Den ▪ Prototypenansatz zur Erklärung der ▪
Repräsentation konzeptionellen Wissens kann man neben dem ▪
Exemplarsatz bzw. der Exemplartheorie
zu den ähnlichkeitsbasierten Ansätzen zählen. (vgl.
Wentura/Frings
2013, S.127). Diese geht auf sprachphilosophisch
entwickelte ▪ Idee der
Familienähnlichkeit des Philosophen »Ludwig
Wittgenstein (1889-1951) zurückgeht.
(▪
Philosophische Untersuchungen, 1953)
Die
Prototypentheorie ist eine ähnlichkeitsbasierte Theorie, die
erklären will, wie wir zu Begriffen (Kategorien bzw. Konzepten) als
kognitiven Einheiten gelangen. Prototypen sind dabei zu verstehen als
"Abstraktionen oder Mittelungen über spezifische Lernexemplare einer
Kategorie, die die charakteristischen Merkmale enthalten." (Gruber
2018, S.44) Da sie bei der Prototypenbildung auf
Abstraktionsprozessen beruht, kann die Prototypentheorie auch als
eine Abstraktionstheorie
bezeichnet werden, zu der auch kognitive
▪ Schemata
zählen. (vgl.
Anderson 72013,
S.111)
Unter dem Blickwinkel der Gedächtnisforschung kann
sie wohl eher dem ▪ semantischen Gedächtnis zugeordnet werden, während
die ▪ Exemplartheorie
eher zum ▪ episodischen Gedächtnis gehört. (vgl.
ebd., S.49)
Der
Prototypenansatz geht davon aus, "dass sich eine Kategorie durch
charakteristische Merkmale auszeichnet." (Gruber
2018, S.44) und der Prototyp durch Zusammenfassung bzw. Zusammenstellung
dieser Merkmale der Kategorieexemplare gebildet wird (vgl. Wentura/Frings
2013, S.130)
Oder anders ausgedrückt:
"Instanzen, die besonders viele Eigenschaften anderer Instanzen
derselben Kategorie besitzen und gleichzeitig wenige Eigenschaften
anderer Kategorien, nennt man »prototypisch«." (Jäkel/Meyer
2013, S.311)
Instanzen sind konkrete Exemplare oder Vertreter
einer Kategorie (z. B. ist ein Rotkehlchen eine (typische) Instanz
der Kategorie Vogel, ein Pinguin eine eher untypische.) Es gibt also, wie schon oben erwähnt, unterschiedliche Grade der Zugehörigkeit (▪
Typikalität, Typikalitätsgradienten) von Instanzen
für die jeweilige Kategorie.
Mit randständigen Instanzen bzw.
Vertretern einer Kategorie, die keine größere Ähnlichkeit mit dem
zentralen Prototypen haben, können wir bei der Zuordnung schon mal "Probleme" haben. Aber auch wenn wir beispielsweise davon
sprechen, dass eine Tomate ein Gemüse ist, was
wissenschaftlich-botanisch gesehen falsch ist (Obst = botanisch
gesehen eine Frucht, die aus der Blüte wächst), können wir uns
im Alltag mit unserem Gemüsebegriff und der ihm zugeschriebenen
Tomate problemlos orientieren, es sei denn wir scheitern mit unser
Kategorisierung an einer entsprechenden Frage in einer Quizshow.
Ähnlichkeitsabgleich mit einer Standardrepräsentation
Ob ein Objekt einer bestimmten
Kategorie zugeordnet wird, hängt dabei von seiner Ähnlichkeit mit
dem "besten" Exemplar der Kategorie, dem Prototypen, ab. Die
Kategorisierung erfolgt also grundsätzlich über einen Prozess, bei
dem "die Ähnlichkeit zu den im Gedächtnis gespeicherten Beispielen
berechnet" (Jäkel/Meyer
2013, S.312) wird. Dabei werden die Eigenschaften eines neues
Objektes, das kategorisiert werden soll, mit dieser prototypischen
"Standardrepräsentation" (Gruber
2018, S.44) verglichen. Dieser Ähnlichkeitsabgleich, der zur
Feststellung von ▪
Typikalitäten führt, kann aber auch ▪
kontextabhängig sein.
Aber nicht jede Theorie, die auf Prototypen basiert, geht vom
zentralen Abgleich der Exemplare mit dem einen Prototypen aus, der
gespeichert ist. Es gibt auch Modelle, bei denen angenommen wird,
"dass der Mensch eine Repräsentation speichert, die gleichzeitig
eine Art von Vorstellung von der zulässigen Variation um den
Prototyp herum enkodiert (z. B.
Hayes–Roth/Hayes–Roth 1977;
Anderson 1991)."
(vgl. Anderson
72013, S.111). In der Regel ist allerdings von der
ersten Variante der Prototypentheorie die Rede.
Die Bildung eines Prototypen durch Abstraktion
Am Beispiel der
Grippekrankheit kann die Prototypenbildung demonstriert werden.
Allerdings gibt es natürlich für diese Krankheit schon
wissenschaftlich begründete Prototypen (s. Abb.), die auf
einschlägigen Gesundheitsseiten im Internet zum Abruf bereitstehen.
Und auch ein Arzt bzw. eine Ärztin werden die Kategorie Grippe
nicht erst erwerben und bilden müssen, sondern nur über den
Ähnlichkeitsvergleich mit der ihm/ihr verfügbaren Kategorie und dem
konkreten Exemplar (h: dem Patienten) eine Diagnose stellen. Dessen ungeachtet kann die Prototypenbildung an diesem Beispiel
demonstriert werden.
Müsste man anhand
von Symptomen, die verschiedene Menschen zeigen, wenn sie eine
Erkältung haben, die charakteristischen Merkmale und daraus den
Prototypen für eine Grippe abstrahieren, dann könnte dies im Falle
von drei Personen z. B. wie folgt aussehen (vgl.
Waldmann
2017, S.361):
Exemplare |
Prototyp |
Person
|
Symptome (Merkmale |
Jens |
schneller Verlauf, hohes Fieber, Rhino-Viren,
Schnupfen, Halskratzen, Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen,
|
schneller
Verlauf, Viren, Bakterien, hohes Fieber, Schnupfen,
Husten, Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit, |
Astrid |
Entero-Viren, Husten, Gliederschmerzen, Durchfall,
Schnupfen, Bakterien |
Mehmet |
Bakterien, Abgeschlagenheit, Husten, Übelkeit und
Erbrechen, hohes Fieber, schneller Verlauf,
Gliederschmerzen |
Überträgt man das
Beispiel auf die Frage, wie mentale Repräsentationen von Kategorien
erworben werden, dann ist vorstellbar, dass dies dadurch erfolgt,
"dass beim Lernen die charakteristischen Merkmale einer Kategorie
abstrahiert und zu einer Repräsentation des Prototyps der Kategorie
zusammengeführt werden." (Waldmann
2017, S.361f.) Diese auf "Abstraktionen über eine Reihe von
konkreten Exemplaren" (ebd.,
S.362) vorgenommene Kategorienrepräsentation kennzeichnet den Kern
des Prototypenansatzes.
Die Prototypenbildung erfolgt im Rahmen eines Netzwerks von
Kategorien
Für die Bildung von
Prototypen wird ein Netzwerk von Kategorien vorausgesetzt, das sich
langsam herausgebildet hat, und in der Lage ist, neue Reize
bestimmten Kategorien zuzuordnen. Daher entstehen auch Prototypen
"nur während langsamer Lernprozesse" (Gruber
2018,
S.78), auch wenn das System als Ganzes "natürlich in der Lage sein
(muss), neue Informationen schnell aufzunehmen." (ebd.)
Dabei verträgt sich der Prototypenansatz durchaus mit Theorien zu
den ▪ semantischen Netzwerken
(▪
hierarchische vs. ▪
erfahrungsbasierte semantische
Netzwerke) (vgl.
ebd., S.49).
Probleme und Grenzen des Prototypenansatzes
Der ▪ Prototypenansatz kann zur
Erklärung für bestimmter Phänomene beim Kategorienerwerb und zur Erklärung
bestimmter Vorgänge bei der ▪
Repräsentation konzeptionellen Wissens gute Dienste leisten.
Zugleich hat er aber auch seine Grenzen.
Waldmann
(2017, S.362) sieht u. a. die folgenden Probleme:
-
Es werden
keine
Informationen über die zulässigen Unterschiede (Variabilität)
und/oder die Größe der Exemplare (Objekte, Instanzen)
gespeichert, weil im Prototyp nur die "zentrale Tendenz einer
Kategorie" gespeichert wird.
-
Prototypen
stellen nicht immer die mittlere Ausprägung charakteristischer
Merkmale der verschiedenen zur Kategorie zählenden Exemplare
dar, sondern werden auch manchmal als
ideale Prototypen
modelliert. Die sog. Nulldiät, also der Verzicht auf jede
Art von Kalorienzufuhr, ist z. B. idealer Prototyp für Diäten,
aber eben nicht der Durchschnittswert bzw. der mittlere Nährwert
von Diäten überhaupt. Das gilt im Übrigen auch für viele
biologische Kategorien: Weder ein Vogel noch ein Baum werden
wohl eher idealtypisch kategorisiert, das Konzept Baum
oder Vogel entsteht daher wohl kaum durch die Berechnung
eines Durchschnittswerts.
-
Korrelationsbeziehungen zwischen bestimmten Kategorien
kann der
Prototypenansatz nicht so ohne weiteres darstellen. Dies gelingt
aber durchaus, wenn er mit Theorien ▪ semantischen Netzwerken
(▪
hierarchische vs. ▪
erfahrungsbasierte semantische
Netzwerke) (vgl.
Gruber
2018, S.49) kombiniert wird. Auf sich allein gestellt, kann der
Prototypenansatz aber Korrelationen wie z. B. zwischen Blutdruck
und Herzerkrankungen, zwischen Übergewicht und schweren
Verläufen der COVID-19-Infektionen, Gewaltdarstellungen in
Videos und Gewalt in der Familie etc. nicht darstellen und die
Bedeutung solchen (Vor-)Wissens beim Kategorienerwerb nicht
angemessen berücksichtigen.
-
Ob ein Exemplar
(Objekt) typischer oder weniger typisch für eine Kategorie ist,
hängt auch vom Kontext ab, in dem das Exemplar präsentiert wird.
Dies können größere kulturelle Kontexte sein (Beispiel: Farben
weiß oder schwarz als Trauerfarbe), soziale oder
sozio-kulturelle Kontexte (Kaffee ist für Fernfahrerinnen* und
Sekretärinnen* das typischste Getränk, aber an zweiter Stelle
steht bei den Fernfahrerinnen* Milch und bei den Sekretärinnen*
Tee). Ebenso konnte gezeigt werden, "dass das Erzählen einer
Safarigeschichte im Vergleich zu einer Bauernhofgeschichte dazu
führt, dass Probanden andere Tiere (z. B. Löwe) für typische
Tiere halten (Barsalou
19877)." (Kiesel/Koch
2012c, Kindle-Positionen1230-1231)
Prototypen- oder Exemplaransatz?
Die beiden wichtigsten ähnlichkeitsbasierten Ansätze zur
Klassifikation von Kategorien, der ▪ Prototypen-
Prototypen- und ▪
Exemplarsatz
haben beide ihre Vor- und Nachteile und am besten ist es wohl, sich
nicht apodiktisch auf einen der beiden Ansätze festzulegen, sondern
ihre Anwendung vom konkreten Objekt abhängig zu machen. (Gruber
2018, S.49)
Auch in der kognitionspsychologischen Forschung
scheint sich seit einiger Zeit die Auffassung durchzusetzen, "dass
Menschen manchmal Abstraktionen und manchmal Exemplare zur
Repräsentation von Kategorien benutzen". (
Anderson 72013,
S.111) So wird auch davon ausgegangen, dass die meisten natürlichen
Konzepte wie z. B. Obst, Baum, Stuhl, die wir in unserem Alltag
erwerben, ohne genau zu wissen, wie dies geschieht, eher in einer
Prototypenstruktur als in einer beliebigen Zusammenfassung von
Exemplaren wie bei der Exemplartheorie. (vgl.
Smith 2014,
vgl. Waldmann
2017, S.364)
Theorien, die von
multiplen
Kategorisierungssystemen ausgehen, postulieren ohnehin eine
irgendwie gestaltete Zusammenarbeit von prototypen- und
exemplarbasierten Ansätzen. Ihre experimentellen Befunde legen nahe,
dass wir Prototypen und Exemplare nutzen. Dabei hängt die
Entscheidung für das eine oder das andere von verschiedenen Aspekten
ab. Repräsentiert die Kategorie eine Vielzahl von Exemplaren und ist
die Kategorie vergleichsweise kohärent, dann wird offenbar der
Prototypenansatz bei der Kategorisierung bevorzugt, Sind die
Kategorien dagegen eher klein, sehr differenziert und wenig
kohärent, ist "also ein hohes Maß an Unähnlichkeit innerhalb der
Kategorie" (Waldmann
2017, S.367) vorhanden, führt der Exemplaransatz zu
besseren und schnelleren Kategorisierungsresultaten.
Auch das Verhältnis
der ähnlichkeitsbasierten zu den theoriebasierten Ansätzen , wie z.
B. den ▪ Schemata
dürfte, auch wenn es ▪
nicht dem gegenwärtigen Trend der empirischen Forschung
entspricht, durchaus entspannt zu betrachten sein, zumal viele
Fragen, die sich bis heute im Zusammenhang mit der
Wissensrepräsentation stellen, ohne Heranziehung philosophischer und
sprachphilosophischer Theorien und Konzepte (noch oder überhaupt)
nicht erklärt werden können. (vgl. Jäkel/Meyer
2013, S.311ff.)
Und in
theoriegeleiteten Wissenschaften wie z. B. den traditionellen
Geisteswissenschaften (Philosophie, Literaturwissenschaft etc.) tun
natürlich auch die etwas "belächelten" theoriebasierten Ansätze,
insbesondere der Schemaansatz, weiterhin gute Dienste um z. B. das ▪
Textverstehen zu , z. B. beim ▪
Lesen von
Erzählungen in einem ▪
sequenziellen Leseprozess
anschaulich zu modellieren.
▪ Ereignisschemata als Grundlage
des Verstehens von Texten
▪
Construction-Integration Model
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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