Als kulturelles Gedächtnis
bezeichnen die deutschen Kulturwissenschaftler »Aleida
Assmann (geb. 1947) und »Jan
Assmann (1938-2024) "die Tradition in uns, die über Generationen, in
jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten
Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser
Selbst- und Weltbild prägen." (Jan
Assmann 2006,S.70) Unsere Erinnerungen sind demnach eben auch "kulturell
»eingebettet«" (ebd.,
S.69)
Im Gegensatz zu den
neurobiologischen, wahrnehmungs- und kognitionspyschologischen Konzepten des
•
Gedächtnisses richtet sich der kulturwissenschaftliche Blick auf die
"technischen und kulturellen Medien des Gedächtnisses" (Aleida
Assman 32006, S.19)
Das kulturelle Gedächtnis,
betont Aleida Assman weiter, setze sich nicht einfach fort, sondern müsse
immer wieder neu ausgehandelt, etabliert, vermittelt und angeeignet werden.
Dabei müsse dieses "generationen- und epochenübergreifende Gedächtnis" mit
unterschiedlichen kulturellen Praktiken aufgebaut werden. Dies bedeute aber
auch, "daß sich mit dem wandelnden Entwicklungsstand dieser Medien auch die
Verfaßtheit des Gedächtnisses notwendigerweise mitverändert." (ebd.)
Zugleich eröffne jedes Medium einen spezifischen Zugang zum kulturellen
Gedächtnis. Die Schrift, die der Sprache folge, speichere anders und anderes
als die Bilder, die sprachunabhängige Eindrücke und Erfahrungen festhielten.
(vgl. ebd., S.20)
Was in den historischen
Wissenschaften, auch im Zuge ihrer Erzählungen (Narrationen) der Geschichte,
zum kulturellen Gedächtnis beigetragen wird, stelle dabei "ein Gedächtnis
zweiter Ordnung, ein Gedächtnis der Gedächtnisse" dar, das in sich
aufnehme, "was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat."
A. Assman (32006,
S.19) bezeichnet dieses Gedächtnis als "Speichergedächtnis",
das sich vom "Funktionsgedächtnis",
dessen wichtigste Merkmale Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und
Zukunftsorientierung seien (vgl.
ebd., S.134)
unterscheiden lasse.
Als "Speichergedächtnis"
arbeitet es gegen "die permanente Abfuhr des Vergessens, das
unwiederbringliche Verlorengehen von bewertetem Wissen und vitalen
Erfahrungen". Es bewahre Relikte auf, an deren weiteren Speicherung
Individuen, Gruppen oder Institutionen das Interesse verloren haben. Es
sorgt aber auch dadurch, dass es diese Relikte immer wieder aufarbeite, auch
immer wieder für "neue Anschlußmöglichkeiten zum
Funktionsgedächtnis (ebd.,
S.408f.) Mit seiner "amorphen Masse" ungebrauchter, nicht-amalgamierter
Erinnerungen umgibt das Speichergedächtnis dabei das Funktionsgedächtnis, (ebd.,
S.136) Auch wenn einem die Inhalte des Speichergedächtnisses zum Teil auch
unbewusst sind, wirken sie doch im Hintergrund mit dem Funktionsgedächtnis
zusammen, selbst wenn sie in dessen Sinnkonfigurationen vordergründig nicht
passen.
Das
Funktionsgedächtnis speichert ohnehin
stets "nur einen Bruchteil möglichen Erinnerungsgehalts" und daher bleibt,
wie Assman konstatiert, im Verlauf der Zeit "notwendig vieles aus dem Vorrat
lebendiger Erfahrung außerhalb dieser Geschichten und wird niemals erzählt
oder ausgesprochen. Es bleibt amorph, ohne Ordnung und Gestalt." (ebd.,
S.135)
Während das
Funktionsgedächtnis "lebendigen Trägern mit parteiischen Perspektiven
(gehört)" und damit in einem klaren Subjektbezug steht, "«(gehört)» die
Geschichte dagegen «allen und niemandem»" und die Geschichte im
Speichergedächtnis ist in diesem Sinne verglichen mit dem
Funktionsgedächtnis "objektiv und damit identitätsneutral." (ebd.,
S.133) Objektiv heißt in diesem Zusammenhang aber nicht, dass die
Darstellung von Geschichte in der Geschichtsschreibung deshalb "objektiv"
ist, denn Geschichte und Gedächtnis stehen in keiner solchen Opposition
zueinander. Schließlich bestünde mittlerweile darüber Einigkeit, "daß es
keine Geschichtsschreibung gibt, die nicht zugleich auch Gedächtnisarbeit
wäre, also unhintergehbar verquickt ist mit den Bedingungen der Sinngebung,
Parteilichkeit und Identitätsstiftung." (ebd.,
S.133) Anders ausgedrückt und allgemein
reformuliert:
Geschichtsschreibung ist stets ein Konstrukt. Sie wird unter bestimmten
Perspektiven verfasst, mit unterschiedlichen Interessen verbunden, an
bestimmte gesellschaftliche Gruppen adressiert, denen sie ebenso wie
Individuen Identitätsangebote macht. Und natürlich spielen auch die
psychischen Dispositionen der Geschichtsschreiber hinein.
Wie die
kulturellen Erinnerungsräume,
die durch kulturelle Praktiken zustande kommen, aussehen und gestaltet
werden, hängt von politischen und sozialen Interessen ebenso ab wie vom
Wandel der technischen Medien.
Als Erinnerungsräume, die
mit dem (bewohnten) Funktionsgedächtnis
verbunden sind, entstehen sie "durch jene partielle Ausleuchtung von
Vergangenheit, wie sie ein Individuum oder eine Gruppe zur Konstruktion von
Sinn, zur Fundierung ihrer Identität, zur Orientierung ihres Lebens, zur
Motivierung ihres Handelns brauchen. Solche an einen individuellen oder
kollektiven Träger gebundene Erinnerung ist grundsätzlich perspektivisch
angelegt; von einer bestimmten Gegenwart aus wird ein Ausschnitt der
Vergangenheit auf eine Weise beleuchtet, daß er einen Zukunftshorizont
freigibt. Was zur Erinnerung ausgewählt wird, ist stets von den Rändern des
Vergessens profiliert." (ebd.,
S.408 )Solche Erinnerungsräume, fokussieren die Erinnerung
auf bestimmte Elemente und nehmen dafür das Vergessen von Erinnerungen, die
nicht mit den oben beschriebenen Funktionen Gruppenbezug, Selektivität,
Wertbindung und Zukunftsorientierung verbunden werden können, in Kauf.
Erinnerungsräume, die mit
dem (unbewohnten) Speichergedächtnis
verbunden sind, betonen hingegen "die «Trennung von Vergangenheit und
Zukunft» (J. Ritter), bzw. die «Kluft zwischen Erfahrungen und Erwartungen»
(R. Koselleck)" und gehen von der historischen Zeitferfahrung aus, "daß seit
der Neuzeit Vergangenheit und Zukunft, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont
immer weniger miteinander zu tun haben." (ebd.,
S.408)
Es gibt aber, so betont A.
Assman, auch Erinnerungsräume, "in denen sich Zukunftserwartungen keineswegs
von Bildern der Vergangenheit ablösen, sondern von bestimmten
Geschichtserinnerungen angestoßen und untermauert sind." (vgl.
ebd., S.408f.)
Wie schon eingangs erwähnt,
hat Maximilian Nutz (2002,
S.6) ein didaktisches Konzept für den ▪
Literaturunterricht entwickelt,
das die (didaktische) »Erinnerungsarbeit" im Umgang mit der
literarisch-kulturellen Tradition in ausgewählten »Schneisen« und auf
unterschiedlichen »Erkundungsrouten« zur aktiven Aneignung von
Wissensbeständen aus dem kulturellen Gedächtnis nutzen will. Dabei
verbindet sein didaktisches Konzept
Speichergedächtnis und
Funktionsgedächtnis miteinander und setzt sich von den gängigen
Erzählungen der Literaturgeschichte bewusst ab.
Dies geschieht dadurch,
dass es auf Differenzerfahrungen zwischen dem
im Enkulturationsprozess immer schon vorgefundenen, auf vielfältige
Entwicklungen zurückgehende, stets aber konstruierten kulturellen
Gedächtnis und der Entwicklung des Selbst aufbaut. (vgl.
ebd.)
Um zu
verhindern, dass die Schülerinnen und Schülern die
literaturgeschichtlichen Gegenstände nicht nur als "fern und fremd"
erführen, sondern dazu noch als "abgeschlossenes Bildungswissen, dessen
Konstruktcharakter sie sich nicht durchschauen und das sie sich zudem
nur reziptiv aneignen können", setzt das Konzept darauf, den "Umgang mit
der im kollektiven Gedächtnis bewahrten literarischen Tradition" (ebd.,
S.8) subjektiv bedeutsam zu machen.
Statt mit den weit verbreiteten
"Merkkästchen" mit ihren "Epochenganzheiten" (ebd.,
S.9) , die vorgeben, mit einer paar Pinselstrichen und in aller Kürze
die relevanten distinktiven Merkmale einer Literaturepoche
zusammenzustellen, dem "subjektiv bedeutsamen Text- und
Geschichtsverständnis" entgegenzuarbeiten (Kepser/Abraham
42016, S.58), soll mit Erinnerungsschneisen exemplarisch
bewusst gemacht werden, "wie sich das kulturelle Gedächtnis durch
Erinnerungsarbeit in verschiedenen Diskursen konstituiert." (Nutz
2002, S.9) So könnten, nach Ansicht von
Nutz (1997/2012,
S.279), auch der an der Idee eines Orientierungswissens festhaltende
Epochenüberblick durch ein "Netz von Erkundungsrouten und Entdeckungsreisen"
ersetzt werden und damit – so •
wie von den Vertretern des New Historicism gefordert (vgl.
Kaes 1995,
S.263) – "nicht mehr »eine«, sondern mehrere mögliche »Geschichten« der
literarisch-kulturellen Vergangenheit" (Nutz
1997/2012, S.279) rekonstruiert werden.
Mit der Metapher des Lichtkegels verdeutlicht Nutz
aber auch die
einkalkulierten Grenzen der subjektiven Herangehensweise: "Schneisen
lassen sich als Lichtkegel auffassen, die etwas aufhellen und damit zu
Erkundungen einladen, während Anderes notgedrungen im Dunkel bleibt.
Dabei können sich die Lichtkegel durchaus auf Themen und Aspekte
richten, die für die beleuchteten Zeiträume oder 'Epochen'
charakteristisch sind, ohne damit den Anspruch zu erheben, damit die
scheinbare 'Ganzheit' von traditionellen Epochenvorstellungen sichtbar
zu machen." (ebd.)
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Als Beispiele dafür führt
Nutz verschiedene Schneisen auf, die mit der Ausweitung der Erkundungsroute
auf den historischen Kontext und die Rezeptionsgeschichte" (Nutz
1997/2012, S.280) didaktisch zu bilden seien.
Für die Klassik mit ihrem
traditionell geschlossenen Epochenbild müsse sich die Schneisenbildung von
den zentralen Problemstellungen und Krisenerfahrungen im Zeitalter der
Französischen Revolution leiten lassen. So könnte eine dieser
Problemstellungen sich mit der "Frage nach den Möglichkeiten
selbstbestimmter Lebensgestaltung" (ebd.)
befassen, die sich aus den gesellschaftlich-kulturellen Umbrüchen im 18.
Jahrhundert ergeben hätten und "zu einem für die Moderne charakteristischen
Orientierungsbedarf" (ebd.)
geführt hätten. Unter dieser Perspektive könne dann z. B. auch »Johann
Wolfgang von Goethes (1749-1832) Drama »Iphigenie
auf Tauris (1787) "als Drama eines weiblichen Wegs zur Mündigkeit"
gelesen werden, "in dem zugleich Institutionen und Ordnungsmuster sichtbar
werden, von denen sich das Subjekt emanzipieren muß." (ebd.,
S.280f.)
Ebenso könnte man die
Gefahren eines illusionären Selbstverwirklichungsanpruchs den »Heinrich
von Kleist (1777-1811), der selbst so gar nicht in die üblichen
Epochenkonstrukte passt, z. B. in seiner
Novelle »Michael
Kohlhaas (1808) erhebt, anhand von Ausschnitten aus den Briefen des
Autors aufzeigen. (vgl.
ebd.)
Für die
Jahrhundertwende ließen sich solche Erinnerungsschneisen unter
Problemstellungen, wie z. B. "Die Krise des Ich" und "Die
Entdeckung des Unbewussten“) bilden. Für den Barock käme dafür die Schneise
"Die Welt als Bild" in Frage.
Schneisen könnten aber auch
Entdeckungsrouten durch literarisch-poetologische Diskurse anbieten (z.
B. "Was heißt Realismus?") oder zur Erkundung von Bedingungen und Formen des
literarischen Lebens im Mittelalter einladen ("Sänger, Schreiber, Künder –
Autor und Autorrolle“).( vgl.
Nutz 1997/2012,
S.279) )
Aus diesen Zugängen zur Literaturgeschichte entstehen, so Nutz weiter,
(subjektive) "Epochenbilder in den Schülerköpfen", die ganz von den
Blickrichtungen, Sichtweisen und Methoden der Betrachtung abhängen, die
Schülerinnen und Schüler bei ihrer Spurensuche in Eigenverantwortung
wählen. Dabei können sie die Erfahrungen, die sie auf ihren
"thematisch-problemorientierten Erkundungsrouten" machen, mit ihren
eigenen lebensweltlichen Erfahrungen vergleichen und aus den Differenzen
auch Anregungen zur Reflexion über sich selbst gewinnen.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.12.2024