▪
Kognitionspsychologische Modelle zum Lesen und
Verstehen von Texten
▪
Überblick
▪ Construction Integration Model
(CI-Modell)
▪ Überblick
▪ Die Textbasis: Von der Mikro-
zur Makrostruktur des Textes
▪
Von der
Textbasis zum Situationsmodell des Textes
▪ Bildung von Inferenzen
Schemata, so die Auffassung der sie
fundierenden Theorien, "stellen komplexe Wissensstrukturen dar, welche
die Erfahrungen repräsentieren, die ein Mensch im Laufe seines Lebens
macht." (Schwarz
1992, S.89) Sie werden als unabdingbare Voraussetzung von
sämtlichen Prozessen zur kognitiven Verarbeitung von Informationen
angesehen.
Zugleich
sind sie aber aufgrund ihnen eigenen ▪
Dynamik, die als Prozesse des ▪
Wissenszuwaches,
der
▪
Feinabstimmung,
von ▪
Umstrukturierung und ▪
Integration ihre Weiterentwicklung und "Umbau" ermöglichen, auch
Ergebnisse von
Top-down-Informationsverarbeitungsprozessen.
Die Bedeutung von Schemata für die
▪
Wahrnehmung von Welt, die
Repräsentation von Wissen und die Sprachverarbeitung ist außerordentlich
groß, denn "bei der Informationsverarbeitung wird normalerweise ein
Schema ausgewählt, mit dessen Hilfe der jeweilige Sachverhalt
interpretiert werden kann." (ebd.)
Ohne Schemata können wir die Außenwelt nicht wahrnehmen oder
erkennen
Mit Schemata können wir die unzähligen Einzelheiten zu
Gesamteinheiten organisieren, "sie ermöglichen es dem Bewusstsein, statt
des mühsamen Durchmusterns von Details (Blättern, Zweigen, Ästen, Stamm,
Rinde ...) 'auf einen Schlag' etwas als Baum wahrzunehmen und damit
umzugehen. Schemata verringern also Komplexität. Sie verleihen unseren
Vorstellungen Festigkeit und Dauer. Und sie erlauben rasches Reagieren."
(Schmidt
1992, S.119)
Mit Hilfe von Schemata können wir Menschen also von
außen kommende und über unsere
▪
Sinnesorgane empfangene Informationen
wahrnehmen und zu kategorisiertem Wissen umwandeln, indem den
Informationen Bedeutungen zugeordnet
werden. Dinge, denen keine Bedeutung zugeordnet werden kann, können auf
diesem Weg ausgefiltert werden.
Karl-Heinz Flechsig (1998) verdeutlicht die Funktion von Schemata
bei der Speicherung und Ordnung von Wissen im menschlichen Gehirn mit
der folgenden
Analogie:
"Man stelle sich einen sehr sehr großen Schrank mit sehr
sehr vielen in sich gefächerten Schubladen vor, die mit Etiketten
versehen sind, auf denen die Bezeichnungen der Dinge stehen, die in die
Schubladen bzw. Fächer einzuordnen sind. Schemata als etikettierte und
gefächerte Schubladen, damit endet jedoch schon unsere Analogie, denn
Schubladen sind relativ starre Gebilde, während Schemata sich
entwickeln, anpassen, verändern und untereinander kommunizieren. Hier hilft vielleicht eine andere Analogie weiter: Wir stellen uns
unsere Schubladen als kleine Computer vor, auf deren Festplatten Wissen
gespeichert und geordnet ist und die untereinander in Verbindung stehen.
Wenn sie Wissen haben, das für andere Computer interessant sein könnte,
reichen sie es an diese weiter, damit sie es mit ihren eigenen Schemata
verknüpfen. Und wenn sie Probleme haben, eingehende Information zu
interpretieren und zu verstehen, können sie bei anderen Computern
zurückfragen. Jeder dieser Computer ist dann für Schemata einer
bestimmten Art bzw. eines bestimmten Bereichs zuständig." (http://wwwuser.gwdg.de/~kflechs/iikdiaps3-98.htm,
22.7.03)
Leerstellen (Slots)
als Grundlage der Schemarepräsentation
Das zentrale
Strukturelement von Schemata sind seine Leerstellen (Slots), die auch
die Grundlage ihrer ▪ Dynamik darstellen.
Leerstellen sind
variable konzeptuelle Einheiten, die im Rahmen der
Informationsverarbeitung mit bestimmten Werten aufgefüllt werden können.
Geschieht dies, wird der allgemeine typische Default-Wert (=
Voreinstellungswert), der den Slot
bis dahin innehat, durch den spezifischeren Wert (filler) ersetzt. Dies
kann auch nur probehalber geschehen (default assingment).
In solchen Fällen werden die Kategorien (Konzepte), mit denen die
vorhandenen Slots "hypothetisch" besetzt worden sind, durch später
hinzukommende Informationen überschrieben und dadurch geändert.
Diese Prinzip kommt z. B. beim ▪
Lesen von
Erzählungen immer wieder vor, weil man sich beim ▪
sequenziellen Lesen in
einem linearen Leseprozess, je nach Informationsvergabe durch den
Erzähler oder die Erzählinstanz, ja erst nach und nach ein annähernd
vollständiges Bild über die gesamte und die konkrete Situation machen
kann, in der Figuren agieren und interagieren (vgl.▪
Construction-Integration Model). Solche Slots stellen auch bestimmte
Texttypen und Textsorten bereit. Kann ein Leser oder eine Leserin eine
Erzählung z. B. schon durch eine der weiteren Rezeption vorausgehende
Information einer bestimmten Textsorte bzw. literarischen Gattung als
eine Art "Strukturhypothese" (van
Dijk 1980a, S.187) zuordnen, weil der Titel, der Untertitel oder
bestimmte Textsignale gleich zu Beginn des Textes identifiziert werden
("Es war einmal ...), werden die entsprechenden offenen Stellen (Slots),
die für bestimmte Textsortenmerkmale oder Texthandlungen mental zur
Verfügung stehen, mit den bei der Rezeption gewonnenen Informationen
"gefüllt" (z.B. Fee, Prinz, Zauberer, Hexe, "herozentrischer"
Handlungsverlauf, das Gute besiegt das Böse am Ende ... etc.) Allerdings
kann sich die erste Strukturhypothese im weiteren Verlauf
hermeneutischen Verstehens auch als falsch erweisen und muss dann
korrigiert werden. (vgl. ▪
Kohärenzbildung über
mentale Modelle, kognitive Schemata und literarische Konventionen
(Gattungen))
Beispiele
unterschiedlicher Komplexität
Wie man sich die
Informationsverarbeitung mit Hilfe von Schemata
vorzustellen hat, lässt sich am besten an verschiedenen Beispielen
verdeutlichen.
Das
GEBEN-Schema (vgl.
Schwarz
1992, S.89) steht dabei zunächst einmal für ein vergleichsweise
einfaches Schema. Das Schema für den Satz "Anita gibt Friedrich einen
Apfel." besitzt in seiner einfachen Form drei verschiedene
Konzeptvariablen:
-
X (GEBER)
-
Y (EMPFÄNGER)
-
Z (GABE)
Im vorliegenden
Beispiel sind alle Slots mit konkreten Begriffen (Konzepten) besetzt und
die entsprechenden Default-Werte sind im GEBEN-Schema entsprechend
überschrieben.
Variiert man den
obengenannten Beispielssatz in folgender Weise: "Friedrich bekam
einen Apfel." dann wird zum Verständnis dieses Satzes erneut auf das
GEBEN-Schema zurückgegriffen. Auch wenn die GEBER-Variable nicht konkret
besetzt ist, wird sie also durch den allgemeinen Default-Wert
repräsentiert. Das bedeutet, dass auch in diesem Fall automatisch eine
Geberin* angenommen wird.
Anderson (72013,
S.106f.) demonstriert die Schemarepräsentation am HAUS-Schema.
Dazu verweist er zunächst einmal auf das Wissen, das wir gewöhnlich über
Häuser haben. So wissen wir beispielsweise, dass Häuser
-
eine Art von Gebäuden
sind
-
Zimmer haben
-
aus Holz, Ziegeln
oder Stein gebaut sind
-
als Wohnung dienen
-
rechteckig und
dreidimensional gestaltet sind
-
üblicherweise größer
als 10 Quadratmeter sind und kleiner als 1000 Quadratmeter
Diese Informationen
über das Konzept HAUS lassen Vorhersagen zu. Wenn also jemand von einem
Haus spricht, dann können wir schlussfolgern, dass das Gebäude auch
Zimmer hat. Das HAUS-Schema könnte dabei - in einer allerdings nicht
vollständigen Art und Weise, wie
Anderson (ebd.)
darstellt, wie folgt notiert werden:
"Haus
- Oberbegriff:
Gebäude
- Teile: Zimmer
- Material: Holz,
Ziegel, Stein
- Funktion: Wohnraum
des Menschen
- Form: rechteckig,
dreidimensional
- Größe: zwischen 10
und 1000 Quadratmetern"
Natürlich ist es auch
möglich, dass ein Haus aus Karton oder aus Lehm gebaut ist. In diesem
Fall wird das HAUS-Schema diesem ▪
Wissenszuwachs
("accreation") angepasst und eine neue ▪
Feinabstimmung (= "tuning")
vorgenommen. Und: Wenn zu den typischen Ausprägungen unserer
VOGEL-Schemas beispielsweise gehört, dass Vögel fliegen können, hindert
uns das nicht, wenn wir es mit einem Strauss zu tun haben, diesen
Default-Wert des VOGEL-Schemas einfach zu überschreiben.
Zu einem Schema können
also durchaus auch Objekte gehören, die mit nur wenigen Einschränkungen,
die für die konkreten Ausprägungen von Slots geltend gemacht werden,
Variationen aufweisen und diese stellen das Schema als solches nicht in
Frage. So lassen sich mit Schematas also auch typische oder weniger
typische Mitglieder einer bestimmten Kategorie bestimmen.
Schemata zur Steuerung
unseres Verhaltens (Ereignis- bzw. Handlungsschemata und Skripts)
▪
Handlungsarten
Neben der
organisierenden Verarbeitung von Informationen bzw. Konzepten über
Objekte können Schemata auch dazu dienen, unser Handeln dadurch zu
steuern, dass sie konkrete Ereignisse (Ereigniskonzepte),
die sich aus verschiedenen Einzelheiten zusammensetzen, auf der
Basis so genannter Teil-Ganzes-Hierarchien oder auch
Generalisierungshierarchien in einem Ereignisschema
zusammenfassen und repräsentieren. Ereignisschemata repräsentieren
damit generalisierte "Standardsituationen". (Schwarz
1992, S.89) Da sich diese Schemata stets auf das Handeln beziehen,
werden sie auch als Handlungsschemata
bezeichnet. Daneben wird auch häufig der Begriff Skript
(Ereigniskonzept) verwendet.
Dass solche
Ereignisschemata im Vergleich zu den oben genannten Beispielen viel
komplexer ausfallen, weil sie auf der Integration einer Vielzahl
unterschiedlicher Verhaltenskonzepten beruhen, versteht sich fast
von alleine. Und natürlich unterscheiden sie sich auch danach, wie
viele und welche Art von einzelnen Verhaltenskonzepten, in einem
Ereignisschema repräsentiert werden. Zudem sind sie hierarchisch
aufgebaut.
Die Annahme solcher
Ereignisschemata kann erklären, weshalb es uns gewöhnlich sehr
schnell gelingt, uns in Situationen und an Orten, über die wir, wenn
wir uns darin befinden, relativ leicht orientieren können und ohne
erst viele weitere Informationen darüber zu verarbeiten, schnell,
situationsangemessen und damit letzten Endes ▪
sinnhaft zu handeln.
Müssten
wir immer erst lange überlegen, alle möglichen Informationen
sammeln, um ▪
rational und reflektiert entscheiden zu können, was zu tun ist,
kämen wir mit unserem Leben und bei unseren Interaktionen mit
unserer Umwelt nicht zurecht. Stattdessen stützen wir uns auf unser,
in der Regel unbewusstes, automatisiertes ▪
Routinehandeln, das, im ▪
Langzeitgedächtnis
im ▪
non-deklarativen System des sogenannten ▪
prozeduralen Gedächtnisses gespeichert ist. Als
prozedurales Wissen steht es uns z. B. beim Radfahren, Schwimmen
oder Gehen zur Verfügung steht, ohne dass wir überlegen, wie man die
entsprechende Handlung ausführt.
Wenn wir also z. B.
beim Autofahren von der Autobahn abbiegen wollen, würden wir also
ziemlich wahrscheinlich die Ausfahrt verpassen, wenn die Handlung
Ergebnis von
Rationalhandeln sein müsste. Das bedeutet natürlich nicht, dass
wir in der Realität immer die "richtigen" schemageleiteten
Entscheidungen treffen. Es kann auch passieren, dass das
Ereignisschema, das wir in einer bestimmten Situation aktivieren, um
zu handeln, nicht passt. Dabei muss man nicht einmal an Formen des ▪
Zwangshandelns denken, sondern es reicht ja auch, wenn es zu
sogenannten ▪
Versehenshandlungen kommt, deren Ursache auf unterschiedlichen
Störungen (Interferenzen)
bei der Schema-Aktivierung zurückzuführen sein dürften. Hinzukommt,
dass Ereignis- und Handlungsschemata natürlich auch kulturell
unterschiedlich ausfallen. Wer also z. B. zwischen Japan und
Deutschland hin- und herpedendelt, muss im Rahmen seiner kulturellen
Kompetenz auch unterschiedliche Schemata aktivieren können, um die
automatisierten, auf kulturellen Konventionen beruhenden
BEGRÜSSUNG-Schemata kultur- und situationsgerecht abrufen zu können.
Vielzitiert sind
Ereignisschemata wie KINO- und RESTAURANT-Besuch oder auch BAHNFAHRT
oder ZUGREISE, die alle komplexe Schemata darstellen.
-
So wird beim
Besuch eines Kinos das entsprechende Ereignisschema aktiviert, das den Weg zum Kino, das Lösen der
Eintrittskarten, das Kaufen von Süßigkeiten und Erfrischungen, das
Ansehen des Films und das Verlassen des Kinos und die Beziehung dieser
Elemente zueinander in einer Wissensstruktur organisiert.
-
Und auch ein
Restaurantbesuch lässt sich in
eine Reihe von Szenen einteilen, die selbst "wiederum aus einer
Reihe von Ereignissen bestehen (die entsprechend in konzeptuelle
Primitiva zerlegbar sind)." (Schwarz
1992, S.89) Dies sind die Szenen
Eintreffen (1),
Bestellung (2),
Essen (3),
Gehen (4). (vgl.
Schank/Abelson 1977) Die Szene
Bestellung kann
dabei Ereignisse umfassen wie die Speisekarte in die Hand zu
nehmen, diese zu lesen, sich für ein Gericht zu entscheiden, die
Bedienung rufen, das Ankommen der Bedienung am Tisch, die
Bestellung des Gerichts durch den Gast, das Gehen der Bedienung
zum Koch und die Weitergabe der Bestellung an diesen sowie die
Zubereitung des Essens durch den Koch.
Es können aber auch individuell unterschiedliche Kategorien in
das Ereignisschema integriert sein. So gibt es Personen, die,
bevor sie die eigentliche Bestellung aufgeben, routinemäßig erst
einmal die Toilette aufsuchen, weil sie der Ansicht sind, dass
deren Zustand Hinweise auf die Zustände in der Küche, wo die
Speisen zubereitet werden, geben.
Zur Szene und der Ereignisfolge gehören, wie in den
Ereigniskonzepten sichtbar wird, auch bestimmte Rollen wie
KELLNER und GAST sowie Requisiten wie TISCH oder SPEISEKARTE.
Das RESTAURANT-Schema kann aber auch Feindifferenzierungen
erhalten, die man als spezielle Skripte des Schemas beschreiben
kann. Das sind Schemata bzw. Skripte die auf bestimmte
Ereignisse ▪"getunt"
bzw. ▪"feinabgestimmt"
sind: ein Schnellimbiss-Skript, ein McDonalds-Skript, ein
Starbucks-Skript, ein Cafeteria-Skript oder ein
Nobelrestaurant-Skript etc.
Wie nötig das Verfügen über ein solches feinabgestimmtes Skript
ist, lässt sich immer wieder beobachten, wenn, meist etwas
ältere Menschen, sich bei der Szene
BESTELLUNG bei
Starbucks oder McDonalds schwer tun, weil sie
mit den dafür geltenden Verhaltens- und oder Gesprächsroutinen,
die sich gewöhnlich in hohem Tempo und einem stereotypen
"Frage-Antwort-Spiel" vollzieht.
-
Welchen Beitrag
Ereignisschemata für das Verstehen von sprachlichen Äußerungen
mit ihrem integrierten "nützlichen Schlussfolgerungsmechanismus"
(Anderson
72013, S. 106) leisten, lässt sich an
Propositionen zeigen, die nur dann verstanden werden können,
wenn sie einem dazu passenden, kategorialen Ereignisschema
zugeordnet werden können.
So kann die
Proposition "Ich suchte augenblicklich nach meiner
Fahrkarte, als der Schaffner im Abteil auftauchte." im
Allgemeinen ohne Weiteres verstanden werden, wenn wir sie dem
BAHNFAHRT- oder ZUGREISE-Schema
zuordnen. Dabei ist in diesem
Fall die Zugreise und alles, was damit zusammenhängt, in keiner
Weise explizit erwähnt. In diesem Fall kann man, zumindest
textlingustisch, von einer
Implikation auf Satzebene
sprechen, weil die Proposition die Tatsache, dass jemand eine
Zugfahrt unternimmt, impliziert. (vgl.
Linke/Nussbaumer/Portmann 21994, S.145) In der ▪
Textlinguistik wird dieses dieses Thema auch unter dem
Vorzeichen sogenannter ▪
Präsuppositionen
untersucht, bei denen es im Kern darum geht, "was im Rahmen
einer Kommunikation mit einer Äußerung implizit Mitgegebene"
darstellt, um sie zu verstehen. (Lewandowski
51990, Bd.2, S.833)
▪ Ereignisschemata als
Grundlage des Verstehens von Texten
▪
Kognitionspsychologische Modelle zum Lesen und
Verstehen von Texten
▪
Überblick
▪ Construction Integration Model
(CI-Modell)
▪ Überblick
▪ Die Textbasis: Von der Mikro-
zur Makrostruktur des Textes
▪
Von der
Textbasis zum Situationsmodell des Textes
▪
Bildung von Inferenzen
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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