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Aspekte der Erzähltextanalyse: Kafka, Keine Fabel

Ein Drahtseilakt: Aspekte der Interpretation

 
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Ein Drahtseilakt: Aspekte zur Interpretation von Kafkas "Kleiner Fabel"

Wenn man sich mit der Interpretation von Kafkas Kleiner Fabel befasst, versucht man bis heute, wie Nayhauss (2006, S.60) betont, einen "artistischen Drahtseilakt".

Dieses Kunststück aufzuführen, den vorhandenen Interpretationen namhafter Literaturwissenschaftler eine weitere Interpretation für den Schulgebrauch hinzuzufügen, die den Anspruch einer "geschlossenen" Deutung erheben könnte, soll hier nicht versucht werden.

Stattdessen sollen Aspekte der Interpretation zur Sprache kommen, die in z. T. sehr unterschiedlichen "Drahtseilakten" vorkommen und verschiedene Zugänge zu Kafkas Prosatext deutlich machen.

Der literaturwissenschaftliche und auch literaturdidaktisch am meisten begangene Zugang zur Kleinen Fabel ging und geht über die von Max Brod vorgegebene Gattungsbezeichnung, die sich im Titel des Textes wiederfindet.

Warum »Max Brod (1884-1968), der Freund und Herausgeber der Werke Franz Kafkas (1883-1924), dem Text, der wohl um 1920 entstanden ist, den Titel Kleine Fabel gegeben hat, ist immer wieder Gegenstand von Untersuchungen und Spekulationen gewesen.

Nicht dass der Herausgeber sich damit nicht in seinem editorischen Ermessenspielraum bewegt hätte (vgl. Allemann 1975/1998, S.134, aber Kafka selbst hätte, so kann man offenbar aus den von ihm selbst publizierten Texten schließen, "auf Eselsbrücken dieser Art verzichtet". (ebd.) Die Hinzufügung dieses Titels wirkt für die Rezeption des Textes suggestiv und lenkt den Leser von Anfang an darauf, die Geschichte auf der Grundlage seines Textmusterwissens zur Literaturgattung Fabel zu lesen. Dass Brod das Adjektiv "klein" in den Titel eingebaut hat, soll allem Anschein nach nicht auf ihre besondere Kürze verweisen, weil Kürze für die Fabel als epische Kleinform ja ohnehin kennzeichnend ist. Stattdessen soll das Attribut wohl "a priori einen ironischen Akzent setzen." (ebd.) So ist es aus der Perspektive eines im Umgang mit der Gattung Fabel "kompetenten" Leser betrachtet, durchaus eine übereifrig und "voreilig vorgenommene Ironisierung" (vgl. ebd.), die einer, zumindest zu Beginn des Leseprozesses, textmustergetreuen Rezeption entgegensteht. Sie legt nämlich nahe, dieses Muster im vorliegenden Text nicht absolut ernst zu nehmen. Aber damit zu behaupten, dass der Text Kafkas mit diesem Titel "zerstört" (ebd.) werde, geht doch sehr weit.

In jedem Fall scheint Brod mit seinem Titel versucht zu haben, ein "Überraschungsmoment" (Schlingmann 1995a, S.131) zu setzen, damit die Katze erst am Ende in den Blick des Lesers gerät. Stünden nämlich, so fährt er fort, wie bei Fabeln üblich, "Die Katze und die Maus" im Titel, wäre damit "ein Teil der beklemmenden Wirkung", die dadurch entsteht, dass die Katze erst am Schluss erwähnt wird, abgeschwächt worden.

Dass Kafkas Text zwar zunächst wie eine Fabel rezipiert werden kann, aber letzten Endes keine Fabel darstellt, hat Karl-Heinz Fingerhut (1969, S.171f.) betont. Sie sei vielmehr eine Parabel, weil sie nicht wie in einer Fabel üblich davon berichte, "wie es in der Welt zugeht, d. h. von Zuständen im zwischenmenschlichen Bereich", sondern "ein in Handlung umgesetztes Beispiel des menschlichen Lebenslaufs" darstelle, das die "universelle Determiniertheit der Existenz" ausdrücke.

Interpretationen, die von der Titelgebung des Textes von Franz Kafka ausgehen, sind indessen heutzutage nicht mehr unbedingt en vogue, entsprechen nicht mehr den Prämissen, unter denen die moderne Kafka-Forschung den Text zu fassen versucht.

Für die Neuausrichtung der Interpretation sind dabei vor allem Erkenntnisse über die Bedeutung des jüdischen Hintergrundes in Kafkas Werk verantwortlich. (vgl. Nayhauss 2006, S.62) Erst dieser Ansatz habe von dem interpretatorischen Irrweg "erlöst" (ebd.), den "Generationen von Interpreten" gegangen seien, weil sie der irreführenden Titelgebung Kleine Fabel durch Max Brod buchstäblich auf den Leim gegangen sind.

Literaturdidaktisch ist ein kritischer Umgang mit Max Brods Titelgebung in hohem Maße von Bedeutung. Nicht nur unter dem Aspekt seiner Rekontextualisierung, von der noch zu sprechen sein wird.

Aus literaturdidaktischen Erwägungen ist es wohl am besten, den Text ohne Titel zu präsentieren, um die "poetisch-produktive Ironisierung des Fabel-Prinzips durch Kafka" (Allemann 1975/1998, S.147), auch über die Strukturen des Textes zur Wirkung kommen zu lassen. Gleiches gilt im Übrigen auch, wenn man im Rahmen einer Rekontextualisierungsaufgabe den Text historisch-biografisch analysieren will.

Jemandem, der traditionelle Fabeln kennt, ist die Ausgangssituation des Textes vertraut. Wie sonst auch üblich werden die beiden Tierfiguren ohne weitere Beschreibung eingeführt: Maus und Katze, zwei Figuren, die von vornherein auf bestimmte Charaktereigenschaften festgelegt sind und die, in der Konfrontation miteinander, die Maus von Anfang an als Opfer der Katze erscheinen lässt.
Was sich zwischen den beiden abspielt, scheint bis auf die Tatsache, dass die Katze am Ende die Maus frisst, wie ein Dialog ungleicher Kontrahenten, ganz so, wie es ein mit Fabeln vertrauter Leser erwartet.

Sieht man indessen etwas genauer hin, so zeigt sich schon von Beginn an, dass die Äußerung, die die Maus macht, an keinen bestimmten Adressaten gerichtet ist. Die Klage, die sie anhebt, ist "letztlich monologisch" (Nayhauss 1974, S.242f.), stellt eine Art "selbstgespräch mit dem fixierten sich permanent fixierenden eigenen bewusstsein [sic!]"(ebd.) dar. Auch das, was die Katze sagt, ist "für sich aus persönlichem nutzen, egoistisch, ohne bezugnahme auf etwas intersubjektiv verbindliches [sic!]" gesprochen und "allein den absichten und zwecken des persönlichen bewusstseins verhaftet [sic!]".
In zwei Sätzen, darunter einem längeren Satzgefüge, trägt die Maus in diesem "Schein-Dialog" (Allemann 1975/1998, S.141) zu Beginn ihre Klage, die also "an eine unbestimmte Instanz gerichtet (ist)" (Schlingmann 1968/1976, S.132) mit einem für tiefes Bedauern stehenden "Ach" vor.

Sie äußert sich darin zunächst einmal ganz allgemein über den Zustand der Welt, die sie als mit jedem Tag enger werdend beschreibt. Im Rückblick erinnert sie sich im zweiten Satz, "der ein Musterbeispiel poetischer Abbreviatur darstellt" (Allemann 1975/1998, S.131), daran, dass dies früher anders gewesen ist, als sie noch "so breit" " war" (Z 1). Dabei weiß sie sich daran zu erinnern, dass ihr diese Weite der Welt seinerzeit "Angst" (Z 2) bereitet hat. Ohne den Ausgangspunkt oder den Zeitpunkt zu nennen, zu dem sie mit dem Laufen angefangen hat, erklärt sie: "ich lief weiter" (Z 3), wobei sie offen lässt, wohin sie letzten Endes gelaufen ist. Nur die Tatsache, dass sie "endlich" (Z 2) und "in der Ferne" (Z 3) "Mauern sah" (Z 4), die ihren Ängsten offensichtlich ein Ende setzten und sie "glücklich" (Z 2) machten, lässt vermuten, dass sie ihren Ängsten, gekoppelt an eine diffuse und keinen wirklichen Platz in der Welt zuordnende räumliche Erfahrung, entkommen will. Dabei tut sie dies, ohne eine Vorstellung darüber zu äußern, was sie sucht und was sie andernorts erwartet. Indem sie sich in einem zeitlichen Kontinuum, über dessen Anfang, Ende und Dauer keine Angaben gemacht werden, bewegt, "immer weiter lief" (Z 1), wie sie selbst sagt, verändert sich die Wahrnehmung des surreal wirkenden Raumes, in dem dieses Laufen stattfindet. Nach der im übrigen konturlosen, aber gerade deshalb angstbesetzten Weite, empfindet sie beim Auftauchen von Mauern, rechts und links in der Ferne, Erleichterung. In dem Moment freilich, indem ihr die Erleichterung, die sie beim erstmaligen Auftauchen der Mauern in der Ferne verspürt hat, bewusst wird, sieht sie die "langen Mauern" (Z 2) aber schon "so schnell aufeinander zu(eilen)" (Z 3), dass sie sich "schon im letzten Zimmer" (Z 3) befindet.

Die adverbiale Bestimmung "so schnell", die in die einzige Metapher der Kleinen Fabel eingefügt ist, betont dabei noch einmal die subjektive Wahrnehmung von Zeit und Raum durch die Maus. Raum und Zeit schnurren, wie Schlingmann 1995a, S.133) formuliert, förmlich zusammen.

Die Mauern selbst, so sieht es Allemann 1975/1998, S.131), werden, "was immer sie »eigentlich« bedeuten mögen, zu Chiffren des Welten-Laufs überhaupt, der zudem in unmittelbarster Interdependenz mit dem (Lebens-)Lauf der Maus steht." Diese Sehweise sei für Kafka typisch. Sie nehme in der Bewegung die Objekte, an denen sie ausgeführt werde, quasi mit sich mit, so dass "der Effekt einer stillstehenden Bewegung bzw. eines bewegten Stillstands eintritt." (ebd., S.131, Anmerkung 11, S.148f.)

In Kafkas Kleiner Fabel wird dieses Paradoxon zur ästhetischen Erfahrung des Lesers und ist Teil der insgesamt verfremdet wirkenden Situation. Die Maus läuft, das ist die seit Sokel (1964, S.22), am weitesten verbreite Deutungshypothese, um ihr Leben.

Dabei spielt auch in der Kleinen Fabel "die erzählerische Entfaltung der Räume durch die an die Figuren gebundenen Perspektiven und die damit zusammenhängende Desorientierung" (Andringa 2008, S.333) die entscheidende Rolle.

Die dargestellte Welt entfernt sich dabei von jeder konkreten Raumvorstellung und macht sie damit "sowohl räumlich als auch zeitlich gleichsam unlokalisierbar" (ebd.). So sind wohl auch die in der Kleinen Fabel erwähnten Raumelemente  (Welt, Weite, Ferne, lange Mauern, letztes Zimmer, dort im Winkel und die Falle) keineswegs Objekte, die einen Raum situieren, denn, "was zunächst bloß als ein perspektivischer Effekt nach dem optischen Gesetz der Fluchtlinien vom momentanen Blickpunkt der Maus her interpretiert werden könnte, das Zusammenlaufen der Mauern in einem Fluchtpunkt, erweist sich als die reale Existenz-Perspektive der Maus und der Fluchtpunkt als die Todesfalle, in die sie läuft." (Allemann 1975/1998, S.131)

Mit seiner "verfremdend-reduzierten Dichtungsweise" (ebd.; S.146) wird von Kafka damit "auf kürzestem Weg eine Grenzsituation erreicht" (ebd., S.131)

Am Ende ihres Laufs ist die Maus in dem "letzten Zimmer" (Z 4) angelangt, wo "in einem Winkel" "die Falle steht" (Z 4), in die die Maus unweigerlich laufen (wird). Die Maus kann dieser Falle aus ihrer Sicht der Dinge nicht entgehen, und das ist im Bild ihres (Lebens-)Laufs gesehen auch nicht zu ändern.

Dies wird durch die Aussage der Katze, die, wie eingangs schon erwähnt, nur scheinbar eine Antwort auf die Äußerung der Maus gibt, in zynischer Weise ironisch kommentiert, "indem sie die Klage der Maus zweifach Lügen zu strafen scheint - erst verbal und dann auch noch faktisch, durch das pointierte Auffressen der Maus" (Allemann 1975/1998, S.137).

Es ist insbesondere die Äußerung der Katze "Du musst nur die Laufrichtung ändern" (Z 5) , die "den Text im ganzen rückwirkend färbt und nochmals in ein anderes Licht rückt." (Allemann 1975/1998, S.138)

Dass die Katze in diesem Zusammenhang so von einer "Laufrichtung" spricht, wie man das im alltäglichen Sprachgebrauch auch tut, und dies entsprechend wörtlich zu nehmen scheint, "während die Rede der Maus das Wortkonzept vom »Lebenslauf« stillschweigend voraussetzt" (ebd., S.141), ist nach Ansicht Allemanns ein "Sprachwitz" (ebd.), den sich die Katze deshalb leisten kann, weil sie sich der Maus völlig überlegen fühlt.

Dabei fügt sich ihr Ratschlag, der letzten Endes auf einem Missverständnis (vgl. ebd., S.140) beruht, fast nahtlos ein, in das Ensemble problematischer, weil verfänglicher Ratschläge, die andere vermeintliche Helferfiguren den jeweiligen Hauptfiguren in anderen Erzählungen Kafkas, man denke hier nur an den Schutzmann in "Gibs auf", erteilen. (vgl. ebd.)

Offen lässt die Kleine Fabel, den nach Richard Thieberger (1979, S.376) "kritischen Punkt der Geschichte und ihrer Interpretation", der, wenn man die Fabelhandlung ernst nimmt, in der Frage münde: "Hat sich die Maus nun umgedreht oder nicht?" (ebd., zit. n. Schlingmann 1995a, S.133)

Auch wenn man mit Thieberger davon ausgeht, dass die Maus sich tatsächlich umwendet, die Laufrichtung ändert und damit erst in die Fänge der Katze läuft, wie es auch die nachfolgende Skizze einer Schülerin zu ihrem Vorverständnis des Textes dokumentiert, bleiben Fragen offen. Denn wie Schlingmann (1995a, S.134) einwendet, widerspricht ja genau die Tatsache, dass die Maus der Katze Vertrauen schenkt, "der Natur und den Regeln der Fabel und ist auch in Kafkas Fragment »Eine Katze hatte eine Maus gefangen ...« nicht angelegt."

Dass in Kafkas Werk überhaupt Tiergestalten auftauchen, man denke nur an Gregor Samsa in seiner Erzählung »"Die Verwandlung", der eines Morgens als Käfer erwacht, scheint auf den ersten Blick nicht recht zu den doch sehr komplexen und hintergründigen Erzählverfahren zu passen, die Kafka auszeichnen. (vgl. Allemann 1975/1998, S.127)

Mit den Tieren, die in der Literatur im übrigen "eine volkstümliche, auch dem kindlichen Gemüt angepasste Darstellungsweise" signalisieren, dringt offenbar nach Ansicht Allemanns "auch in die Prosa Kafkas ein Hauch von kindlicher Spielfreude, von Märchen- und Wundergläubigkeit" ein (ebd.).

Doch Kafka wäre nicht Kafka, ginge die Verwendung von Tierfiguren in der seit der Antike von »Aesop bekannten Anthropomorhisierung auf. Die Erwartungen, die die Tierfiguren erzeugen, werden indessen nicht erfüllt. Vergleichsweise schnell sieht sich ein kompetenter Leser nämlich in eine spannungsvolle Situation zwischen diesen Erwartungen und den hintergründigen Absichten des Autors gestellt, die ihn zur Erkenntnis gelangen lassen, dass die Tiere Kafkas eben "nicht ohne weiteres ausdeutbar" (ebd., S.128) sind.

So bleibt vielleicht nur eine Deutung ihrer Funktion im Ganzen, wie sie Karlheinz Fingerhut (1969, S. 171f.) im Rahmen seiner Interpretation der Kleinen Fabel als Parabel vornimmt. Danach bringen die Tierfiguren zum Ausdruck, "dass das Menschliche nicht mehr völlig von der tierischen Determination zu trennen ist."

Vertreter der neueren Kafka-Forschung haben mit den an der editorischen Willkürmaßnahme Max Brods ansetzenden Interpretationen radikal den Rücken gekehrt.

So wird das Werk Kafkas im Allgemeinen und die Kleine Fabel im Besonderen im Anschluss an die Arbeiten von Karl Erich Grözinger (1987, 1992) und anderen im Umfeld (seines) Judentums als assimilierter Jude (re-)kontextualisiert.

Dieser Ansatz, der lange Zeit wenig beachtet wurde und vielleicht das Ergebnis eines von der deutschen Forschung geförderten "Verdrängungseffekts" war, "der das Werk Kafkas in den Rang von Weltliteratur gehoben hat und es daher von allen Abhängigkeiten vom Judentum frei halten wollte" (Nayhauss 2006, S.57), sieht im Judentum Franz Kafkas den eigentlichen Schlüssel zu seinem Werk.

Für Grözinger (1987, 1992) ist dabei klar, dass die Tiergestalten in Kafkas Werk keine Metaphern und seine "Tiererzählungen" auch keine Fabeln sind.

Nayhauss (2006, S.63) fasst die Ergebnisse der Forschungen Grözingers wie folgt zusammen: In den Tiergestalten "offenbaren sich (...) menschliche Schicksale in tierischen Leibern. Tiere in Kafka-Texten sind Menschen, die der Strafe der Seelenwanderung, dem Gilgul, unterliegen. Dazu werden nach jüdischer Auffassung menschliche 'Seelen verurteilt, deren Sünde nicht im Purgatorium tilgbar ist oder die ihre seelische Vollendung noch nicht erlangen konnten' (Grözinger 1992, S.114)

Diese Tierleben sind also 'menschliche Leben oder Geisterleben von sündigen Menschen, die nicht zur ewigen Ruhe eingehen können' (Grözinger 1992, S.130). Grözinger hat herausgearbeitet, dass menschliches Leben in Tieren und auch in Dingen 'immer als Leben im Gericht verstanden' wird, 'als Leben un Schuld und erleidender Sühne' (Grözinger 1992, S.121). Menschen, die solchen Tieren begegnen oder mit ihnen zusammenleben, haben diesen gegenüber eine ganz persönliche Verantwortung, das sie an ihrer Sünde teilnehmen und verpflichtet sind, der Seele im Tiere zu helfen, ihre Sühnung zu erlangen, denn die Tiere haben nach der Kabbala Lurjas dieselbe Selenwurzel wie der ihnen begegnete Mensch.(Grözinger 1992, S.121) [...] Der Tod entweder des Tiers oder der vom Tier angegriffenen Gestalt [...] ist immer die Erlösung von der Seelenwanderung, die vollzogene Sühne. Im Tod erfahren die Gestalten 'Rettung'". (Nayhauss 2006, S.63)

Auf die Kleine Fabel übertragen, führt dieser Ansatz zur Erkenntnis, dass auch der in diesem Text vorhandenen Figurenkonstellation "das Prinzip der Seelenwanderung zugrunde(liegt)." (ebd., S.64)

So hätten Katze und Maus als reinkarnierte Gilgulwesen gleichermaßen die Strafe der »Seelenwanderung zu tragen. Dabei fühle sich die Katze verpflichtet, der Maus dadurch zu helfen, dass sie sie auffresse. Indem sie dies tue, helfe sie nämlich der Maus, ganz im Sinne der jüdischen »Kabbala, der mystischen, mündlich überlieferten Tradition des Judentums "die seelische Vollendung zu erlangen." (ebd.)

Nichts macht deutlicher, wie dieser Rekontextualisierungansatz auf den Kopf stellt, was ansonsten unter dem Blickwinkel der "aufgeklärten westeuropäischen Welt" (ebd.) im Verhalten der Katze gesehen wird: ein egoistisches und sadistisches Spielen der Katze mit der Maus. Stattdessen sind Katze und Maus im Bild der Seelenwanderung in ganz anderer Weise aufeinander angewiesen, "sie müssen sich beide helfen, um die Vollendung zu erlangen. Befreit also die Katze die Maus von ihrer angstvollen Seelenwanderung, so bietet die Maus der Katze die Gelegenheit zur tätigen Solidarität." (ebd., S.65) Ganz wie in den volkstümlichen Gilgul-Geschichten wird das, was sich im gegenwärtigen Leben der Maus ereignet, durch ihr Vorleben gerechtfertigt. Daraus geht nämlich hervor, dass "ihre wachsende Angst, die aus der anfänglichen Orientierungslosigkeit aufkeimt [...] und das Leiden an der wachsenden Enge auf dem Weg zur unausweichlichen Falle" darauf beruht, dass sie in einem Gerichtsprozess angeklagt sei, den sie aber nicht nur erdulden, sondern auch mitbeeinflussen könne. Das Gericht selbst stehe dann wohl für ein letztes oder sogar das »Jüngste Gericht. Mit der Befolgung des Ratschlags der Katze, die Laufrichtung zu ändern, hätte sie dazu Gelegenheit gehabt. Weil sie aber darauf verzichtet, eine solche Wendung herbeizuführen, "muss die Katze geradezu zum letzten Hilfsmittel greifen: Sie frisst die Maus, um sie zu erlösen, denn die Strafe des Gilgul muss immer vollendet werden." (ebd.)

Wer dem Text ohne das zu seiner Rekontextualisierung nötige Wissen begegnet, spürt schnell heraus, dass Kafka den Leser in der Kleinen Fabel "förmlich auf der Geschichte sitzen" lässt. (Allemann 1975/1998, S.129)

Entsprechend hält Allemann auch überhaupt nichts von der philologischen "Kleinkunst", der Geschichte am Ende eine "Moral" bzw. nachgestellte Lehre (Epimythion) überzustülpen, nach dem Muster: "Der Schwächere tut gut daran, nicht auf den Rat des Stärkeren zu hören, zumal wenn dieser sein natürlicher Feind ist." (ebd., S.129) Sie verfehle die Intention des Textes deutlich. Geeigneter scheint dagegen zu sein, die Kafkas "Schreibstrategie" (Vogt 2008, S.65) auszeichnende "Kombination von einfachem Wortlaut und Gattungsschema, sprachlicher Vieldeutigkeit und Deutungsabstinenz des Erzählers" (ebd.) hinzunehmen und damit dem Text die Vieldeutigkeit zu lassen, die auch das Gesamtwerk Kafkas weltberühmt gemacht hat. (vgl. ebd.)

Kafkas "Schreibstrategie" folgt dem Gattungs-Schema, insbesondere Gotthold Ephraim Lessings (1719-1781) fabeltheoretischem Konzept so genau, dass man "zunächst kaum eine Abweichung von der dort entwickelten Norm entdecken" kann (ebd., S.130) So würden Katze und Maus kommentarlos eingeführt, ihr Verhalten entspräche den üblichen Charakterrollen und die Situation, in der ein Schwächerer mit einem Stärkeren konfrontiert werde, ist einem literarisch sozialisierten Leser vertraut. So bringt ihn das alles natürlich dahin, seine Erwartungen am traditionellen Textmusterwissen Fabel auszurichten.

Allerdings soll damit die Komplexität der Rezeption literarischer Texte nicht auf dieses Textmusterwissen reduziert werden, denn, wie Jochen Vogt (2008, S.63) betont, "(sind) Lesarten und Interpretationen (...) abhängig von dem Wissensstand und Problembewusstsein, das wir bei der Lektüre mitbringen. Wir interpretieren einen Text immer im Rahmen oder Horizont unserer eigenen Erfahrung. Und der ist sowohl individuell wie kollektiv geprägt; er umfasst unser historisches Wissen, aber auch unsere ästhetische oder literarische Erfahrung."

Kafka kann das Fabelschema aber nicht in einem auf einem festen Wertehorizont gründenden Ende aufgehen lassen, so wie es die die didaktische Form seit Aesop, über La Fontaine bis Lessing ausgezeichnet hat. Seine bemerkenswerte Kunst besteht jedoch darin, dass er dennoch, so die Analyse von Allemann (1975/1998, S.145) an ihrer tradierten Struktur "bei vollem Bewusstsein ihrer inneren Unmöglichkeit" festhält und das "nicht durch offene Parodie oder im üblichen Sinn scherzhafte Behandlung des Genus, sondern durch eine sublime Transposition mit Hilfe des Prinzips der Ironie."

Die Prosafabel, so wie sie in der Gattungsgeschichte tradiert worden ist, war für Kafka nur "in einer fundamental ironischen Brechung" (ebd., S.144) machbar. Die "poetisch-produktive Ironisierung des Fabel-Prinzips durch Kafka" (ebd S.147) macht sich die von der Gattung geforderte "Ko-Produktion", die "Interpretationsbereitschaft ihrer Leser" (Vogt 2008, S.63) zunutze, "die aus Erfahrung wissen, dass es nicht um Katz und Maus geht [...], sondern dass die Tiere symbolische Stellvertreter" sind. (ebd., S.64) Wofür sie indessen stehen, ist nicht im Text zu finden, sondern entsteht im Bewusstsein des Leser, ist Ergebnis eines intrapsychischen Vorgangs, der Lesen und Deutung umfasst. Daher sind die möglichen Interpretationen der Kleinen Fabel, die so viel offen lässt, prinzipiell unendlich, im engeren Sinne jedoch begrenzt durch die "Zugehörigkeit zu einer bestimmten Interpretationsgemeinschaft" (ebd., S.63). Deren Mitglieder übertragen z. B. "die unbequeme Lage der Maus in Kafkas enger Welt [...] auf jede ausweglose Situation, jeden unlösbaren Konflikt [...], in den jemand gerät - sei es ein Individuum oder eine Gruppe, bis hin zur Menschheit (sagen wir beispielsweise: zwischen Ozonloch und Atomgefahr). Die Katze wiederum kann mit jeder nur denkbaren verderbenbringenden Macht identifiziert werden - und weil diese Struktur Kafkas Werke durchgehend bestimmt, gibt es zu ihnen auch so unendlich viele und unterschiedliche Interpretationen ..." (ebd., S.64f.)

Ohne dem Text durch solche Analogien Sinn zu geben, betont Peter-André Alt (2005/2008, S.571) in seiner Kafka-Biografie, dass der Text "nicht das »Beispiel der tragischen Ironie des Lebens« [H. W. Sokel 1964/1976, S.23] liefere, sondern "die Bestätigung der Differenz zwischen Realität und Fiktion", die ihren Lesern "den Täuschungscharakter aller Auslegungen vor Augen stellt." (ebd., S.572)

Konsequenterweise wird damit von Alt auch die Sinnlosigkeit unterstrichen, den Text in einem herkömmlich interpretatorischen "hermeneutischen Annäherungsprozess" (ebd.) fassen zu wollen. Stattdessen offenbare sich "die verdeckte Quintessenz" (ebd.) der "abgründige(n) Geschichte" (ebd. S.571) in einem "Akt der gleichsam mystischen Versenkung" (ebd., S.572)

Auch wenn man diesen "esoterisch" anmutenden Aneignungsprozess kritisch sehen mag, schaut man über die Kleine Fabel hinweg auf das gesamte Werk Kafkas, dann bleibt mit Andringa (2008, S.333) doch festzuhalten, dass die "bei Kafka strukturell angelegte Geschichts- und Ortlosigkeit", die ja häufig genug häufig befremdend wirkt, erst die "unendliche Vielfalt von Konkretisierungen" ermöglicht, die den Umgang mit Kafkas Werk insgesamt auszeichnet. Dies gilt wohl uneingeschränkt auch für Kafkas Kleine Fabel, die wie andere Werke des Autors eben auch, "mit Vorstellungen und Ideen aus verschiedensten Zeiten, Welten und Kulturen verbunden und analogisiert werden kann." (ebd.)

Und zum Wesen dieses Werkes gehöre die Erkenntnis, so Andringa weiter, dass es wenig bringt, wenn es immer wieder aktualisiert oder (re)kontextualisiert wird, "denn es bietet ein der Geschichte und dem Raum enthobenes Gerüst, das immer wieder anders ausgefüllt werden kann." (ebd.)

Ob die Interpreten wirklich - auch mit neueren Interpretationsansätzen - mit der Kleinen Fabel "fertig" werden können (vgl. Nayhauss 2006, S.62), lassen wir dementsprechend dahingestellt.

Der Tendenz, die Kleine Fabel ohne den Anspruch auf ihre (Re-)Kontextualisierung fassen zu wollen, wird aber von Nayhauss (2006, S.62), der damit die Positionen, die er in seiner früheren Analyse des Textes (Nayhauss 1974) eingenommen hat, deutlich revidiert, widersprochen.

Wer den jüdischen Hintergrund "im Denken, Fühlen und Darstellen" nicht kenne oder nicht zur Kenntnis nehmen wolle, "der vermag zwar mit gutem Recht die Leerstellen mit allen möglichen Fragmenten seiner Welterkenntnis auszufüllen, ist jedoch nicht in der Lage, weder der ästhetischen noch der poetischen durch das Judentum eingefärbten Semantik des Autors auf die Spur zu kommen. Er bleibt, um es mit Kafka zu sagen, trotz seiner ungeheuren Welt, die er im Kopfe hat, draußen vor der der Tür dieser Geistigkeit." (Nayhauss 2006, S.62)

Für die Literaturdidaktik kann dies, so Nayhaus weiter, nicht folgenlos bleiben, denn zu ihren Aufgaben zähle, Materialien bereitzustellen, die "zum besseren Verständnis, zur Klärung der Verstehensbedingungen" beitragen.

Dies gelte um so mehr, "wenn jegliches Textverständnis durch totale Fremdheit blockiert ist". (ebd., S.58) Ohne die Rekontexualisierung könne jemand, der "den theologisch-anthropologischen Hintergrund der ostjüdischen Erzählungen von Gilgui (das göttliche Gericht am Menschen als Strafe der Seelenwanderung)" nicht kenne und "keine Ahnung" von kabbalistischen Sagen und Geschichten" habe, die Kafka seinerseits gut kannte, "den Text letztlich nur (!)" aus einem begrenzten Horizont und damit selektiv wahrnehmen und die Kleine Fabel damit "als surrealistische oder phantastische Geschichte rezipieren, vielleicht gar psychologisieren, da das der leichteste Weg ist." (ebd.)

Auch wenn die Ergebnisse der neueren Kafka-Forschung einen unter literarwissenschaftlichen Überlegungen betrachtet, enormen Erkenntnisgewinn bringt, indem sie einer rekontextualisierenden Interpretation ganz neue Wege eröffnet hat, bleibt die "ahnungslose", allerdings deshalb nie voraussetzungslose Konkretisierung der Ansatz, der auch weiterhin einen legitimen Zugang zu diesem Text verschaffen kann. Dies gilt in besonderem Maße in der Schule im Umgang mit der Kleinen Fabel, die, wie kaum ein anderer Text in einer weitgehend unbefangenen Rezeption zu den unterschiedlichsten Deutungsversuchen geradezu einlädt, ohne den Anspruch auf eine rekontexutalisiert "richtige" Interpretation zu erheben.

Gert Egle (2014)

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 14.11.2023

   
    
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