Die Behandlung von ▪
Literaturgeschichte
im Unterricht steckt in einem Dilemma. Auf der einen Seite wird das
literaturgeschichtliche Wissen, ähnlich wie das Gattungswissen zum •
Orientierungs- bzw. Überblickswissen gezählt, über das die Schülerinnen und Schüler verfügen sollen oder
das sie im
Rahmen von Kontextarbeit
erwerben sollen. Auf der anderen Seite sind wesentliche Orientierungen und
Strukturen, mit denen man im epochenzentrierten Literaturunterricht
vergangener Tage Ordnung in das System brachte, wenn nicht völlig
weggebrochen, so doch "marginalisiert" (Wichert
22013,
S.43) worden. Insbesondere das Epochenparadigma hat, endgültig zum Konstrukt
erklärt, den Rang eines "hegemonialen Deutungsrahmens" (Kepser/Abraham
42016, S.58) verloren.
Dennoch: Die Bedeutung
literaturgeschichtlichen Wissens für das Verstehen literarischer Texte steht
im Prinzip damit nicht in Frage. Allerdings ist die Frage, was genau
literaturgeschichtliche Kompetenz ist, auf welchen Fähigkeiten und
Kenntnissen sie beruht, nicht abschließend geklärt. Ob dazu ein
deklaratives
Wissen über alle traditionellen Epochen oder nur ausgewählter gehört, das in
Interpretationsprozesse von Schülerinnen und Schülern eigenständig
eingebracht werden muss und welche Wissensbestandteile dafür in Frage
kommen, wird sehr unterschiedlich gesehen und bewertet.
Ein Blick auf die
didaktischen Vorgaben, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
galten, zeigt, wie sehr sich u. a. durch die Kompetenzorientierung die
Verhältnisse heute geändert haben. So betont
Weber (1975, S.333),
dass im Laufe der Schulzeit ein "Grundriß
von Literatur" aufgebaut werden sollte. Den Weg dahin sieht er vor allem
in dem Verfahren, zu literarischen "Texten frühzeitig chronologische
Grobraster, dann biographische und epochengeschichtliche Hinweise zu geben."
Entsprechend dieses instruktionistischen Ansatzes im Rahmen eines
lehrerzentrierten Unterrichts fallen auch seine methodischen Vorschläge aus.
So sollen
-
"schriftliche
Fixierungen (zu Werken, Autoren, Epochen)
in einer Literaturmappe gesammelt und durchgehend systematisch
erweitert" werden
-
"Zusammenhänge vom Lehrer
durch Überblicke hergestellt" werden
-
"das historische
Verständnis durch begleitendes
Mitlesen in einer Literatur- und einer allgemeinen
Geschichte untermauert" werden
-
Querschnitte (mittels Texten) durch
Ausblicke (Lehrer, Schülerreferate usw.) auf das Vorhergehende und
Nachfolgende in den geschichtlichen Zusammenhängen einbezogen" werden
-
"Längsschnitte
(mittels Texten) ebenso auf der synchronen Ebene des Zeitgenössischen
gesichert werden"
Rein instruktionistische Konzepte sind
heutzutage überwunden. Trotzdem sind auch heute in Zeiten des •
kompetenzorientierten
Unterrichts noch viele Fragen nicht hinreichend beantwortet.
Korte (2003/2012,
S.312) betont, dass es unter den Bedingungen des Literaturunterrichts um die
Jahrtausendwende herum, "keinen Königsweg zu einem neuen Umgang mit der
Literaturgeschichte in der Schule" gebe. Was sich aber angesichts der
fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Entwicklungen eröffnet hätte,
seien neue "Praxisperspektiven", die "Umorientierungen, Akzentverschiebungen
und Experimente auf begrenzten Feldern" möglich machten. Dazu zählt er
einige Möglichkeiten auf:
-
Literaturgeschichte als
eigenständigen Unterrichtsgegenstand mit eigenen Fragestellungen und
Verfahrensweisen und einer eigenständigen Sachsstruktur etablieren
-
Literaturgeschichtsschreibung auf dem Weg entdeckenden Lernens
beobachten und Literaturgeschichten dadurch historisieren, dass sie im
Vergleich von Auszügen ihre eigene Historizität
erkennen lassen und
dabei "erste, elementare Einblicke in den kulturellen
Verwertungszusammenhang literarhistorischen Wissens und dessen
geschichtlichen Wandel"
(ebd.,
S.314) ermöglichen
-
Literaturgeschichte auf
die Arbeit mit und an Texten unterschiedlicher Art konzentrieren, um
damit den ihr immer wieder zugeschriebenen "Charakter einer erklärenden
Bezugsinstanz"
(ebd.) zu
verringern bzw. zu relativieren.
-
Literaturgeschichte am
Prinzip der Exemplarität
orientieren, "das fachliche wie pädagogische Ansprüche berücksichtigt"
(ebd.,
S.315); didaktisch seien dabei Eigenaktivität, Selbständigkeit und
entdeckende Recherchen erste Wahl;
-
Literaturgeschichte als
Erkundung von Zeiträumen z. B.
in Form von exemplarischen historischen Längsschnitten, punktuellen,
herausragenden Zeitereignissen, Zäsuren oder Schwellenzeiten gestalten
und dabei kritisch prüfen, ob Epochenbegriffe dazu geeignete Kategorien
und Ordnungsprinzipien darstellen
-
Literaturgeschichte mit
Makroepochen im zeitlichen Kontinuum beschreiben, die die Chance bieten,
"die Geschichtlichkeit des Phänomens Literatur näher zu erfassen und
Problemkonstellationen in größeren Zusammenhängen zu überschauen."
(ebd.,
S.315f.)
Auch heute steht die
Frage wohl immer noch Raum, "ob und wie ein kompetenzorientierter Unterricht
einen selbständigen und forschenden Umgang mit Literaturgeschichte fördern
und dabei die Gefahr »einer stillschweigenden Rekanonisierung« sowie einer
Normierung von literarischer Bildung vermeiden kann" (Abraham/Rauch 2011,
S.348). Dies gilt auch literarische Bildung weit entfernt von einem "auf Ganzheitlichkeit abzielenden
Bildungskonzept" konzeptionalisiert wird und eine "ganzheitliche subjektbezogene Lerndimension,
die das affektive, imaginative, ästhetische und historische Potential von
Literatur" (ebd.,
S.333) ein gewichtiges Wort mitsprechen lässt.
In der Literaturdidaktik gibt es durchaus Zweifel, ob sich die mit dem
• allgemeinen Kompetenzbegriff
zusammenhängen Könnenserwartungen bei der
Beschäftigung mit Literaturgeschichte überhaupt abbilden lassen. (vgl.
Abraham/Rauch 2011, S.340), auch wenn sie sich damit literaturgeschichtliche
Kompetenz theoretisch plausibel machen lässt. (vgl.
ebd., S.346)
Wer sich also literaturgeschichtliche Kompetenz auf die Fahnen schreibt,
darf auch die Augen vor der Komplexität nicht verschließen. Wer nämlich "vom literaturgeschichtlichen Wissen zur
literaturgeschichtlichen Kompetenz im Umgang mit historischen Texten oder
ganzen Kulturen" (ebd.)
gelangen will,
braucht dazu nicht nur eine gut ausgeprägte Lesekompetenz und kulturgeschichtliches
Kontextwissens. Dazu kommen muss auch die
volitionale Bereitschaft,
sich in "einer Haltung der Neugier und Toleranz, zu deren Aufbau der
Literaturgeschichtsunterricht beitragen kann", auf Sprache und Form älterer
und
strukturell fremd wirkender Texte überhaupt einzulassen, "und das, was
sie zu sagen haben, als ihrerseits zeitgebundene Botschaften zu Problemen
der (Jetzt)Zeit (zu) lesen." (ebd.)
Abraham/Rauch (2011, S.345f.) gehören die nach folgenden Merkmale zu
einer literaturgeschichtlichen Kompetenz, die als Teil einer umfassenden
literarischen Kompetenz anzusehen ist. Dazu zählen
Kepser/Abraham
(42016, S.59-61) haben 5 verschiedene Wege zusammengestellt, mit denen
literaturgeschichtliche Fragestellungen sinnvoll zum Gegenstand des
Literaturunterrichts werden können:
Ebenso sinnvoll könne es
auch sein, biografische Hintergründe im Lehrervortrag als "human interest
stories" zu präsentieren, zumal Literaturgeschichte ja ohnehin immer
Narration sei.
Auch der Zugang über das
zeitgenössische Epochenbewusstsein, das
Wichert
(22013, S.44) als "methodisch machbarste Praxis der
Hinführung von Schülern zu literaturgeschichtlichen Perspektiven" erscheint,
ist in der Sekundarstufe II interessant. So kann mit diesem Ansatz die
zeitgenössische Wahrnehmung von Epochenzäsuren thematisiert werden, wenn z.
B. autobiografische Texte von Autoren oder programmatische Texte einbezogen
werden. Allerdings ist dies offenbar noch immer selten der Fall und das
"obwohl sie doch auch im gegenwärtigen Alltag von Schüler/innen, etwa in den
Medien oder in der heutigen Geschichtskultur, eine immense Rolle spielen." (Pauldrach
2020, S.1) Vielleicht, so vermutet Matthias
Pauldrach (2020),
liegt dies daran, dass die Schule der immer wieder kritisierten
Personalisierung komplexer und gesellschaftlicher Zusammenhänge im Sinne
"der Schilderung der Taten »großer Menschen« entgegenwirken will.
Zeitgemäße
Literaturgeschichte befasst sich daher mit vielfältigen Aspekten der
literarischen Entwicklung: In ihr kommt die diachrone Rezeptionsgeschichte
mit allem zu Wort, was dazugehört, wenn von literarischen Texten Gebrauch
gemacht wird. Dazu sollte sie sich nach Ansicht von
Matthis Kepser und Ulf Abraham (42016) am "Leitbild literarischer Kommunikation" orientieren,
"die nicht auf einen Sprach- und Kulturraum, schon gar nicht auf eine
bestimmte Nation beschränkt ist und in vielen Medien stattfindet." (ebd.,
Hervorh. d. verf.)
Die
literarhistorische
Globalgeschichtsschreibung steht dabei noch in den Anfängen und muss ihre •
Position zwischen Mono- und Multiperspektivismus erst noch finden.
Ob, und wenn ja, welche
Darstellung der Literaturgeschichte im Unterricht herangezogen werden
sollte, wird didaktisch kontrovers gesehen. Ob ihre Verwendung für den
kompetenzorientierten Unterricht Sinn macht, hängt wie in so vielen Fällen
davon ab, wie und unter welchen Prämissen davon Gebrauch gemacht wird.
Sofern den Schülerinnen und Schülern ihr Konstruktcharakter klar ist, können
sie auch eigenverantwortlich auf solche Informationsquellen zurückgreifen.
Auch die auszugsweise Präsentation verschiedener gängiger
Literaturgeschichten kann den Konstruktcharakter gut verdeutlichen.
Die in den Schulen
oft noch vorhandenen, meist für •
den Schulgebrauch verfassten Literaturgeschichten
können dabei auszugsweise zum Vergleich herangezogen werden. Aus der
Vielzahl der dafür in Frage kommenden Lehrwerke, deren Zahl noch beliebig
durch Themenhefte zu einzelnen Literaturepochen erweitert werden können.
Natürlich können,
insbesondere für den Vergleich, auch wissenschaftliche Literaturgeschichten wie
z. B. die 12bändige "Geschichte
der deutschen Literatur, von den Anfängen bis zur Gegenwart"; 1949 begr.
v. Helmut de Boor und Richard Neewald" oder Gottfried
Willems (2012f.)
Geschichte der deutschen Literatur oder etliche andere auszugsweise herangezogen werden.
Auf der Webseite des
Projekts »LiGeDi
der Universitäten Bielefeld und Paderborn sowie der Bergischen
Universität Wuppertal werden die Vielzahl der wissenschaftlichen
Literaturgeschichten unter den nachfolgenden Kategorien zusammengestellt.
Eine »Bibliothek
mit OER-lizenzenzierten Studieneinführungen zu verschiedenen Zeiträumen
bietet dazu ein ausgezeichnetes Angebot von Texten.
Auf der Grundlage dieser
Einteilung kann man verschiedene literaturgeschichtliche Deutungsansätze in
ihrem Konstruktcharakter miteinander vergleichen und geeignete Textauswahlen
zusammenstellen.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.08.2024
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