Dass das •
literarische Lesen überhaupt
unter Berücksichtung historischer Aspekte zu konzeptionalisiert wird, ist
vor allem auf drei Argumentationen gestützt: Auf das "Kanonargument",
auf das Argument
»historisches Bewusstsein« sowie auf
pädagogische
bzw. bildungspolitische Argumente. (vgl.
Fingerhut 32019,
S.259)
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Die
Kanonargumentation geht davon davon
aus, dass jedes Mitglied der Kulturgemeinschaft bedeutende Werke der
National- und Weltliteratur kennen sollte. Begründet wird dies
gewöhnlich damit, dass diese Kenntnisse, die Ich-Identität des Einzelnen
stärke und die Kommunikation und Verständigung zwischen Generationen und
verschiedenen Nationen erleichtere. Aus diesem Grunde, so die
Schlussfolgerung, seien die Texte, die zum literarischen Kanon gehörten,
auf den Kontext ihrer Epoche und/oder ihrer Entstehungszeit zu lesen.
Dies ermögliche am Ende, dass das "uns Ähnliche vom uns Fremden"
unterschieden werden könne. (vgl.
ebd.)
-
Die
Argumentation
mit dem historischen Bewusstsein geht davon aus, dass jedes
Individuum sich als geschichtliches Wesen verstehen sollte und dass dazu
auch die Kenntnis gehört, Teil einer Familien-, Regional-, National-
oder auch Weltgeschichte zu sein. Dieses Selbstverständnis wird durch
den immer enger bzw. genauer werdende Orientierungsrahmen gefördert, den
die Fakten-, Kultur- oder auch die Mentalitätsgeschichte anböten. Ziel
der geschichtlichen Ausrichtung des literarischen Lesens sei die
Vernetzung unterschiedlicher Wissensbereiche wie z. B. der Geschichte,
der Literatur, der bildenden Kunst etc. (vgl.
ebd.)
-
Die
pädagogische
zw. bildungspolitische Argumentation betont, dass literarische
Texte eine Art von "Denkbildern" anbieten, in denen man menschlich
allgemein Bedeutsames wiederfinden und zur Reflexion nutzen könne.
Literarisches Lesen dient im Rahmen dieser Argumentation zur
Selbstverständigung. Selbstvergewisserung und Horizonterweiterung. Da
die Kanontexte unterschiedliche "Denkbilder" aus verschiedenen
Zeiträumen präsentierten, könne sich der Rezipient damit
auseinandersetzen und die "Freiheit des Interpreten" gewinnen. (vgl.
ebd.)
Nicht nur wegen solcher
Argumentationslinien kann ▪
Literaturgeschichte
im schulischen Literaturunterricht ihr Augenmerk auf ganz unterschiedliche
Aspekte richten.
In der Schule dient sie aber vor allem dazu, das für die ▪
Kontextualisierung von literarischen Texten
nötige
• Überblickswissen
bereitzustellen, das zu einem vertiefteren Verständnis von Texten einer
bestimmten Zeit und/oder einer bestimmten Epoche verhelfen soll. Dabei ist
die Literaturgeschichte als Fachdisziplin schon länger zum Terrain von
Kontroversen geworden, die vor allem das Epochen-Paradigma, die Einteilung
in verschiedene ▪
Literaturepochen, betreffen.
In der Rubrik »Stimmen
zur Literaturgeschichte hat das Projekt unter dem Reiter "Polyphonie
der Literaturgeschichte auf der Webseite des Projekts »LiGeDi
der Universitäten Bielefeld und Paderborn sowie der Bergischen
Universität Wuppertal einige Statements ausgewiesener
Literaturwissenschaftler*innen zusammengestellt, die zeigen, wie
unterschiedlich in der Disziplin der Blick auf Literaturgeschichte ist. Sie
können dort nachgelesen werden. Der Beitrag von Anne-Rose Meyer, Professorin
für Literaturwissenschaft, ist dabei besonders beeindruckend:
"Literatur", so sagt sie,
"ist ein faszinierendes Universum, das nie vollständig ausgeleuchtet werden
kann. Die Beschäftigung mit seiner Geschichte macht Sternenbilder sichtbar,
Beziehungen zwischen Werken und Menschen, Konstellationen in Raum und Zeit,
Vorstellungen vom Schönen in einem bestimmten Moment. Die dunklen Bereichen
weiter zu erforschen und die hellen genau zu kartographieren, ist unser
Ziel."
Literaturunterricht bewegt
sich dort, wo er sich auf das Terrain der Literaturgeschichte wagt, auf
einem von den fortwährenden Debatten in der Fachwissenschaft
vergleichsweise verminten Gelände. Und Lehrkräfte, die dies tun, sehen sich,
auch angesichts der Tatsache, dass die Bildungsstandards die Bedeutung von
literaturgeschichtlichem Wissen für die Entwicklung literarischer Kompetenz
zwar für unverzichtbar erklären, zugleich aber nur vage Angaben dazu machen,
ziemlich auf sich allein gestellt. Angesichts der "schieren Unmenge an
möglicher Kontextualisierung" (Buschmeier
2014, S.18) sollen sie in individueller Verantwortung die erforderliche
didaktische Reduktion vornehmen und damit jene Zugänge zu relevanten literaturhistorischen
Kontexten schaffen, die für konkrete Aufgaben im Rahmen der •
schulischen Textinterpretation nötig sind.
Die
Kontroversen der literaturgeschichtlichen Theorie haben hier sicher auch mit
dazu beigetragen, dass es sich Literaturgeschichte im Unterricht immer noch
so schwer tut. Wenn auf der einen Seite von der
Literaturgeschichtsschreibung gefordert wird, "sie solle »endlich« wieder
normativ und kritisch sein, eine Kanonbefragung initiieren und leitende
Ideen entwerfen ", und es auf der anderen Seite "zugleich das Unbehangen und
die Skepsis gegenüber der großen Erzählung" (Buschmeier
2011, S.440), gibt, haben es nicht nur Wissenschaftler*innen, sondern
auch Fachdidaktiker*innen und Lehrkräfte schwer, sich in diesem literaturgeschichtlichen Dickicht
zu orientieren und zu positionieren. So darf es auch nicht
verwundern, "wenn die Literaturgeschichte derart umstellt von Stoppschildern
und Durchfahrtsverboten" von vielen gänzlich in Frage gestellt "oder zu einem,
wenngleich nicht ganz unnützen, doch bloßen Nebenprodukt der
Interpretationsbemühungen" degradiert wird. (Buschmeier
2014, S.19)
Die Debatte um die
Fundierung und Ausrichtung der Literaturgeschichte hat natürlich
auch in der Literaturdidaktik Spuren hinterlassen. Unbestritten ist, dass
der epochenzentrierte Literaturunterricht vergangener Tage heute auch dann
passé ist, wenn man im Epochenwissen weiterhin ein sehr wichtiges
Element sieht, das zur ästhetischen Bildung und damit zur ästhetischen
Rezeptionskompetenz gehört. (vgl.
Zabka 2003, S.28)
Lern- und
kognitionspsychologisch können Epochenkonstrukte, ähnlich wie
Gattungskonstrukte, sofern man kritisch und reflektiert mit ihnen umgeht, durchaus hilfreich
sein. Sie können helfen, bestimmte
Phänomene historisch einzuordnen und den Rahmen für intertextuelle
Vergleiche abzustecken. (vgl.
Kepser/Abraham
42016, S.59)
Dabei muss sich die
Literaturdidaktik aber grundsätzlich der Tatsache bewusst sein, dass •
Epochenkonzepte aus
verschiedenen Gründen problematisch sind. Im Grunde ist "der
Erklärungswert von Epochenkonstrukten im Handlungsfeld 'Literatur' (...) auf Haufenbildungen in bestimmten Zeitrahmen"
begrenzt und
dies "selbst dann, wenn Literaturgeschichte als 'Sozialgeschichte'
konzipiert ist (...) und die Lesekultur berücksichtigt wird." (Kepser/Abraham
42016, S.58)
Und
neben etlichen anderen ▪
Einwänden gegen die
traditionellen Epochenkonzepte wirken die herkömmlichen
Epochenkonstrukte mit ihrer Verengung auf die nationale Literaturentwicklung
wie aus der modernen Zeit gefallen. Angesichts einer globalisierten Welt und der Neuausrichtung auch der
Geschichtswissenschaften weg vom nationalstaatlichen und hin zu einem
wenigstens europäischen, wenn nicht globalen Diskurs, ist es auch heute noch
unzureichend, wenn die Einbeziehung von Werken der Weltliteratur in den
Literaturunterricht an den Gymnasien weiterhin auf eine •
Randbemerkung in den neueren Lehr- und Bildungsplänen beschränkt bleibt.
Aber selbst wenn unstrittig ist, dass eine zeitgemäße
Literaturgeschichte "nicht auf einen Sprach- und Kulturraum, schon gar nicht auf eine
bestimmte Nation beschränkt" (ebd.)
sein kann und auch die Geschichte anderer Medien mit einbeziehen muss,
steckt z. B.
eine gobalgeschichtlich orientierte Literaturgeschichtsschreibung noch in
den Anfängen und bewegt sich im ▪
Spannungsfeld zwischen Mono- und Multiperspektivismus.
Insgesamt
gesehen hat die ▪
Kompetenzorientierung des
Literaturunterrichts "die Rolle fachlichen Wissens für
die Lösung fachlicher Probleme wieder stark akzentuiert." (Born/Kämper-van
den Boogaart 32019, S.91), auch wenn sie nur "am Ende
der Sekundarstufe I sowie im Oberstufenunterricht und dort eng mit
der Vermittlung von Epochenkonzepten verknüpft" (Kepser/Abraham
42016, S.56), größeres Gewicht erhalten hat.
Zu diesem Fachwissen
gehört hier jedenfalls auch ▪
literaturgeschichtliches
Wissen, weil es neben anderen Aspekten, wie z.B. die Ermöglichung von Alteritätsserfahrungen, literaturgeschichtliche Phänomene in räumliche
und zeitliche Ordnungsmuster bringen kann, die als zu reflektierende ▪ dynamische
kognitive Schemata die ▪
Slots (Leerstellen) bieten, an denen die Elemente des erworbenen
Überblicks- bzw. Orientierungswissen mental "andocken" können.
In den ▪
KMK-Bildungsstandards für die schriftliche Abiturprüfung im Fach Deutsch
(2012) im ▪
Kompetenzbereich
▪
Sich mit literarischen Texten
auseinandersetzen wird die Bedeutung ▪
literaturgeschichtlichen und poetologischen
Überblickswissens ausdrücklich eingefordert und in den
verschiedenen
▪
Lehr- und Bildungsplänen der
Bundesländer in Kompetenzerwartungen und Standards umgesetzt
(z. B.▪
Bayern,
▪
Baden-Württemberg).