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Didaktische und methodische Aspekte

Erinnerungsarbeit mit Schneisen und Erkundungsrouten

Literaturgeschichte


FAChbereich Deutsch
Glossar
Literatur Autorinnen und Autoren Literarische Gattungen ▪ Literaturgeschichte [ Didaktische und methodische Aspekte Überblick Orientierungswissen und Überblickswissen Wege zu literaturgeschichtlicher Kompetenz Epochenkonstrukte reflektieren   Querschnitte und EpochenumbrücheTraditionelle Epochenkonstrukte oder Random Access? Anekdotisches Erzählen Erinnerungsarbeit mit Schneisen und Erkundungsrouten Der biografische Ansatz im Wandel Historisches Erzählen Literaturgeschichte in gängigen schulischen Lehrwerken Didaktik der Literaturgeschichte und "wehrhafte" Demokratie ] Überblick Von der Nationalliteratur zum modernen Pluralismus Literatur auf dem Weg in die Moderne Zwischen Mono- und Multiperspektivismus  ▪ Literaturepochen  Motive der Literatur Grundlagen der Textanalyse und Interpretation Literaturunterricht Schreibformen  Operatoren im Fach Deutsch
  

 

Als "»Erinnerungsarbeit" im Umgang mit der literarisch-kulturellen Tradition, hat Maximilian Nutz (2002, S.6) sein Konzept für den Umgang mit ▪ Literaturgeschichte im ▪ Literaturunterricht bezeichnet, das auf Differenzerfahrungen zwischen dem im Enkulturationsprozess immer schon vorgefundenen, auf vielfältige Entwicklungen zurückgehende, stets aber konstruierten kulturellen Gedächtnis und der Entwicklung des Selbst aufbaut. (vgl. ebd.) Dabei soll "in Formen des entdeckenden Lernens literaturgeschichtliches Wissen in ausgewählten »Schneisen« und »Erkundungsrouten« das kulturelle Gedächtnis aktiv angeeignet" (ebd.) werden. Über thematisch-problemorientierte Erkundungsrouten sollen die Schülerinnen und Schüler dabei einen partiellen Einblick in das Vergangene gewinnen, sich die auf und entlang der Route entdeckten Elemente des kulturellen Gedächtnisses der Gesellschaft  möglichst eigenverantwortlich aneignen und das, was ihnen dabei fern und fremd vorkommt, als Anstöße zur Reflexion nutzen. "Erinnerungsarbeit" dient primär dem Aufbau • literarästhetischer Rezeptionskompetenz, mit seiner methodischen Nähe zum ▪ handlungs- und produktionsorientierten Unterricht aber auch von • literarästhetischer Produktionskompetenz.

Kulturelles Gedächtnis: Kulturelle Praktiken und Erinnerungsräume

Als kulturelles Gedächtnis bezeichnen die deutschen Kulturwissenschaftler »Aleida Assmann (geb. 1947) und »Jan Assmann (1938-2024) "die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser Selbst- und Weltbild prägen." (Jan Assmann 2006,S.70) Unsere Erinnerungen sind demnach eben auch "kulturell »eingebettet«" (ebd., S.69)

Im Gegensatz zu den neurobiologischen, wahrnehmungs- und kognitionspyschologischen Konzepten des • Gedächtnisses richtet sich der kulturwissenschaftliche Blick auf die "technischen und kulturellen Medien des Gedächtnisses" (Aleida Assman 32006, S.19)

Das kulturelle Gedächtnis, betont Aleida Assman weiter, setze sich nicht einfach fort, sondern müsse immer wieder neu ausgehandelt, etabliert, vermittelt und angeeignet werden. Dabei müsse dieses "generationen- und epochenübergreifende Gedächtnis" mit unterschiedlichen kulturellen Praktiken aufgebaut werden. Dies bedeute aber auch, "daß sich mit dem wandelnden Entwicklungsstand dieser Medien auch die Verfaßtheit des Gedächtnisses notwendigerweise mitverändert." (ebd.) Zugleich eröffne jedes Medium einen spezifischen Zugang zum kulturellen Gedächtnis. Die Schrift, die der Sprache folge, speichere anders und anderes als die Bilder, die sprachunabhängige Eindrücke und Erfahrungen festhielten. (vgl. ebd., S.20)

Was in den historischen Wissenschaften, auch im Zuge ihrer Erzählungen (Narrationen) der Geschichte, zum kulturellen Gedächtnis beigetragen wird, stelle dabei "ein Gedächtnis zweiter Ordnung, ein Gedächtnis der Gedächtnisse" dar,  das in sich aufnehme, "was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat." A. Assman (32006, S.19) bezeichnet dieses Gedächtnis als "Speichergedächtnis", das sich vom "Funktionsgedächtnis", dessen wichtigste Merkmale Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung seien (vgl. ebd., S.134) unterscheiden lasse.

Als "Speichergedächtnis" arbeitet es gegen "die permanente Abfuhr des Vergessens, das unwiederbringliche Verlorengehen von bewertetem Wissen und vitalen Erfahrungen". Es bewahre Relikte auf, an deren weiteren Speicherung Individuen, Gruppen oder Institutionen das Interesse verloren haben. Es sorgt aber auch dadurch, dass es diese Relikte immer wieder aufarbeite, auch immer wieder für "neue Anschlußmöglichkeiten zum Funktionsgedächtnis (ebd., S.408f.) Mit seiner "amorphen Masse" ungebrauchter, nicht-amalgamierter Erinnerungen umgibt das Speichergedächtnis dabei das Funktionsgedächtnis, (ebd., S.136) Auch wenn einem die Inhalte des Speichergedächtnisses zum Teil auch unbewusst sind, wirken sie doch im Hintergrund mit dem Funktionsgedächtnis zusammen, selbst wenn sie in dessen Sinnkonfigurationen vordergründig nicht passen.

Das Funktionsgedächtnis speichert ohnehin stets "nur einen Bruchteil möglichen Erinnerungsgehalts" und daher bleibt, wie Assman konstatiert, im Verlauf der Zeit "notwendig vieles aus dem Vorrat lebendiger Erfahrung außerhalb dieser Geschichten und wird niemals erzählt oder ausgesprochen. Es bleibt amorph, ohne Ordnung und Gestalt." (ebd., S.135)

Während das Funktionsgedächtnis "lebendigen Trägern mit parteiischen Perspektiven (gehört)" und damit in einem klaren Subjektbezug steht, "«(gehört)» die Geschichte dagegen «allen und niemandem»" und die Geschichte im Speichergedächtnis ist in diesem Sinne verglichen mit dem Funktionsgedächtnis "objektiv und damit identitätsneutral." (ebd., S.133) Objektiv heißt in diesem Zusammenhang aber nicht, dass die Darstellung von Geschichte in der Geschichtsschreibung deshalb "objektiv" ist, denn Geschichte und Gedächtnis stehen in keiner solchen Opposition zueinander. Schließlich bestünde mittlerweile darüber Einigkeit, "daß es keine Geschichtsschreibung gibt, die nicht zugleich auch Gedächtnisarbeit wäre, also unhintergehbar verquickt ist mit den Bedingungen der Sinngebung, Parteilichkeit und Identitätsstiftung." (ebd., S.133) Anders ausgedrückt und allgemein reformuliert: Geschichtsschreibung ist stets ein Konstrukt. Sie wird unter bestimmten Perspektiven verfasst, mit unterschiedlichen Interessen verbunden, an bestimmte gesellschaftliche Gruppen adressiert, denen sie ebenso wie Individuen Identitätsangebote macht. Und natürlich spielen auch die psychischen Dispositionen der Geschichtsschreiber hinein.

Wie die kulturellen Erinnerungsräume, die durch kulturelle Praktiken zustande kommen, aussehen und gestaltet werden, hängt von politischen und sozialen Interessen ebenso ab wie vom Wandel der technischen Medien.

Als Erinnerungsräume, die mit dem (bewohnten) Funktionsgedächtnis verbunden sind, entstehen sie "durch jene partielle Ausleuchtung von Vergangenheit, wie sie ein Individuum oder eine Gruppe zur Konstruktion von Sinn, zur Fundierung ihrer Identität, zur Orientierung ihres Lebens, zur Motivierung ihres Handelns brauchen. Solche an einen individuellen oder kollektiven Träger gebundene Erinnerung ist grundsätzlich perspektivisch angelegt; von einer bestimmten Gegenwart aus wird ein Ausschnitt der Vergangenheit auf eine Weise beleuchtet, daß er einen Zukunftshorizont freigibt. Was zur Erinnerung ausgewählt wird, ist stets von den Rändern des Vergessens profiliert." (ebd., S.408 )Solche Erinnerungsräume, fokussieren die Erinnerung auf bestimmte Elemente und nehmen dafür das Vergessen von Erinnerungen, die nicht mit den oben beschriebenen Funktionen Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung verbunden werden können, in Kauf.

Erinnerungsräume, die mit dem (unbewohnten) Speichergedächtnis verbunden sind, betonen hingegen "die «Trennung von Vergangenheit und Zukunft» (J. Ritter), bzw. die «Kluft zwischen Erfahrungen und Erwartungen» (R. Koselleck)" und gehen von der historischen Zeitferfahrung aus, "daß seit der Neuzeit Vergangenheit und Zukunft, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont immer weniger miteinander zu tun haben." (ebd., S.408)

Es gibt aber, so betont A. Assman, auch Erinnerungsräume, "in denen sich Zukunftserwartungen keineswegs von Bildern der Vergangenheit ablösen, sondern von bestimmten Geschichtserinnerungen angestoßen und untermauert sind." (vgl. ebd., S.408f.)

"Schneisen" und "Erkundungsrouten" zur aktiven Aneignung von Wissen aus dem kulturellen Gedächtnis

Wie schon eingangs erwähnt, hat Maximilian Nutz (2002, S.6) ein didaktisches Konzept für den ▪ Literaturunterricht entwickelt, das die (didaktische) »Erinnerungsarbeit" im Umgang mit der literarisch-kulturellen Tradition in ausgewählten »Schneisen« und auf unterschiedlichen »Erkundungsrouten« zur aktiven Aneignung von Wissensbeständen aus dem kulturellen Gedächtnis nutzen will. Dabei verbindet sein didaktisches Konzept Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis miteinander und setzt sich von den gängigen Erzählungen der Literaturgeschichte bewusst ab.

Dies geschieht dadurch, dass es auf Differenzerfahrungen zwischen dem im Enkulturationsprozess immer schon vorgefundenen, auf vielfältige Entwicklungen zurückgehende, stets aber konstruierten kulturellen Gedächtnis und der Entwicklung des Selbst aufbaut. (vgl. ebd.)

Um zu verhindern, dass die Schülerinnen und Schülern die literaturgeschichtlichen Gegenstände nicht nur als "fern und fremd" erführen, sondern dazu noch als "abgeschlossenes Bildungswissen, dessen Konstruktcharakter sie sich nicht durchschauen und das sie sich zudem nur reziptiv aneignen können", setzt das Konzept darauf, den "Umgang mit der im kollektiven Gedächtnis bewahrten literarischen Tradition" (ebd., S.8) subjektiv bedeutsam zu machen.

Statt mit den weit verbreiteten "Merkkästchen" mit ihren "Epochenganzheiten" (ebd., S.9) , die vorgeben, mit einer paar Pinselstrichen und in aller Kürze die relevanten distinktiven Merkmale einer Literaturepoche zusammenzustellen, dem  "subjektiv bedeutsamen Text- und Geschichtsverständnis" entgegenzuarbeiten (Kepser/Abraham 42016, S.58), soll mit Erinnerungsschneisen exemplarisch bewusst gemacht werden, "wie sich das kulturelle Gedächtnis durch Erinnerungsarbeit in verschiedenen Diskursen konstituiert." (Nutz 2002, S.9) So könnten, nach Ansicht von Nutz (1997/2012, S.279), auch der an der Idee eines Orientierungswissens festhaltende Epochenüberblick durch ein "Netz von Erkundungsrouten und Entdeckungsreisen" ersetzt werden und damit – so • wie von den Vertretern des New Historicism gefordert (vgl. Kaes 1995, S.263) – "nicht mehr »eine«, sondern mehrere mögliche »Geschichten« der literarisch-kulturellen Vergangenheit"  (Nutz 1997/2012, S.279) rekonstruiert werden.

Mit der Metapher des Lichtkegels verdeutlicht Nutz aber auch die einkalkulierten Grenzen der subjektiven Herangehensweise: "Schneisen lassen sich als Lichtkegel auffassen, die etwas aufhellen und damit zu Erkundungen einladen, während Anderes notgedrungen im Dunkel bleibt. Dabei können sich die Lichtkegel durchaus auf Themen und Aspekte richten, die für die beleuchteten Zeiträume oder 'Epochen' charakteristisch sind, ohne damit den Anspruch zu erheben, damit die scheinbare 'Ganzheit' von traditionellen Epochenvorstellungen sichtbar zu machen." (ebd.)


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Als Beispiele dafür führt Nutz verschiedene Schneisen auf, die mit der Ausweitung der Erkundungsroute auf den historischen Kontext und die Rezeptionsgeschichte" (Nutz 1997/2012, S.280) didaktisch zu bilden seien.

Für die Klassik mit ihrem traditionell geschlossenen Epochenbild müsse sich die Schneisenbildung von den zentralen Problemstellungen und Krisenerfahrungen im Zeitalter der Französischen Revolution leiten lassen. So könnte eine dieser Problemstellungen sich mit der "Frage nach den Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensgestaltung" (ebd.) befassen, die sich aus den gesellschaftlich-kulturellen Umbrüchen im 18. Jahrhundert ergeben hätten und "zu einem für die Moderne charakteristischen Orientierungsbedarf" (ebd.) geführt hätten. Unter dieser Perspektive könne dann z. B. auch »Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) Drama »Iphigenie auf Tauris (1787) "als Drama eines weiblichen Wegs zur Mündigkeit" gelesen werden, "in dem zugleich Institutionen und Ordnungsmuster sichtbar werden, von denen sich das Subjekt emanzipieren muß." (ebd., S.280f.)

Ebenso könnte man die Gefahren eines illusionären Selbstverwirklichungsanpruchs den »Heinrich von Kleist (1777-1811), der selbst so gar nicht in die üblichen Epochenkonstrukte passt, z. B. in seiner Novelle »Michael Kohlhaas (1808) erhebt, anhand von Ausschnitten aus den Briefen des Autors aufzeigen. (vgl. ebd.)

Für die Jahrhundertwende ließen sich solche Erinnerungsschneisen unter Problemstellungen, wie z. B. "Die Krise des Ich" und "Die Entdeckung des Unbewussten“) bilden. Für den Barock käme dafür die Schneise "Die Welt als Bild" in Frage.

Schneisen könnten aber auch Entdeckungsrouten durch literarisch-poetologische Diskurse anbieten (z. B. "Was heißt Realismus?") oder zur Erkundung von Bedingungen und Formen des literarischen Lebens im Mittelalter einladen ("Sänger, Schreiber, Künder – Autor und Autorrolle“).( vgl. Nutz 1997/2012, S.279) )

Aus diesen Zugängen zur Literaturgeschichte entstehen, so Nutz weiter, (subjektive) "Epochenbilder in den Schülerköpfen", die ganz von den Blickrichtungen, Sichtweisen und Methoden der Betrachtung abhängen, die Schülerinnen und Schüler bei ihrer Spurensuche in Eigenverantwortung wählen. Dabei können sie die Erfahrungen, die sie auf  ihren "thematisch-problemorientierten Erkundungsrouten" machen, mit ihren eigenen lebensweltlichen Erfahrungen vergleichen und aus den Differenzen auch Anregungen zur Reflexion über sich selbst gewinnen.

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 29.12.2024

 
 

 
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