Die Einteilung der
▪
Literaturgeschichte
in mehr oder weniger klar voneinander abgrenzbare Epochen, wie sie vor allem
die ältere Literaturgeschichtsschreibung vorgenommen hat, ist in der
Literaturwissenschaft schon seit langem problematisiert worden und hat zum
Teil dazu geführt, dass der
Ordnungscharakter von Epochenbegriffen zur
Beschreibung der literarischen Entwicklung aufgegeben, zumindest aber
grundlegend relativiert worden ist.
So begründet der
US-amerikanische Mitherausgeber »David
Wellbery (geb. 1947) in der Einleitung des Sammelwerks unterschiedlicher
Verfasserinnen*
"Eine neue Geschichte der deutschen Literatur"
(2007,
S.15), dass die
"traditionelle Literaturgeschichte (...) einzelne Texte und Darstellungen
nicht als einzigartige Ereignisse, sondern als Veranschaulichungen einer
Macht, einer Neigung oder einer Norm – als Geist eines Zeitalters oder einer
Nation,
als Klassenvorliebe oder ästhetisches Ideal (behandelt)."
Statt das
Augenmerk darauf zu richten, wie man einen "individuellen Fall als typisch
für etwas anderes" betrachten könne, komme es im Umgang mit Literatur darauf
an, "die »datierbare« Einzigartigkeit und Zufälligkeit von Literatur" in
einer erregenden Leseerfahrung zu ermöglichen, die den Charakter einer wirklichen
»Begegnung« (hat).
Literaturgeschichte soll über exemplarische
Begegnungen mit Autorinnen* und ihren ausgewählten Werken, die im Einzelfall
wie ein Zusehen beim jeweiligen Schaffensprozess ausfällt. ("Goethe, dem Titan der
deutschen Literatur, begegnet man auf diesen Seiten nicht in seiner ganzen
Monumentalität, sondern während drei oder vier aufschlussreichen
Augenblicken seiner Laufbahn. Wir sehen ihm zu, wie er seinen »Werther
schreibt, seine »Römischen Elegien
zensiert und seinen »Faust
für abgeschlossen erklärt;" (ebd.))
Immer geht es eher darum zu erkunden, statt zu katalogisieren.
Die
Literaturgeschichte wird damit zu einem Raum der Spurensuche, in dem
angestrebt wird, "die
Möglichkeiten des Anekdotischen und des nicht
Kontinuierlichen" (ebd.,S.16)
für eine "plötzliche Erhellung" (ebd.)
zu nutzen.
Zugleich soll Literaturgeschichte damit "eine lebendige Quelle" (ebd.,S.20)
werden, mit deren Hilfe sich die "vom menschlichen Denken geschaffenen
Komplexitäten unserer Welt (...) erkunden" (ebd.)
lassen.
Dieses Konzept vertraut auf neugierige Leserinnen* mit ganz
unterschiedlichen Interessen, die sich motiviert und mit der nötigen
volitionalen Bereitschaft auf eine solche Spurensuche in einer Art »wahlfreiem
Zugriff (random acess) begeben wollen, der "an vielen,
nach Belieben gewählten Orten Zugang gestattet und unterschiedliche Lektüren
ermöglicht" (ebd.,
S.21).
Eine solche Literaturgeschichte, die sich auf die Chronologie statt
auf Epochenkonstrukte bei ihrer Darstellung stützt, will
-
bewusst "eine
Geschichte (...) erzählen (...)"
-
"viele Geschichten" in
- einen
intertextuellen - Bezug zueinander
setzen und damit
-
"unterschiedlichen Typen von Neugierde, voneinander
abweichenden Mustern Raum (...) geben" sowie
-
"unterschiedliche – und oft
dissonante – Resonanzen vernehmbar (...) machen. (ebd.)
Zugleich, und dies gelte selbstredend auch für einen solchen Ansatz,
solle sie selbstreflexiv vermitteln, dass es
sich hierbei auch nur "um eine Geschichte der deutschen Literatur" handle, die aber
ihrem Gegenstand nicht eine einzige Ordnung aufzwinge, sondern Spuren vieler
Stränge aufnehme, die ihren Leserinnnen* auch das Setzen eigener Wegmarken
und Konfigurationen durch die Literaturgeschichte ermögliche. (vgl.
ebd., S.24)
Schönert (2014)
zählt bei seiner Unterscheidung verschiedener "Lebensformen" diese
Literaturgeschichte zu den zahlreich nebeneinander existierenden
Literaturgeschichten, die allerdings nicht für die akademische
Öffentlichkeit gedacht seien. Vor allem der
präsentische Literaturbegriff,
der dieser Literaturgeschichte zugrunde liegt, hat den Anstoß zur Kritik
gegeben. Dieser behandelt die Literatur nämlich nicht als "Ansammlung von
Texten in in chronologischer Reihe (...), die Aussagen zur geschichtlichen
Welt erlauben, sondern um dem geschichtlichen Strom enthobene Objekte, die
in der Rezeption eine unmittelbare Gegenwart" (Buschmeier
2014, S17f.) erzeugen. Genau darüber schlägt der Ansatz aber die Brücke
zu •
poststrukturalistischen Konzepten von Intertextualität.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.12.2024