Epochenbegriffe im Literaturunterricht
Der schulische
Literaturunterricht wird, wenn es um den Stellenwert von
Epochenkonstrukten geht, von seiten der
Fachwissenschaft immer wieder lautstark kritisiert, so dass man fast den
Eindruck eines Bashings gewinnt, das für das Selbstverständnis der
Literaturwissenschaftler einfach dazugehört. Wenn davon gesprochen wird,
dass den Schülerinnen und Schülern, wenn es um literaturgeschichtliche
Entwicklungszusammenhänge geht, oft entweder • "ein Beinhaus
ausrangierter Allgemeinplätze" (Willems
2012, S.9) oder, im anderen Fall, ein "Sich-Verlieren in Spezialgebieten". (ebd.)
geboten werde, dann zielen solche überzogenen Formulierungen natürlich auch
darauf, die schulische Praxis im Umgang mit Literaturgeschichte von Grund
auf zu diskreditieren, ohne sich auf die literaturdidaktischen Fragen
tatsächlich einzulassen.
Korte (2003/2012,
S.313) attestiert dem literaturhistorischen Unterricht in der Schule ein
"schlechtes Image als Pauk-,
Memorier- und Quizstoff", auch wenn er zugleich konzediert, dass der
Umgang mit Literaturgeschichte in der Schule ein "schwierige(s) Geschäft"
darstellt. Das in der Schule vermittelte Orientierungswissen darüber blende
die Genese der Epochenbegriffe und ihre Prämissen aus. Der
literarhistorische Unterricht dränge die Schülerinnen und Schüler in eine "passivische
Lernerrolle" (
ebd., S.310), indem er das Orientierungswissen nicht selbständig
erarbeiten lassen, sondern oktroyiere.
So wird von den
Schülerinnen und Schüler erwartet, allerlei Fakten zu lernen, zu memorieren
und im Normalfall aus dem Gedächtnis abzurufen, um dieses Wissen auf einen
Text anzuwenden. Üblicherweise kommen dabei
Zeittabellen, Merkkästchen, Zusammenfassungen und/oder Lexikonauszüge zum
Einsatz, die unhinterfragt als reine Informationstexte behandelt werden.
Aber auch sonst bleibt die Literaturgeschichte stets auf ihre Funktion als "Verstehenshilfe"
beschränkt, wird im Grunde nie ein "selbständiges Thema, sondern allenfalls
ein Stichwortreservoir zur vertieften Werklektüre." (ebd.,
S.311) Dabei spielt aber auch eine große Rolle, dass die Schülerinnen und
Schüler wenig historisches Allgemeinwissen mitbringen, was auch die Arbeit
mit Zeittabellen oder kursorischen Überblicken nicht auf die Schnelle
beseitigen kann. Am Ende beklagt
Korte (2003/2012,
S.312), dass es trotz aller großmundigen Aufforderungen im Grunde kaum
Anätze gebe, die "Geschichtslernen und den Umgang mit Literaturgeschichte
aufeinander [...] beziehen, also Fragen nach Motiven und Motivationen
historischer Neugierde, nach Geschichtsinteressen und fachmethodischen
Verfahren über die Fachgrenzen hinaus [...] stellen."
Die Einteilung der
▪
Literaturgeschichte
in mehr oder weniger klar voneinander abgrenzbare Epochen, wie sie vor allem
die ältere Literaturgeschichtsschreibung vorgenommen hat, ist in der
Literaturwissenschaft schon seit langem problematisiert worden und hat zum
Teil dazu geführt, dass der
Ordnungscharakter von Epochenbegriffen zur Beschreibung der literarischen
Entwicklung aufgegeben, zumindest aber
grundlegend relativiert worden ist. Für
Korte (2003/2012,
S.313) ist "Literaturgeschichte heute ohne Einsicht in die Komplexität des
Gegenstandes und ohne Reflexion der eigenen Ordnungs- und
Konstruktionsprinzipien", wenn sie sich auf der Höhe der Zeit zeigen will,
gar nicht mehr möglich. Die erforderliche Reflexion umfasst dabei nicht nur
den Konstruktcharakter der Epochenbegriffe und die vermeintliche lineare
Abfolge von Epochen, sondern auch die "Frage, warum Literaturgeschichten
seit dem 19. Jahrhundert über Generationen hinweg national codiert waren und
sich als • Geschichte von
Nationalliteraturen verstanden"
(ebd., S.312)
Auch wenn die
Literaturwissenschaft die grundsätzlichen Probleme von traditionellen
Epochenbegriffen und ihrem Gebrauch erkannt hat und unumstritten ist, dass
es sich bei den Epochenbegriffen stets um wissenschaftliche Konstruktionen
handelt, benötigt sie doch die Epochenbegriffe. (vgl.
Jeßing/Köhnen 22007,
S.12) Und auch der Literaturunterricht muss darauf nicht verzichten, wenn
"Epochenbegriffe [...] wie Interpretationshypothesen genutzt,
sozusagen als Wegweiser zur genaueren Textbetrachtung" (Leubner/Saupe/Richter
2016, S.231) fungieren. Dies geschieht durch ein induktives
Vorgehen, bei dem die jeweiligen Texte darauf befragt werden, ob sie
Merkmale enthalten, die für eine bestimmte Epoche zutreffen. Wenn es als
Konstruktion und Interpretation angesehen wird, ist das Konzept Epoche
also auch weiterhin sinnvoll. (z. B. vgl.
Wichert 22013,
S.53, vgl.
Pauldrach 2020, S.7)
So zählt auch die Fähigkeit, mit den
historisch bedingten Ordnungssystemen und anderen Konstrukten
problemorientiert umgehen zu können und diese auch in Frage stellen zu
können (vgl.
Abraham/Rauch 2011, S.345f.) zu den Kernkompetenzen einer •
literaturgeschichtlichen Kompetenz, die als Teil der literarischen
Kompetenz anzusehen ist.
Die Problematisierung der
Epochenbegriffe muss dabei auch alle Fragen mit einbeziehen, die mit dem
Literaturkanon zu tun haben. Denn wenn die Literaturgeschichte und ihre
Epochenkonstrukte nicht mehr als "Lerngegenstand mit eigener Dignität und
hoher Evidenz" (Korte
2003/2012, S.310) wahrgenommen werden, dann stellen sich (nicht nur
Schülerinnen und Schülern) Fragen nach der Auswahl und dem Stellenwert von
Autoren der so genannten
Höhenkammliteratur
und den Interessen, die dahinter stehen, wenn deren vermeintlich
epochenmachende Bedeutung Beispiel: "Goethezeit") herausgestrichen wird und
als Bestandteil des "kulturellen Gedächtnisses" präsentiert wird,
Um solche Kompetenzen zu
erwerben, können Epochenbegriffe im Unterricht auf unterschiedliche Art und
Weise problematisiert werden.
Im Kern geht es dabei immer um Methoden die
Perspektivität und Konstruktivität von Epochenbegriffen entweder •
kognitiv-analytisch oder •
handlungsorientiert
erfahrbar machen können. Sieht man an dieser Stelle von übergeordneten
Konzepten ab, dann kommen dafür z.B. die folgenden Methoden in Frage:
Kognitiv-analytische
Methoden
-
Anhand entsprechender auszugsweise präsentierter Darstellungen der
Literaturgeschichtsschreibung können unterschiedliche
Epocheneinteilungen problematisiert werden.
-
Fachwissenschaftliche
Texte, die die Epochenproblematik thematisieren können im Rahmen einer
vergleichenden Sachtextanalyse untersucht werden.
-
Durch die Bereitstellung
einer breiten Materialbasis, die Texte unterschiedlicher (medialer) Art,
präsentiert, können die Schülerinnen und Schüler prüfen, ob ein oder
mehrere Texte in das Schema eines bestimmten Epochenbegriffs passen oder
nicht.
-
Durch die Präsentation
von Texten eines einzigen oder auch mehrerer Autorinnen und Autoren, die
ihre Werke in Zeiten von • Epochenumbrüchen verfasst haben,
können die Schülerinnen und Schüler begründete
Zuordnungen zu kritisch zu reflektierenden Epochenbeschreibungen aus
Schulbüchern oder Internetquellen vornehmen. Zu solchen Epochenumbrüchen
gehören im schulischen Literaturunterricht vor allem die Umbrüche um
1800 mit dem Neben- und Ineinander verschiedener Epochen und z. T.
konkurrierender Begriffe (vor allem
▪
Aufklärung
(1720-1785),
▪
Sturm und Dang
(1760-1785), ▪
(Weimarer)
Klassik (1786-1805),
▪
Jakobinismus (1789-1796)
und
▪ Romantik
(1793-1835) sowie der sog. "Kunstepoche", der Zeit, "die
eingeschlossen von zwei europäischen Revolutionen, zwischen den beiden Polen
Revolution und Restauration oszillierte" (Stephan
1989, S.154)
Handlungs- und
produktionsorientierte Methoden
-
Schülerinnen und Schüler
können dazu veranlasst werden, einen historischen Text probeweise einer
anderen Epoche, als der, zu der sie gewöhnlich gezählt wird, zuzuordnen
und sie auf dem diesem Hintergrund zu interpretieren.
-
Die Schülerinnen können,
wenn sie z. B. aus einer gewissen Anzahl von Kurztexten (z. B. lyrische
Texte, Kurzprosa) so genannte "Cluster" bilden und dafür eigene
Bezeichnungen finden. Eine solche Methode bietet sich vor allem für
Texte aus der Gegenwartsliteratur an, für die auch in der
Fachwissenschaft keine einheitlichen Kategorien und Begriffe vorliegen.
(vgl.
Kepser/Abraham 42016, S.60)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.09.2024
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