In einer Zeit, in der die Demokratie in Deutschland von rechts als besonders
gefährdet wahrgenommen wird, spielen können Fragen, die den Umgang mit
Literatur und Literaturgeschichte betreffen, schneller als so mancher
glaubt, in Diskursen auftauchen, die von rechtsextremer Seite gestaltet und
dominiert werden. Plötzlich steht die Literaturgeschichte und die
Sinnangebote, die sie unterbreitet, dann Im Fokus einer programmatischen
Orientierung, die sehr an die Positionen erinnert, die im 19. Jahrhundert
mit der nationalistischen Ausrichtung der Literaturgeschichte eigentlich
schon für überwunden gegolten haben.
Im Zentrum stehen dann wohl die Fragen nach der vermeintlichen "Neutralität"
des Unterrichts und die eine neue (alte) Ausrichtung des Literaturkanons im
Sinne der umfassenden Narrative und politischen Ziele der Alternative für
Deutschland (AfD), die vom Verfassungsschutz beobachtet wird und von der
einzelne Landesverbände als gesichert rechtsextremistisch gelten.
Wenn z. B. die AfD im »Bundestagwahlprogramm
2021 verspricht, die "Neutralität der Schule wiederher(zu)stellen“, dann
knüpft sie bewusst an Vorstellungen an, wonach Schule und Lehrerinnen und
Lehrer, Schülerinnen und Schülern ein unparteiisches Bild von der Welt zu
vermitteln haben, in der sie leben und sich orientieren müssen. Die AfD
fordert, dass "das Klassenzimmer (...) kein Ort der politischen
Indoktrination" sein dürfe und unterstellt im gleichen Atemzug, dass an "an
deutschen Schulen (...) oft nicht die Bildung einer eigenen Meinung
gefördert (wird), sondern die unkritische Übernahme ideologischer Vorgaben."
Vollmundig formuliert sie weiter, dass das " Leitbild der schulischen
Bildung (...) immer der selbstständig denkende Bürger sein (muss)."
Welche Konsequenzen sie daraus allerdings für die politische Bildung
fordert, zeigt sich, wenn man direkt neben diesem Absatz am Rand den
folgenden Satz liest: "Die deutschen Kulturgüter, Traditionen sowie die
Geschichte müssen bereits ab der Grundschule zum Pflichtstoff des
Unterrichts gehören.“ Weiter heißt es: "Das fördert Heimatliebe und
Traditionsbewusstsein."
Hanin Ibrahim (2021)
zieht in ihrer Magisterabeit daraus die folgenden Schlüsse: "Dass die AfD
unmittelbar nach einer Neutralitätsforderung die Förderung von Heimatliebe
schulisch verordnet, entlarvt bereits die unaufrichtige Absicht hinter der
Verwendung des Neutralitätsbegriffs. Mit derartigen Normsetzun-gen, die
einer pluralen Gesellschaft entgegenstehen und Exklusion befeuern, kann
Indoktrination nicht entgegengewirkt werden. Mit einem verpflichtenden
Traditionsbewusstsein kann wohl kaum die Förderung einer eigenen Meinung
angestrebt werden." (ebd.
S.22)
Wenn sich die AfD die "Neutralität der Schule" auf die Fahnen schreibt,
sucht sie nicht nur Anschluss an Diskurse, die sich mit dieser Frage seit
den 1970er Jahren beschäftigen. Sie nutzt diesen Begriff im Rahmen ihres
Agendasettings, in dem sie den Begriff als Kern- und Kampfbegriff so in die
Köpfe bringen will, dass er sich festsetzen und leicht aktivieren lässt.
(vgl. Schaeffer 2018,
S.64)
Dabei ist die Neutralitätsformel der AfD nämlich alles andere als "neutral".
Sie ist Teil einer ihrer zahlreichen "Erzählungen in der rechten Echokammer"
(ebd., S.67), die
den Deutungsrahmen liefern, mit denen Entwicklungen bewertet und Haltungen
vermittelt werden sollen.
Das Leitbild ihres selbständig denkende(n) Bürgers" ist der (Wut-)Bürger,
der die Welt durch die rechte Brille sieht und auf die Kraft ihrer "großen
Erzählungen" setzt, die ihren "Nutzern stets eine emotionale Deutung"
mitgeben (ebd.).
Von diesen Kernerzählungen, die immer wieder neu angereichert und
modifiziert werden können, ist wohl die "Früher-war-alles-besser-Erzählung"
besonders eng mit der "Neutralitätsforderung" und dem Ruf nach der
Vermittlung "deutscher Kulturgüter und Traditionen" sowie der Förderung von
"Heimatliebe" und "Traditionsbewusstsein" verknüpft.
Die Kurzfassung dieser Erzählung lautet: "Es war einmal eine Zeit, in der
Deutschland sicher war und die Deutschen unter sich blieben. In der Männer
noch Männer und Frauen noch Frauen waren. In der die Menschen stolz darauf
waren, deutsch zu sein. Und Politiker diese nationalen Interessen
selbstbewusst vertraten." (ebd.,
S.96) Diese Erzählung impliziert dabei auch die Unterstellung gegenüber den
politisch Verantwortlichen, "einem »Schuldkult« oder einer »Bußkultur« zu
unterliegen.
Aber nicht nur mit ihrem Agendasetting und ihren Narrativen versucht die AfD
immer wieder Einfluss auf die Bildungsinstitutionen zu nehmen. So weiß
Ibrahim (2021,
S.22) davon zu berichten, dass einzelne AfD-Landesverbände auf ihren
Webseiten dazu aufgerufen hätten, Lehrer*innen zu melden, die nicht
"neutral" unterrichten würden.
Die parteiische und ideologisch in rechtsextreme Diskurse eingebettete
Neutralitätsforderung der AfD ähnelt dabei nur wenig dem, was den
geschichtsdidaktischen Diskurs in den 1970er Jahren zu diesem Thema
beschäftigte, als man mit Berufsverboten gegen links eingestellte
Lehrerinnen und Lehrer die Lehrerschaft darauf verpflichtete, im Unterricht
die Freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik nicht
grundsätzlich in Frage zu stellen. Trotzdem, damals wie heute, versteht sich
die Bundesrepublik Deutschland als eine "wehrhafte" Demokratie, die allen
Tendenzen und Bestrebungen Grenzen ziehen will, die diese Ordnung beseitigen
wollen. Unter diesem Vorzeichen lässt sich nach Ansicht von
Ibrahim (2021, S.8)
ein "wehrhafter Geschichtsunterricht" konzeptualisieren, der Lehrende und
Lernende dazu befähigt und animiert, "die Demokratie gegen extremistische
und populistische Angriffe zu verteidigen."
Dabei bewegt sich auch der Geschichtsunterricht in der Nähe dessen, was »Karl
Popper (1902-1994) (1945) als "Toleranzparadox" beschrieben hat. Dessen
Grundlage stellt die Frage dar: "Was tun wir, wenn es der Wille des Volkes
ist, nicht selbst zu regieren, sondern statt dessen einen Tyrannen regieren
zu lassen?“ (Popper
1945, dt, 1975, S.173, zit. n.
Ibrahim (2021,
S.16)
"Einerseits" erklärt Popper, "verlangt das von ihnen akzeptierte Prinzip,
sich jeder Herrschaft zu widersetzen außer der Herrschaft der Majorität,
also auch der Herrschaft des neuen Tyrannen; andererseits fordert dasselbe
Prinzip von ihnen die Anerkennung jeder Entscheidung der Majorität und damit
auch die Anerkennung der Herrschaft des neuen Tyrannen. Es ist natürlich,
daß der Widerspruch in ihrer Theorie ihre Handlungen lähmen muß.“ (zit. n.
ebd.)
So ist es eine durch und durch paradoxe Situation, wenn Toleranz Intoleranz
tolerieren soll. Gilt die Toleranz nämlich uneingeschränkt, dann müsste auch
auf Intoleranz angewendet werden mit dem Ergebnis, das sie selbst dadurch
zerstört wird. So fordert Popper, dass eine "tolerante Gesellschaftsordnung"
"gegen die Angriffe der Intoleranz“ verteidigt werden müsse, sobald
diesen
nicht mehr auf rationaler Ebene begegnet werden könne. (zit. n.
ebd.)
Für Popper gibt es nur einen Weg aus diesem Paradoxon. Die Toleranten müssen
sich das Recht herausnehmen, die Intoleranten zu unterdrücken, wenn diese
jegliche Rationalität vermissen lassen, rationales Denken als
"Täuschungsmanöver" diffamieren und offen zur Gewalt aufrufen. Damit stellen
sie sich außerhalb des Rahmens, den das Grundgesetz zieht. (vgl.
ebd.)
Dass sich ausgerechnet die AfD auf den so genannten »Beutelsbacher
Konsens (BK), der auf einer Tagung zur politischen Bildung im Jahr 1976
zu Fragen der politischen Bildung zustande gekommen ist, beruft, ist Teil
ihrer Strategie an wichtige Diskurse Anschluss zu finden und deren
Ergebnisse für sich umzudeuten.
Aber auch Lehrkräfte, von denen offenbar nur
wenige den BK kennen, interpretieren ihn offenbar in nicht geringer Zahl so,
auch "extremistische Positionen im Politikunterricht
gleichberechtigt zu behandeln“ (Oberle
2016, S.58, zit. n.
ebd.) zu behandeln. Der Beutelbacher Konsens hatte als Minimalmalregeln für den
politischen Unterricht das Verbot der Überwältigung (Indoktrination) der
Schülerinnen und Schüler, das Gebot, auch gegensätzliche Meinungen zu
behandeln (Kontroversität) und Schülerorientierung betont. Die im BK
formulierten Minimalregeln hat
Bodo von Borries
(2021, S.72) für das Lernen von Geschichte präzisiert und dabei u.
a. Multiperspektivität, den Vergleich unterschiedlicher Positionen
(Kontrastierung) und Pluralität sowie historische Identitätsreflexion und -artikulation
betont.
Ibrahim (2021,
S.62.f) hat aus diesen und anderen Überlegungen heraus, das nachfolgende
Modell entwickelt, das geschichtsdidaktische Elemente eines wehrhaften
Geschichtsunterrichts veranschaulicht.
Für
größere (740px) und
große Ansicht (1000px) bitte an*klicken*tippen!
Das Fundament bilden dabei die Konzepte der Narrativität, des
Geschichtsbewusstseins und der Identitätsbildung. Die vier Säulen, die
Fundament und Dach verbinden und das Dach stützen, sind die unterrichtsleitenden Prinzipien Gegenwarts- und Zukunftsbezug,
Problemorientierung, Handlungsorientierung und Diversität und
Intersektionalität, die jeweils Orientierungsrahmen dafür abgegeben, wie die
basalen Ziele und Konzepte erreicht werden können. Das Dach bilden
Multiperspektivität, Konstruktivismus und Authentizität, die Säulen und das
Fundament schützen.
Bleibt die Frage, was das Konzept des "wehrhaften Geschichtsunterrichts" mit der Didaktik der • Literaturgeschichte im
schulischen • Literaturunterricht
zu tun hat.
Zunächst einmal bedeutet es, dass der literarhistorische Unterricht in der
Schule sich völlig nicht abseits jener Fragen verorten kann, die den
Fortbestand unserer Demokratie betreffen. Dazu muss er verstehen, dass die
Sinnangebote, die er unterbreitet, auch dazu befähigen sollen, sich in einer
Gesellschaft im Umbruch und in einer Welt mit ungewisser Zukunft orientieren
und darin rational begründbar handeln zu können.
Nötig sind dabei auch bei aller Multiperspektivät und Kontroversität
Beispiele von Autorinnen und Autoren aus der Literaturgeschichte, die, einem
mehr oder weniger vorhandenen Konsens folgend, mit ihrem Werk zur Entwicklung
eines Denkens beigetragen haben, das die Entwicklung unserer Demokratie
nachhaltig gefördert hat.
Wer die Kanonfrage auch in diesem Zusammenhang aufgreift, fasst ein heißes
Eisen an. Schließlich war die Kanonliteratur zu einer Zeit, in der "nationalsprachlichliche
Literatur als individuelles wie kollektives Identifikationsangebot und als
repräsentatives Medium individueller und kollektiver Selbstdarstellung
gelesen wurde, [...] zur bildungsbürgerlichen Ausdrucksform einer
Nationalkultur und damit zu einem breit angelegten nationalen, bald auch die
Schule wie das gesamte literarisch-kulturelle Leben bestimmenden
Bildungsprojekt" geworden (Korte
2002/2012, S.245)
Die Bildung eines Kanons erfolgt über kulturelle Selektionspozesse und das
"Kanon-Wissen ist stets auf Werte und Interessen des den Kanon bestimmenden
Kollektivs bezogen, das sich in der Tradition ein eigenes Selbstverständnis
gibt", (ebd.,
S.246)
Insofern "(besteht) der Anspruch eines kanonischen Textes gegenüber einem
anderen Text darin", wie Aleida
Assmann
(32011, S.
225) betont, "dass er von der Gesellschaft dazu bestimmt ist, die
historische Erfahrung bzw. die Wert einer kulturellen Gruppe zu
repräsentieren und mit jeder einzelnen Lektüre auch einzuüben."
Die wichtigsten Funktionen des Kanons sind dabei, gegenwärtig geltende Werte
zu legitimieren und im kulturellen Gedächtnis zu verankern, Identitäte(n) in
Abgrenzung gegen über anderem (Gesellschaften, gesellschaftliche Gruppen
etc.) zu stiften und zu stabilisieren und Handlungsorientierungen für die
Zukunft zu geben. (vgl. (Korte
2002/2012, S.246) Wird der
Literaturkanon dabei offen, d. h. elastisch, durchlässig und wandlungsfähig,
gebildet, kann er durchaus "alternativreiche Auswahlmuster" (ebd.)
anbieten, sie können aber auch, wenn sie das Gegenteil sind, hochemotionale
Inszenierungsmuster einer sozialen oder politischen Gruppierung sein und
ideologisch vereinnahmt werden.
Die Offenheit des Literaturkanons in der Schule durch eine noch stärkere
Obligatorik hinsichtlich der im Literaturunterricht zu behandelnden
literarischen Werke zu ersetzen, ist auch unter den heutigen Bedingungen
nicht das erste Mittel der Wahl, zumal ja auch die Entscheidungen darüber
selbst nur im Kontext der politisch-gesellschaftlichen und kulturellen
Bedingungen gesehen werden können, in denen sie getroffen worden sind.
Solche Konzepte sind normative Setzungen, die die Rolle von Schülerinnen und
Schülern als Lesesubjekte mit ihren eigenen lebensweltlichen Interessenlagen
zu wenig berücksichtigen. Hier einen gangbaren Weg zu finden, der die
Kanonbildung legitimieren kann, ist jedenfalls nicht einfach. In jedem Fall
beinhaltet er die Reflexion über den Kanon, wie es z. T. schon in •
Bildungsplänen, z. B. in Bayern, verankert ist. Die kanonisierten Texte
sollen auch von den Schülerinnen und Schüler hinter- und darauf befragt
werden, welche politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Interessen
hinter der jeweiligen Kanonbildung stehen.
Damit schließt sich auch
der Bogen zu den Ideologemen der AfD über "die deutschen Kulturgüter,
Traditionen" und über "Heimatliebe und Traditionsbewusstsein" und ihrer
unausgesprochenen Thematisierung der Kanonfrage, die an völkisch-nationale
Ziele gekoppelt sind. Und genau hier liegen die Aufgabe eines "wehrhaft"
gedachten literarhistorischen Unterrichts, der hier in wenigen Umrissen
skizziert wird.
Die Literaturdidaktik muss sich dabei zum Verteidiger der inzwischen
weitgehend dezentrierten Kanondebatte machen, die, wie Aleida
Assmann
(32011, S.
225) darlegt, "zunehmend von Standpunkten aus diskutiert wird, die
außerhalb der europäischen Mitte und jenseits des Zentrums dominanter
Kulturen und Gesellschaftsschichten liegen" und zu einem "clash of cultures"
geführt hätten.
Mit ihren komplementären Aspekten der Eingrenzung und Ausgrenzung müsse
zeitgemäße Traditionsbildung in einer Kanondebatte, die sich inzwischen zur
einer "vitale(n) und weltweite(n) Auseinandersetzung um kulturelle
Selbstbestimmung verwandelt" (ebd.)
habe, heute von drei Einsichten ausgehen:
-
die Einsicht, "in den
lebenswichtigen Zusammenhang von kultureller Überlieferung und
kollektiver Identität"
-
die Einsicht "in die
Vielfalt, Verschiedenheit und gegenseitige Ausschließlichkeit
kultureller Identitäten"
-
die Einsicht "in die
Entwertung weiblicher Kulturpotenziale durch männliche Dominanz sowie
die Zerstörung indogener Traditionen durch die koloniale Herrschaft" (ebd.)
Für die Literaturdidaktik
heißt dies auch, dass die in den KMK-Bildungsstandards und in den Lehr- und
Bildungsplänen der Länder, z. B. in •
Bayern, nur sehr zaghaft angebrachten Hinweise darauf, auch Werke der
Weltliteratur in den Literaturunterricht einzubeziehen, zu nutzen, um (völkisch-)nationalistischen
Instrumentalisierungen bewusst entgegenzuarbeiten. Kulturelle Vielfalt
einzufordern, muss dabei mehr als nur ein Lippenbekenntnis sein, sondern
sich auch in Konzepten und Modellen für den Literaturunterricht im
Allgemeinen und den Umgang mit der Literaturgeschichte im Besonderen zeigen,
die von der Literaturdidaktik zu entwickeln sind.
"Das Prägewerk der Identität", das jeder Kanon, "ob man das will oder nicht,
ob man dies anerkennt oder nicht" (Assmann
1998/2012, S, 220) darstellt, kann und darf zumindest nicht in die
politischen Hände derer fallen, die es mit ihrer demokratiefeindlichen und
menschenverachtenden Ideologie überformen. Warum sollte die
Literaturdidaktik neben allen anderen Zielen, die sie verfolgt, hier nicht
auch mit Konzepten zeigen, die "wehrhaft" dagegen stehen?