Den ▪
Exemplarsatz bzw. der Exemplartheorie zur Erklärung der ▪
Repräsentation konzeptionellen Wissens
kann man neben dem ▪ Prototypenansatz
zu den ähnlichkeitsbasierten Ansätzen zählen (vgl.
Wentura/Frings
2013, S.127), die auf der sprachphilosophisch entwickelten
Idee der Familienähnlichkeit beruht, die auf den Philosophen »Ludwig
Wittgenstein (1889-1951) zurückgeht.
(▪
Philosophische Untersuchungen, 1953)
Beim Vergleich von Kategorien, die z. B. beim ▪
klassischen Ansatz aus
einer bestimmten Menge definierter Merkmale besteht (VOGEL: Federn,
Flügel, kann fliegen, legt Eier ... etc.), stellte Wittgenstein
fest, dass viele Kategorien, mit denen wir im Alltag agieren, nicht
so "funktionieren". Unsere Interaktionen mit unserer Umwelt, also
unser Handeln schlechthin, "läuft" in unzähligen Fällen nicht über
eindeutig begrifflich voneinander abgegrenzte Kategorien. Die
sogenannten "natürlichen" Kategorien, die wir im Laufe unserer
Entwicklung erwerben, folgen einem gänzlich anderen Prinzip.
Im Gegensatz zur
Prototypentheorie, die z. B. bei der
Verarbeitung visueller Reize "aus den gesehenen Beispielen ein
besonders prototypisches Beispiel konstruieren, das Merkmale aller
wirklich gesehenen Beispiele vereint" (Jäkel/Meyer
2013, S.312), geht der Exemplaransatz davon aus, dass alle
Beispiele, mit denen wir es zu tun bekommen, zusammen mit ihrer
Kategorienbezeichnung gespeichert werden. Dies wirkt auf den ersten
Blick nicht besonders ökonomisch und ließe vermuten, dass die
Klassifizierung bzw. Kategorisierung eines neuen Exemplars erheblich
aufwändiger und vor allem langwieriger ist, als dies bei der
Klassifizierung mit einem Prototypen der Fall ist.
Wie beim
Prototypenansatz erfolgt die Kategorisierung der Objekte oder
Elemente auch über einen gleichzeitig, d. h. parallel und nicht
seriell (nacheinander) verlaufenden Ähnlichkeitsvergleich.
Dieser erfolgt allerdings nicht nur mit einem Prototypen, sondern mit einzelnen
oder in der Regel auch mehreren Exemplaren. Dadurch ist der
Exemplaransatz auch flexibler als der Prototypenansatz.
Trifft unser
kognitives System auf ein ihm bisher nicht bekanntes Exemplar, dann
wird dieses dadurch kategorisiert, "dass es uns an diese früher
gesehenen Exemplare mehr oder weniger erinnert und dass wir
annehmen, es gehöre vermutlich der gleichen Kategorie an, wie
diejenigen Exemplare, denen es insgesamt am ähnlichsten ist." (Waldmann
2017, S.363) Exemplare, die dem neu zu kategorisierenden
Exemplar am ähnlichsten sind, haben dabei den größten Einfluss
darauf, welcher Kategorie das neu zu verarbeitende Exemplar
zugerechnet wird. Und diese Zuordnung erfolgt schnell und korrekt,
weil die dem neuen Exemplar am meisten ähnelnden Exemplare sofort
für den Ähnlichkeitsvergleich aktiviert werden, während die eher
untypischen, d. h. weniger ähnlichen Exemplare, länger deaktiviert
bleiben. Beides zeigt aber, dass auch das Vorwissen, also die Anzahl
und die Qualität ähnlicher Exemplare, eine entscheidende Rolle bei
der Kategorisierung bzw. Klassifizierung eines Exemplars speilt.
Die Tatsache, dass
alle Exemplare mit ihren Eigenschaften gespeichert werden, wirkt,
wie schon erwähnt, zwar auf den ersten Blick sehr unökonomisch, hat
aber den Vorteil, dass damit viel mehr Informationen über das Objekt
gespeichert werden, als dies bei den durch Abstraktion gewonnen
Prototypen der Fall ist. Daher kann der Exemplaransatz auch die
Kontextabhängigkeit der Kategorisierung gut modellieren,
"da je nach Kontext andere Exemplare in den Vordergrund rücken." (Wentura/Frings
2013, S.132)
Eine weitere Stärke
des Exemplaransatzes besteht darin, dass er auch
Korrelationsbeziehungen zwischen bestimmten Kategorien
wie z. B. zwischen Blutdruck und Herzerkrankungen, zwischen
Übergewicht und schweren Verläufen der COVID-19-Infektionen,
Gewaltdarstellungen in Videos und Gewalt in der Familie etc.
erklären kann, "weil die in unterschiedlichen Exemplaren
verkörperten Merkmalsbeziehungen erhalten bleiben." (Waldmann
2017, S.364)
Probleme und Grenzen des Exemplaransatzes
Gegen den
Exemplaransatz wird häufig eingewendet, dass die Vorstellung, wir
würden alle Exemplare gemeinsam mit ihren Kategorienbezeichnungen im
Kopf repräsentieren können, weit über das hinausgeht, was unser
Gedächtnis überhaupt speichern kann. Würden nicht alle gespeichert,
könne man aber nicht erklären, unter welchen Umständen das eine
Exemplar gespeichert werde und das andere nicht. Und auch die Frage,
ob es Exemplare gibt, die als Kopien bzw. Wiederholungen eines schon
gespeicherten Exemplars angesehen werden und vor allem warum, könne
so nicht hinreichend erklärt werden. (vgl.
Waldmann
2017, S.364)
Problematisch
bleibt auch beim Exemplaransatz, dass "die Einbettung einzelner
Begriffe in eine Wissensbasis" (Jäkel/Meyer
2013, S.312) und damit auch die Berücksichtigung von
Hintergrundwissen in den bisher dominierenden ähnlichkeitsbasierten
Theorien, die vor allem den "perzeptuellen Teil der Kategorisierung"
(ebd.)
abdecken, kognitionspsychologischen und kognitionswissenschaftlich
noch nicht hinreichend geklärt ist. (vgl.
ebd.)
Feststeht nur, dass "Kategorisierung im Alltag häufig mehr ist als
ein einfacher Ähnlichkeitsabgleich" und "der Erwerb von Kategorien
und Kategorisierung (...) in vielen Fällen auf der Anwendung von
Hintergrundwissen (beruht)." (Wentura/Frings
2013, S.133)
Exemplar- oder Prototypenansatz?
Die beiden wichtigsten ähnlichkeitsbasierten Ansätze zur
Klassifikation von Kategorien, der ▪ Prototypen-
Prototypen- und ▪
Exemplarsatz
haben beide ihre Vor- und Nachteile und am besten ist es wohl, sich
nicht apodiktisch auf einen der beiden Ansätze festzulegen, sondern
ihre Anwendung vom konkreten Objekt abhängig zu machen. (Gruber
2018, S.49) Auch in der kognitionspsychologischen Forschung
scheint sich seit einiger Zeit die Auffassung durchzusetzen, "dass
Menschen manchmal Abstraktionen und manchmal Exemplare zur
Repräsentation von Kategorien benutzen". (
Anderson 72013,
S.111)
Ein Vorteil des
Exemplaransatzes, der "viele der Defizite von Prototypentheorien
überwindet und sich empirisch vergleichsweise gut bewährt hat" (Waldmann
2017, S.364), liegt eindeutig in der aus der Vielzahl der mit
dem jeweiligen Objekt gespeicherten Informationen resultierenden
Flexibilität und Variabilität, (Wentura/Frings
2013, S.132), die sich auch in seiner Fähigkeit Kontexteffekte
zu erklären, niederschlägt. Außerdem kann er im Vergleich zum
Prototypenansatz auch
Merkmalskorrelationen besser erklären. Ebenso lassen sich
offenbar Typikalitätseinschätzungen bestimmter Exemplare für eine
bestimmte Kategorie exemplartheoretisch besser erklären als mit dem
Prototypenansatz. (vgl.
Waldmann
2017, S.364)
Theorien, die von
multiplen
Kategorisierungssystemen ausgehen, postulieren ohnehin eine
irgendwie gestaltete Zusammenarbeit von prototypen- und
exemplarbasierten Ansätzen. Ihre experimentellen Befunde legen nahe,
dass wir Prototypen und Exemplare nutzen. Dabei hängt die
Entscheidung für das eine oder das andere von verschiedenen Aspekten
ab. Repräsentiert die Kategorie eine Vielzahl von Exemplaren und ist
die Kategorie vergleichsweise kohärent, dann wird offenbar der
Prototypenansatz bei der Kategorisierung bevorzugt, Sind die
Kategorien dagegen eher klein, sehr differenziert und wenig
kohärent, ist "also ein hohes Maß an Unähnlichkeit innerhalb der
Kategorie" (Waldmann
2017, S.367) vorhanden, führt der Exemplaransatz zu
besseren und schnelleren Kategorisierungsresultaten.
Auch das Verhältnis
der ähnlichkeitsbasierten zu den theoriebasierten Ansätzen , wie z.
B. den ▪ Schemata
dürfte, auch wenn es ▪
nicht dem gegenwärtigen Trend der empirischen Forschung
entspricht, durchaus entspannt zu betrachten sein, zumal viele
Fragen, die sich bis heute im Zusammenhang mit der
Wissensrepräsentation stellen, ohne Heranziehung philosophischer und
sprachphilosophischer Theorien und Konzepte (noch oder überhaupt)
nicht erklärt werden können. (vgl. Jäkel/Meyer
2013, S.311ff.)
Und in
theoriegeleiteten Wissenschaften wie z. B. den traditionellen
Geisteswissenschaften (Philosophie, Literaturwissenschaft etc.) tun
natürlich auch die etwas "belächelten" theoriebasierten Ansätze,
insbesondere der Schemaansatz, weiterhin gute Dienste um z. B. das ▪
Textverstehen zu , z. B. beim ▪
Lesen von
Erzählungen in einem ▪
sequenziellen Leseprozess
anschaulich zu modellieren.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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