▪
Kognitionspsychologische Modelle zum Lesen und
Verstehen von Texten
▪
Überblick
▪ Construction Integration Model
(CI-Modell)
▪ Überblick
▪ Die Textbasis: Von der Mikro-
zur Makrostruktur des Textes
▪
Von der
Textbasis zum Situationsmodell des Textes
▪
Bildung von Inferenzen
Welchen
Beitrag ▪
Ereignisschemata (Handlungsschemata, Skripts) mit ihrem
integrierten "nützlichen Schlussfolgerungsmechanismus" (Anderson
72013, S. 106) für das Verstehen von sprachlichen
Äußerungen (schriftlichen und mündlichen Texten) leisten, lässt sich
an Propositionen zeigen, die nur dann verstanden werden können, wenn
sie einem dazu passenden, kategorialen Ereignisschema zugeordnet
werden können.
So kann die
Proposition
"Ich suchte augenblicklich nach meiner Fahrkarte, als der
Schaffner im Abteil auftauchte." im Allgemeinen ohne Weiteres
verstanden werden, wenn wir sie dem ▪
BAHNFAHRT- oder ZUGREISE-Schema
zuordnen. Dabei ist in diesem Fall die Zugreise und alles, was damit
zusammenhängt, in keiner Weise explizit erwähnt.
In diesem Fall kann
man, zumindest
textlinguistisch, von einer
Implikation auf Satzebene sprechen, weil die Proposition die
Tatsache, dass jemand eine Zugfahrt unternimmt, impliziert.
(vgl.
Linke/Nussbaumer/Portmann 21994, S.145)
In der ▪
Textlinguistik
wird dieses Thema auch unter dem Vorzeichen sogenannter
Präsuppositionen untersucht.
Dabei geht es im Kern darum, was das "im Rahmen einer Kommunikation
mit einer Äußerung implizit Mitgegebene" darstellt, um sie zu
verstehen. (Lewandowski
51990, Bd.2, S.833)
An einem ganz
einfachen Satz verdeutlicht: Die Äußerung "Hier zieht es"
setzt, ohne dass dies explizit erwähnt werden muss, voraus, dass je
nach Situation ein Fenster oder eine Türe offensteht.
Und anhand eines
kleinen Dialogstückes, das
Linke/Nussbaumer/Portmann (21994, S.145) erwähnen,
wird deutlich, dass "der volle Gehalt der Aussage (...) aus dem
sprachlich Ausgedrückten vor dem Hintergrund der Situation
rekonstruiert werden (muss)."
Dialogstück:
"Wo bist du gestern Abend gewesen?"
"Na hier."
Müsste in diesem
kleinen Dialogstück die Antwort alles Mitgegebene explizit
ausdrücken, dann könnte die Antwort, wie
Linke/Nussbaumer/Portmann (ebd.) darstellen, wie folgt aussehen:
"»Ich, der Paul
Portmann, war gestern, am 22. August 1990, am Abend in meiner
Wohnung an der Freiestrasse in Zürich.« Es genügt aber,
»na, hier« zu sagen,
-
weil das Gespräch
in meiner, Pauls, Wohnung stattfindet;
-
weil mein
Gegenüber sieht, dass ich es bin, der spricht, und dass ich zu
ihm spreche, und weil ich annehme, dass er merkt, dass ich auf
seine Frage antworte;
-
weil wir beide
wissen, dass heute der 23. August 1990 ist, und
-
weil mein
Gegenüber schon gefragt hat: »Wo bist du gestern Abend
gewesen?«
Ich brauche das
Verb gar nicht zu wiederholen, auch nicht die Zeitangabe, und kann
trotzdem eine problemlos verständliche Information übermitteln."
Schematheoretisch
ließe sich das ganze darstellen als ein PRIVATES GESPRÄCH mit
verschiedenen Slots, die mit bestimmten Ereignissen und Rollen
(FRAGENDE PERSON, ANTWORTENDE PERSON verbunden sind. Damit die
Kommunikation gelingen kann, müssen beide Dialogpartner, das gleiche
Ereignis- bzw. Handlungsschema aktivieren und die nicht explizit
genannten Informationen
inferieren,
d. h. zu dem Schema hinzufügen.
Dabei müssen die
Ereignis- bzw. Handlungsschemata der Personen natürlich nicht in
allen Punkten übereinstimmen, müssen aber wohl über ein Mindestmaß
an Übereinstimmungen verfügen. Gegensätzliche oder völlig unpassende
Handlungsschemata hätten hingegen weitreichende Folgen für die
Kommunikation und könnten zu erheblichen Missverständnissen, wenn
nicht zum gänzlichen Scheitern der Kommunikation führen.
Ereignisschemata als
Mittel zur Sinnkonstruktion beim Lesen von Texten
In der kognitiv
orientierten Textwissenschaft, insbesondere im Zusammenhang mit
kognitionspsychologischen Lese- und Rezeptionstheorien, lassen sich
manche Zusammenhänge und Prozesse beim ▪
Verstehen von Texten
gut mit schematheoretischen Überlegungen beschreiben und
analysieren. Dies gilt auch in besonderem Maße für die Bedeutung
dynamischer Ereignisschemata beim ▪
Lesen von
Erzählungen in einem ▪
sequenziellen Leseprozess
und einem hermeneutisch strukturierten Textverstehensprozess in Form
des
hermeneutischen Zirkels, der sich allen Unkenrufen zum Trotz in
einigen Annahmen seiner mit solchen und anderen Modellen und
Erkenntnissen der Kognitionspsychologie ▪
durchaus vereinbaren lässt.
Je nach Informationsvergabe durch den
Erzähler oder die Erzählinstanz kann man sich als Leserin* ja erst nach und nach ein annähernd
vollständiges Bild über die gesamte oder auch die konkrete Situation machen, in der Figuren agieren und interagieren (vgl.▪
Construction-Integration Model). So lange "operiert" man mit einem
vorläufigen, auf Hypothesen beruhenden Ereignisschema, dessen ▪
Default-Werte in den verschiedenen ▪
Slots (Leerstellen)
erst nach und nach konkretisiert und überschrieben werden.
Situationsdeixis und
Ereignisschema
Wie sich das
vorläufige dynamische Ereignis- und Handlungsschema bei der
Rezeption eines Textes in Form einer
Bottom-up-Verarbeitung durch Prozesse des ▪
Wissenszuwaches,
der
▪
Feinabstimmung,
von ▪
Umstrukturierung und ▪
Integration und im Zusammenwirken mit
Top-down-Informationsverarbeitungsprozessen
((Vor-)Wissen,
Weltwissen
... etc.) weiterentwickelt bzw. mit neu hinzukommenden
Textinformationen modifiziert wird, hängt textseitig auch von den
Verweisstrukturen (deiktische Strukturen) in einem Text ab, die zu
Textkohäsion
und
Textkohärenz beitragen.
Neben einfachen
deiktischen Verweisen, die mit
▪
Pro-Formen
und dem
▪
bestimmten
Artikel gebildet werden (Beispiel:
"Heiner geht mit dem Hund raus. Das
macht er immer.") und auf der
Textoberflächenstruktur
für die Verknüpfung der Textelemente miteinander (=
Textkohäsion)
sorgen (= textdeiktische Funktion), gibt es aber auch
situationsdeiktische Verweise, die meistens mit
Adverbien oder
adverbialen Fügungen gebildet werden, die daneben auch im Dienst der
Herstellung von
Textkohärenz
stehen. Beide Verweisformen können dabei entweder als
anaphorischer oder
kataphorischer Verweis
(Rückverweis oder Vorweis) gestaltet sein.
Von diesen beiden
referentiellen Verweisformen kommt der anaphorische im Allgemeinen häufiger
vor als
der kataphorische und kann bei der Textrezeption leichter und mit
geringerer
Verarbeitungstiefe verarbeitet werden.
Situationsdeiktische Verweisformen mit Adverbien (da, dort,
danach, dann) fungieren dabei wie Signale, zur Aktivierung eines
auf Hypothesen aufbauenden Ereignisschemas, dem ggf. später erwähnte
Ereignisse oder
Zustandsveränderungen sowie Rollen und Raumelemente und
Requisiten zugerechnet werden können. Auf der Textebene fungieren
sie als Suchanweisungen nach geeigneten Bezugselementen, die das
vorläufige Ereignisschema bestätigen.
Situationsdeiktische
Verweisstrukturen und (Ereignis-)Schemata bei der Rezeption
literarischer Texte
Von derartigen
Verweisstrukturen machen eigentlich alle
erzählenden Texte Gebrauch um eine Handlung bzw. ein Geschehen
zu "situieren". Oft dient die die (potentielle) deiktische Funktion
von Adverbien, bestimmten Artikeln, Demonstrativpronomina auch dazu, eine imaginäre, jenseits des Textes liegende Bezugswelt
aufzubauen.
Ein Beispiel dafür
ist der ▪
Anfang des Romans "Kassandra" von Christa Wolf, der wie folgt
beginnt:
"Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen
Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Diese
Festung, einst uneinnehmbar, ein Steinhaufen jetzt, war das
letzte, was sie sah... " (kursive Hervorhebung d. Verf.)
Die Art und Weise,
wie literarische Texte situationsdeiktische Verweisformen verwenden,
macht häufig auch den ästhetischen Reiz aus, der von solchen Texten
ausgehen kann. Auch in ▪
Kurzgeschichten mit dem ihnen typischen unvermittelten
Erzähleingang spielen deiktische und situationsdeiktische
Verweisstrukturen (kursiv im Text hervorgehoben) eine große Rolle.
Ein typisches
Beispiel dafür ist der Beginn der Kurzgeschichte ▪"Die
Kirschen" von ▪Wolfgang
Borchert.
"Nebenan
klirrte ein Glas. Jetzt isst er die Kirschen auf,
die für mich sind, dachte er. Dabei habe ich das
Fieber. Sie hat die Kirschen extra vors Fenster gestellt,
damit sie ganz kalt sind. Jetzt hat er das Glas
hingeschmissen. Und ich hab das Fieber.
Der Kranke stand auf. Er schob sich die Wand entlang.
Dann sah er durch die Tür, dass sein Vater auf der
Erde saß. Er hatte die ganze Hand voll Kirschsaft.
Alles voll Kirschen, dachte der Kranke, alles voll Kirschen.
Dabei sollte ich sie essen. Ich hab doch das Fieber. Er hat die
ganze Hand voll Kirschsaft. Die waren sicher schön kalt.
Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt für
das Fieber. Und er isst mir die ganzen Kirschen auf. Jetzt sitzt
er auf der Erde und hat die ganze Hand davon voll. Und ich hab
das Fieber. Und er hat den kalten Kirschsaft auf der Hand. Den
schönen kalten Kirschsaft. Er war bestimmt ganz kalt. Er stand
doch extra vorm Fenster. Für das Fieber.
Er hielt sich am Türdrücker. Als der quietschte, sah der
Vater auf.
Junge, du musst doch zu Bett. Mit dem Fieber, Junge. Du
musst sofort zu Bett. (...)"
Ein Beispiel aus
vier zusammenhängenden Sätzen, das als Beginn einer
fiktionalen
Erzählung
fungieren könnte, haben
Wentura/Frings (2013, S.136) dargestellt.
"Hauptkommissar
Batic betrat den Tatort. Er ging von vom Flur in den ersten Raum
rechts. Als erstes fiel ihm der laufende, auf stumm geschaltete
Fernseher auf. Die Fernbedienung lag auf einem niedrigen Tisch
davor."
Die Autoren
beantworten die Frage, wo sich sich das Geschehen ereignet, mit der
Hypothese, dass es sich um ein Wohnzimmer in einem Haus oder einer
Wohnung handelt, in der man über einen Flur in dieses Zimmer
gelangen kann. Aktiviert wird das WOHNZIMMER-Schema vermutlich durch
die Requisiten Fernsehgerät, Fernbedienung und Tisch. Ist das Schema
erst einmal aktiviert, können zu diesen Raumelementen weitere
inferiert werden, ohne dass diese explizit erwähnt werden, wie z. B.
"Rechts neben dem Tisch stand ein Sofa." Ein Badewanne im gleichen
Raum oder eine abgestelltes Auto wären jedenfalls ohne dass der
Grund dafür expliziert wird, unsinnig, d. h. diese Raumelemente
würden weder zum WOHNZIMMER-Schema noch zum Ereignisschema
TATORTBESICHTIGUNG passen, das mit der anfänglichen Beschreibung das
Erzählte in diese Schemata einordnet. Im WOHNZIMMER-Schema ersetzen
die vorhandenen oder
inferierten
Raumelemente die durch Generalisierung vorher gemachter Erfahrungen,
die als Wissen abgerufen werden, die allgemeinen Default-Werte in
den für das Schema vorhandenen Slots.
Und noch auf etwas
anderes machen die
Wentura/Frings (ebd.) aufmerksam, was sich mit diesem Beispiel
zeigen lässt, nämlich, "wie sich die Voreinstellungen aufgrund
weiter hinzukommender Informationen ändern: Wie sieht das Sofa (das
Regal, der Schrank aus), wenn die Fernbedienung nicht einfach auf
einem Tisch liegt, sondern auf einem 'Häkeldecken'?"
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Kognitionspsychologische Modelle zum Lesen und
Verstehen von Texten
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Überblick
▪ Construction Integration Model
(CI-Modell)
▪ Überblick
▪ Die Textbasis: Von der Mikro-
zur Makrostruktur des Textes
▪
Von der
Textbasis zum Situationsmodell des Textes
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Bildung von Inferenzen
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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