1996, S.145) und prägen damit die Horizonte des Autors und des Interpreten.

Gadamer setzt voraus, dass sämtliche Gegensätze, die sich aus der sogenannten hermeneutischen Differenz ergeben, der Tatsache nämlich, dass sich der Gegenwartshorizont des Interpreten und der historische Horizont des Interpreten unterscheiden, aufheben lassen. In einem von der Vernunft gesteuerten Prozess gelingt danach die "historisch adäqate Aneignung durch den jeweiligen Gegenwartshorizont." (Bogdal  2000, S.16).

Wer einen Text verstehen will, muss ihn, das ist eine seiner zentralen Thesen, "unter den Bedingungen seiner eigenen historischen Situation – d.h. in der ihm zur Verfügung stehenden Sprache und vor dem Hintergrund seiner eigenen Überzeugungen" (Köppe/Winko 2013. 3.2.2 Literaturwissenschaftliche Adaptionen der philosophischen Hermeneutik Gadamers) beschreiben und dabei zwischen dem Horizont des verstehenden Rezipienten und dem des den Text produzierenden Autors unterscheiden.

Gelingendes Verstehen nähert die beiden Horizonte von Autor und Rezipient in einer die historische Distanz reflexiv kontrollierten Art und Weise so einander an, dass es im ▪ Idealfall, wenn die historisch-zeitgenössischen Horizonte des Autors und der jeweils aktuelle des Lesers übereinstimmen zu einer "Horizontverschmelzung" (Gadamer 1990, S.312 zit. n. ebd.) kommt.

"Gelungen ist die Interpretation, wenn ein Interpret die rekonstruierte geschichtliche Überlieferung und die »Gegenwart seines eigenen Lebens« (Gadamer 1990, S. 346, zit. n. Köppe/Winko 2013. 3.2.2 Literaturwissenschaftliche Adaptionen der philosophischen Hermeneutik Gadamers) miteinander vermitteln kann.

Die kognitive Wende des Textverstehens

Die für unsere heutigen Vorstellungen vom Textverstehen wichtigsten Impulse, die einen maßgeblichen Anteil daran haben, dass die Hermeneutik in den Formen, wie sie über Jahrhunderte hinweg die Theorien über das Verstehen von Texten dominierte, an Bedeutung verloren hat, schließen an die Theorien, Modelle und Konzepte des »Konstruktivismus als »Erkenntnistheorie (»Radikaler Konstruktivismus, »Erlanger Konstruktivismus, »Interaktionistischer Konstruktivismus) und als »lernpsychologisches Konzept an. Die kognitive Wende hat seit den 1970er Jahren nicht nur unser Denken über das Denken revolutioniert, sondern hat auch in die Wissenschaften mannigfach Eingang gefunden.

Ihre Erkenntnisse werden dabei auch im Bereich im Bereich der ▪ textlinguistischen Konzepte zum Textverstehen mit ihren textlinguistischen Kohärenzmodellen immer wieder genutzt, um verschiedene ▪ Modelle linguistischer Textanalyse zu untermauern. Zugleich haben sie längst Eingang in die ▪ Literarwissenschaft bei der Textanalyse und Interpretation gefunden und beides hat eine nachhaltige Wirkung im Bereich der Fachdidaktik gehabt und damit den Deutsch- bzw. ▪ Literaturunterricht an den Schulen sehr stark beeinflusst.


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Die ▪ Kognitionspsychologie, die verschiedene »behavioristische Ansätze ersetzte, zielt dabei auf Gegenstandsbereiche, die vom Behaviorismus vernachlässigt werden, darunter jene Prozesse und Strukturen, die sich der unmittelbaren Beobachtung weitgehend entziehen und "üblicherweise mit dem Begriff »geistig« versehen werden. Dazu gehören neben dem Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Schlussfolgern und Problemlösen nicht zuletzt auch das Sprechen, Sprachverstehen und Lesen." (Christmann 2015b, S.22) Seitdem werden geistige und kognitive Prozesse, zu denen das Textverstehen gehört, "zumeist als Informationsverarbeitungsprozesse aufgefasst, die sich auf die Aufnahme, Bearbeitung, Speicherung, Aktivierung und Verwendung von Informationen beziehen." (ebd.) Dabei dürfte es als die Haupterrungenschaft der Kognitionspsychologie im Bereich des Verstehens von Texten sein, dass "Lesen heute nicht mehr wie zu Beginn des Jahrhunderts als primär visueller Wahrnehmungsprozess aufgefasst, sondern als Fähigkeit, visuelle Informationen aus graphischen Zeichenfolgen zu entnehmen und deren Bedeutung zu verstehen." (ebd.) Textverstehen ist heute jedenfalls in der Kognitionspsychologie, der Textlinguistik und zum Teil auch in der Literaturwissenschaft "als Informations- bzw. Textverarbeitung konzipiert, deren Resultat, abhängig von Wissen und Fähigkeiten (mentale Modelle, frames, scripts, Schemata, Begriffe; Schema und Schematheorie), die kreative Konstruktion subjektiv befriedigend kohärenter und emotional besetzter mentaler Repräsentationen wahrgenommener Gegenstände sein soll, auf deren Basis inhaltliche Inferenzen sowie Kondensationen oder Elaborationen aller Art möglich werden." (Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 32004, S.252)

Mit anderen, vereinfachten Worten reformuliert: Beim Lesen und Verstehen von Texten sind wir stets aktiv, bringen unser Wissen ein und versuchen, mit dem, was wir an Vorstellungen über bestimmte Arten von Texten im Gedächtnis gespeichert haben, uns so einen Reim auf das Ganze zu machen, dass es uns selbst zunächst einmal reicht und plausibel erscheint. Dabei bringen wir, das, was wir lesen, in einen Zusammenhang zueinander.

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 17.12.2023

 
 

 
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