Das Interesse an
Biografischem durchzieht heutzutage das öffentliche als auch das private
Leben. Im Bereich des •
Handlungsfelds Literatur gehören Im öffentlichen Leben dazu besonders
Gedenktage und Jubiläen von bestimmten Autorinnen und Autoren, denen für die
kulturgeschichtliche Bedeutung Deutschlands oder auch der Welt von den
Fachwissenschaften, den Medien oder bestimmten gesellschaftlichen Gruppen
und Kräften eine bedeutende Rolle zugeschrieben wird.
Vom 19. Jahrhundert an bis
in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein hat die Literaturwissenschaft
bevorzugt die Biografie eines Autors bzw. einer Autorin genutzt, um die
seine/ihre Werk zu erklären und zu deuten.
Die Wertschätzung des
biografischen Ansatzes geht auf die "hermeneutischen
Wende" Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts zurück, die mit der • "Kunstlehre des Verstehens"
des Philosophen »Friedrich
Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) eingeleitet wurde.
Schleiermacher erkennt wohl als erster,
dass auch das wahrnehmende
Subjekt Einfluss auf das Verstehen nimmt und der Verstehensprozess
auch von seinen Entscheidungen abhängt. Da er Verstehen
"als reproduktive Wiederholung der ursprüngl(ichen) Produktion aufgrund von Kongenialität." (Metzler
Literaturlexion,21990, S.197) konzeptionalisiert, spielt
auch die Biografie des Autors als • "psychologische
Auslegung" für ihn eine sehr wichtige Rolle.
Der •
literaturwissenschaftliche Positivismus im 19. Jahrhundert, der sich mit
seinem Ansatz "literar(ische)
Texte aus den sie bedingenden Faktoren herzuleiten" (Kablitz
2004, S.537) vor allem der Biografik zuwandte, verkam aber bei einigen
ihrer Vertreter immer zu "bloße(m) Faktensammeln" (Petersen/Gutzen
72006, S.176) und "Stoffhuberei" (ebd.),
die sich kaum mehr in plausible Kausalzusammenhänge von Werk und Autor
bringen ließen.
Dennoch: Auch die auf »Wilhelm
Dilthey (1833-1911) zurückgehende •
geisteswissenschaftliche Literaturwissenschaft, die den Positivisten
gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Rang ablief, rückte nicht gänzlich von
der Wertschätzung der Biografie für das Verstehen ab. Allerdings
verzichtet •
seine Texthermeneutik vollständig darauf, historische,
gesellschaftliche oder politische Kontexte in den Prozess des Textverstehens
einzubeziehen. Literatur ist für ihn "Ausdruck des
Seelenlebens" (Dilthey
1906/1957, S.320, zit. n.
Becker/Hummel/Sander 22018,
S.195). Seine
Annahme "einer Deckungsgleichheit von Leben (des Autors) und Werk (des
Autors)" (Becker/Hummel/Sander 22018, S.195)
sowie die "Idee des nachfühlenden Aufspürens einer vermeintlichen
Einheit von Leben und Werk" (ebd.),
blendet den Autor zwar nicht völlig aus, hat aber mit dem Ziel der
Biografik, die Lebensumstände eines Autors zu rekonstruieren und Parallelen
zwischen Autor und Werk aufzuzeigen, nichts mehr zu tun. Diltheys Annahme,
man könne als erkennendes Subjekt beim Hineinversetzen in einer Art
übergeschichtlichem Kontinuum mit dem Text den quasi objektiven Sinn eines
Textes erkennen, steht der Grundidee des biografischen Ansatzes diametral
entgegen.
Der Verzicht auf die
Einbeziehung historischer, gesellschaftlicher oder politischer Kontexte
durch die
geistesgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft hatte für die
Literaturgeschichte fatale Folgen. Sie verlor
nach und nach so sehr an Bedeutung, dass sie in der Lehre
fast nur noch propädeutische Funktion besaß. Die Lebensumstände eines
Autors waren im Rahmen der geistesgeschichtlichen Fokussierung auf den
Inhalt eines literarischen Werkes und der Orientierung an ahistorischen "Grundbegriffen" wie
dem Deutschen, dem Heldischen, dem Weiblichen, dem Prinzip der Treue u. ä. m.
(vgl.
Petersen/Gutzen 72006, S.181) mehr als nur zweitrangig
geworden.
Im •"doppelten
Sündenfall der deutschen Literaturwissenschaft" (Petersen/Gutzen (72006,
S.181) haben danach die nationalsozialistische und die marxistische
Literaturwissenschaft, die von der geisteswissenschaftlichen Methode
gebotenen "Schnittstellen" konsequent für die Verbreitung ihrer Ideologie
genutzt. Deren "Grundbegriffe" ließen sich ohne weiteres ideologisch so (neu-)besetzen,
dass sie in das System der jeweiligen Weltanschauung fast ohne jegliche
"Reibungsverluste" hineinpassten. Zudem wurde das "biographische Paradigma",
da wo es wiederbelebt wurde, "stark für politisch-ideologische Zwecke missbraucht." (Pauldrach
2020, S.1)
Nach 1945 schien der Weg
für eine Neuausrichtung der literaturgeschichtlichen Forschung zunächst frei
und damit auch für eine Entwicklung, die dem biografischen Ansatz hätte
neues Leben einhauchen können.
Allerdings setzte nach 1945 die •
werkimmanente Methode
(Werkinterpretation) mit seiner formalästhetisch ausgerichteten und ahistorischen
Interpretationslehre, die die •
Autonomie des literarischen Werkes ("Das sprachliche Kunstwerk lebt als
solches und in sich."
Kayser
1968, S. 24) betonte, dem ein Ende. Für die
Werkinterpretation war der biografische Ansatz konzeptionell falsch, weil
ein literarischer Text seinen ästhetischen Status gerade dadurch erhalte,
dass er sich von der Biografie seines Autors oder seiner Autorin löse. (vgl.
Spinner 32019,
S.239f.) Die Tatsache, dass sie die
Literatur ohne ihre kontextuellen Bezüge verstehen will, hat die
werkimmanente Interpretation im literaturwissenschaftlichen Diskurs aber
spätestens seit den 1990er Jahren endgültig ins Abseits bugsiert.
Dabei hatten sich schon
zahlreiche andere Vertreter der Literaturwissenschaft von der
Enthistorisierung des literarischen Werkes abgewendet. En vogue waren dann "struktur- und sozialgeschichtliche
Modelle (...), zu denen auch Periodisierungen nach dem Epochenschema zählen"
(ebd.). Biografische Ansätze blieben hingegen bis die 1980er ohne größere Bedeutung.
Einen Auftrieb erhielten
biografische Ansätze erst wieder mit der postmodernen
Geschichtsauffassung, für die auch der amerikanische Literaturwissenschaftler
»Stephen Greenblatt (geb. 1943)
steht, der als einer der wichtigsten
Theoretiker des so genannten »New
Historicism gilt. Sein • Konzept des
anekdotischen Erzählens, das die strikte Trennung von literarischem Text
und historischem Kontext ablehnt, betont die Wechselwirkung zwischen
Literatur und anderen kulturellen Diskursen und setzt die Literatur in
Beziehung zu zeitgenössischen politischen, sozialen und kulturellen
Phänomenen. Sie lehnt ferner eine hierarchische Trennung von "höherwertiger"
und geringwertiger" kultureller Phänomene ab und behandelt alle kulturellen
Phänomene bei ihrer Analyse gleichwertig. Darüber hinaus betrachtet sie
Geschichtsschreibung etwas, das von den Perspektiven und Werten des
jeweiligen Textproduzenten abhängt und betont auch damit ihren
"Konstruktionscharakter" (Fichte
2007, S.712)
Im heutigen •
Literaturunterricht gehört das
Einbeziehen von •
Autorenwissen
(Biografisches und autobiografisches Wissen)
im Rahmen der •
Analyse
und Interpretation literarischer Texte zu den gängigen •
Zugängen und •
Methoden.