Einen Auftrieb erhielten
biografische Zugänge und Ansätze erst wieder mit der postmodernen
Geschichtsauffassung, für die auch der amerikanische Literaturwissenschaftler
»Stephen Greenblatt (geb. 1943)
steht, der als einer der wichtigsten
Theoretiker des so genannten »New
Historicism gilt.
Dieser wendet sich ganz
bewusst von den •
epochenorientierten, teleologischen, vereinheitlichenden hermeneutisch
fundierten Rekonstruktionsmodellen ab (vgl.
Nutz 1997/2012,
S.277). Stattdessen betont er - in aller Kürzegesagt - die Verflechtung von Literatur und Geschichte und stellt
traditionelle Vorstellungen von literarischer Autonomie und historischer
Objektivität grundsätzlich in Frage.
Indem er die strikte Trennung von
literarischem Text und historischem Kontext ablehnt, betont er die Wechselwirkung
zwischen Literatur und anderen kulturellen Diskursen und setzt die Literatur
in Beziehung zu zeitgenössischen politischen, sozialen und kulturellen
Phänomenen. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen geht er von einer viel
breiteren interdisziplinär ausgerichteten
Materialbasis aus und bezieht literarische und nicht-literarische
Texte, Gemälde, Filme, Fotos, Rituale, Alltagsmythen und symbolische
Handlungen (vgl. Kaes 1995,
S.262) ein, die er so miteinander vernetzen will, "daß sie wieder mit jenen
Bedeutungen aufgeladen werden, die durch die unvermeidlich selektive
Überlieferung verlorengegangen sind." (ebd.)
Dabei will der New Historicism auf der
Inhaltsebene die "komplizierten Wege, in denen Kultur, Gesellschaft
und Politik ineinandergreifen" analysieren und Machtstrukturen aufdecken,
"an denen vielfach vermittelt auch die Literatur teilhat." (ebd.)
Auf der Darstellungsebene
schließlich "verbindet der New Historicism die Ergebnisse intensiver
Archivarbeit mit einer bewußt anekdotischen, subjektiven Präsentation, in
der das Nicht-Systematische, Widersprüchliche, Kontingente, ja Zufällige
betont wird. Statt Vereinheitlichung gelten Pluralität und Heterogenität
(Literaturgeschichte sollte nicht nur eine Geschichte, sondern viele
Geschichten erzählen), statt linearer Erzählung assoziative Montage, statt
der Suche nach einem festen Bedeutungskern ein Spiel mit dem historisch wie
linguistische bedingten Bedeutungsüberschuß symbolischer Sprache." (ebd.,
S.263)
Literaturgeschichte im
Sinne des New Historicism lehnt ferner eine hierarchische Trennung von "höherwertiger"
und geringwertiger" kultureller Phänomene ab und behandelt alle kulturellen
Phänomene bei ihrer Analyse gleichwertig. Darüber hinaus betrachtet sie
Geschichtsschreibung als etwas, das von den Perspektiven und Werten des
jeweiligen Textproduzenten abhängt und betont auch damit ihren
"Konstruktionscharakter" (Fichte
2007, S.712)
»Stephen Greenblatt (geb. 1943)
hat der
exemplarischen biographischen Erzählung mit seinem 'anekdotischen‘ Zugang
zur Literaturgeschichte wieder neues Leben eingehaucht. Für ihn sind
Anekdoten nicht nur unterhaltsame Geschichten oder Randnotizen, sondern eine
wertvolle Quelle für die Erforschung historischer Zusammenhänge und
kultureller Praktiken. Sein Anekdotenbegriff zielt dabei nicht auf
"geschichtsphilosophische Totalitäten wie Epoche, Zeitgeist o.ä." (ebd.),
sondern auf das Typische (einer Person, Epoche, Strömung etc.), das eine
Anekdote in narrativ pointieren und damit zuspitzen kann. (vgl.
Pauldrach 2020,
S.2)
Die Anekdote ist für den
New Historicism mehr als nur ein Mittel, um Leser zu fesseln. Sie steht auch
für eine neue Art, Geschichte zu betrachten. Es geht nicht mehr darum, eine
große Geschichte im Sinne einer Meistererzählung zu erzählen oder an einer
monologischen Geschichte weiterzuschreiben. Sie will historische
Wahrheit erzählen, tut dies aber auf eine Weise, die diese Wahrheit in Frage
stellt. Damit ist das anekdotische Erzählen im New Historicism ein Mittel,
um Geschichte darzustellen. Die Anekdote zeigt damit auch, was unter dem •"Aufladen
von Textstellen mit kultureller Energie" verstanden werden kann. (Baßler 1995,
S. 19)
Eine Anekdote stellt dabei
in literaturwissenschaftlicher Sicht "eine kurze zunächst mündliche
Erzählung von einem merkwürdigen Vorfall" dar, "der – glaubwürdig, aber
nicht bezeugt – einer bekannten Person widerfahren und wegen seines
geistreichen Ausgangs in Erinnerung geblieben ist." (Schlaffer
2007, S.87) Trotz ihrer Pointierung und Kürze erhebt sie Anspruch auf
Faktizität (vgl. ebd.).
Sie gibt nämlich wie alle • Geschichtserzählungen "den inhaltlichen
Wahrheitsanspruch keineswegs auf", folgt aber dabei "einer bestimmten
Perspektive, gibt eine Denkrichtung vor, mit der sich die Leserin
auseinanderzusetzen hat." (Buschmeier
2011, S.16) Der historische Wahrheitsanspruch, den die Anekdote erhebt,
geht dabei "einher mit einer narrativen Form, die eben diese nicht stützt,
sondern in Frage bzw. ganz in die Perspektive des Erzählers stellt." (ebd.,
S.11) Anekdotisches Erzählen wird im New Historicism damit "Teil einer
Darstellungsstrategie die
'die Gesamtheit der Kultur zur Domäne der Literaturwissenschaft zu machen
[sucht] – zu einem unendlich interpretierbaren Text, einer unerschöpflichen
Geschichtensammlung, der man Kuriositäten entnehmen kann, um diese alsdann
findig neu zu erzählen.' " (Montrose
1995, S.66, zit. n. (ebd.)
Anekdoten, die es in allen
Kulturen und Epochen gibt, werden dabei oft als "intime Nachricht über das
Leben der anderen gehört und als unterhaltende Ergänzung zur Biographik und
Historiographie gelesen." (Schlaffer
2007, S.89)
Greenblatt schreibt
Anekdoten das Potenzial zu, verborgene Aspekte der Vergangenheit zu
beleuchten und neue Perspektiven auf historische Ereignisse und kulturelle
Phänomene zu eröffnen. Daher wird die Anekdote m New Historicism als
gleichberechtigte Quelle neben anderen historischen Dokumenten betrachtet.
Dabei wird sie nicht isoliert analysiert, sondern in Beziehung zu anderen
Texten und kulturellen Artefakten gesetzt, um ein umfassenderes Bild der
Vergangenheit zu erhalten.
Zugleich betont Greenblatt
die Subjektivität und Kontextgebundenheit von Anekdoten. Sie stellen nicht
einfach objektive Tatsachenberichte dar, sondern sind geprägt von den
Perspektiven und Interessen der Erzähler und ihrer Zuhörer. Diese
Subjektivität macht sie aber gerade für Greenblatt besonders interessant, da
sie Einblicke in Denkweisen, Werte und Normen vergangener Zeiten
ermöglichen.
Für den Literaturunterricht
sind solche • narrativen Zugänge zur Literaturgeschichte in jedem Fall von
Bedeutung, zumal sie vermutlich motivierender für Schüler/innen sind als
abstrakt-deskriptive Epochendefinitionen ohne jede Anschaulichkeit
Literaturgeschichte wohl kaum "zum Leben "erwecken und auch nachhaltig im
Gedächtnis zu verankern können. (vgl.
Pauldrach 2020,
S.2)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.08.2024