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Didaktische und methodische Aspekte

Anekdotisches Erzählen

Literaturgeschichte


FAChbereich Deutsch
Glossar
Literatur Autorinnen und Autoren Literarische Gattungen ▪ Literaturgeschichte [ Didaktische und methodische Aspekte Überblick Orientierungswissen und Überblickswissen Wege zu literaturgeschichtlicher Kompetenz Querschnitte und EpochenumbrücheTraditionelle Epochenkonstrukte oder Random Access? Anekdotisches Erzählen ◄ • Erinnerungsarbeit mit Schneisen und Erkundungsrouten Der biografische Ansatz im Wandel Historisches Erzählen Literaturgeschichte in gängigen schulischen Lehrwerken  Didaktik der Literaturgeschichte und "wehrhafte" Demokratie ] Überblick Von der Nationalliteratur zum modernen Pluralismus Literatur auf dem Weg in die Moderne Zwischen Mono- und Multiperspektivismus Literaturepochen  Motive der Literatur Grundlagen der Textanalyse und Interpretation Literaturunterricht Schreibformen  Operatoren im Fach Deutsch
  

 

Einen Auftrieb erhielten biografische Zugänge und Ansätze erst wieder mit der postmodernen Geschichtsauffassung, für die auch der amerikanische Literaturwissenschaftler »Stephen Greenblatt (geb. 1943) steht, der als einer der wichtigsten Theoretiker des so genannten »New Historicism gilt.

Dieser wendet sich ganz bewusst von den • epochenorientierten, teleologischen, vereinheitlichenden hermeneutisch fundierten Rekonstruktionsmodellen ab (vgl. Nutz 1997/2012, S.277). Stattdessen betont er - in aller Kürzegesagt -  die Verflechtung von Literatur und Geschichte und stellt traditionelle Vorstellungen von literarischer Autonomie und historischer Objektivität grundsätzlich in Frage.

Indem er die strikte Trennung von literarischem Text und historischem Kontext ablehnt, betont er die Wechselwirkung zwischen Literatur und anderen kulturellen Diskursen und setzt die Literatur in Beziehung zu zeitgenössischen politischen, sozialen und kulturellen Phänomenen. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen geht er von einer viel breiteren interdisziplinär ausgerichteten Materialbasis aus und bezieht literarische und nicht-literarische Texte, Gemälde, Filme, Fotos, Rituale, Alltagsmythen und symbolische Handlungen (vgl. Kaes 1995, S.262) ein, die er so miteinander vernetzen will, "daß sie wieder mit jenen Bedeutungen aufgeladen werden, die durch die unvermeidlich selektive Überlieferung verlorengegangen sind." (ebd.) Dabei will der New Historicism auf der Inhaltsebene die "komplizierten Wege, in denen Kultur, Gesellschaft und Politik ineinandergreifen" analysieren und Machtstrukturen aufdecken, "an denen vielfach vermittelt auch die Literatur teilhat." (ebd.) Auf der Darstellungsebene schließlich "verbindet der New Historicism die Ergebnisse intensiver Archivarbeit mit einer bewußt anekdotischen, subjektiven Präsentation, in der das Nicht-Systematische, Widersprüchliche, Kontingente, ja Zufällige betont wird. Statt Vereinheitlichung gelten Pluralität und Heterogenität (Literaturgeschichte sollte nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten erzählen), statt linearer Erzählung assoziative Montage, statt der Suche nach einem festen Bedeutungskern ein Spiel mit dem historisch wie linguistische bedingten Bedeutungsüberschuß symbolischer Sprache." (ebd., S.263)

Literaturgeschichte im Sinne des New Historicism lehnt ferner eine hierarchische Trennung von "höherwertiger" und geringwertiger" kultureller Phänomene ab und behandelt alle kulturellen Phänomene bei ihrer Analyse gleichwertig. Darüber hinaus betrachtet sie Geschichtsschreibung als etwas, das von den Perspektiven und Werten des jeweiligen Textproduzenten abhängt und betont auch damit ihren "Konstruktionscharakter" (Fichte 2007, S.712)

»Stephen Greenblatt (geb. 1943) hat der exemplarischen biographischen Erzählung mit seinem 'anekdotischen‘ Zugang zur Literaturgeschichte wieder neues Leben eingehaucht. Für ihn sind Anekdoten nicht nur unterhaltsame Geschichten oder Randnotizen, sondern eine wertvolle Quelle für die Erforschung historischer Zusammenhänge und kultureller Praktiken. Sein Anekdotenbegriff zielt dabei nicht auf "geschichtsphilosophische Totalitäten wie Epoche, Zeitgeist o.ä." (ebd.), sondern auf das Typische (einer Person, Epoche, Strömung etc.), das eine Anekdote in narrativ pointieren und damit zuspitzen kann. (vgl. Pauldrach 2020, S.2)

Die Anekdote ist für den New Historicism mehr als nur ein Mittel, um Leser zu fesseln. Sie steht auch für eine neue Art, Geschichte zu betrachten. Es geht nicht mehr darum, eine große Geschichte im Sinne einer Meistererzählung zu erzählen oder an einer monologischen Geschichte weiterzuschreiben. Sie will historische Wahrheit erzählen, tut dies aber auf eine Weise, die diese Wahrheit in Frage stellt. Damit ist das anekdotische Erzählen im New Historicism ein Mittel, um Geschichte darzustellen. Die Anekdote zeigt damit auch, was unter dem •"Aufladen von Textstellen mit kultureller Energie" verstanden werden kann. (Baßler 1995, S. 19)

Eine Anekdote stellt dabei in literaturwissenschaftlicher Sicht "eine kurze zunächst mündliche Erzählung von einem merkwürdigen Vorfall" dar, "der – glaubwürdig, aber nicht bezeugt – einer bekannten Person widerfahren und wegen seines geistreichen Ausgangs in Erinnerung geblieben ist." (Schlaffer 2007, S.87) Trotz ihrer Pointierung und Kürze erhebt sie Anspruch auf Faktizität (vgl. ebd.). Sie gibt nämlich wie alle • Geschichtserzählungen "den inhaltlichen Wahrheitsanspruch keineswegs auf", folgt aber dabei "einer bestimmten Perspektive, gibt eine Denkrichtung vor, mit der sich die Leserin auseinanderzusetzen hat." (Buschmeier 2011, S.16) Der historische Wahrheitsanspruch, den die Anekdote erhebt, geht dabei "einher mit einer narrativen Form, die eben diese nicht stützt, sondern in Frage bzw. ganz in die Perspektive des Erzählers stellt." (ebd., S.11) Anekdotisches Erzählen wird im New Historicism damit "Teil einer Darstellungsstrategie die
'die Gesamtheit der Kultur zur Domäne der Literaturwissenschaft zu machen [sucht] – zu einem unendlich interpretierbaren Text, einer unerschöpflichen Geschichtensammlung, der man Kuriositäten entnehmen kann, um diese alsdann findig neu zu erzählen.' " (Montrose 1995, S.66, zit. n. (ebd.)

Anekdoten, die es in allen Kulturen und Epochen gibt, werden dabei oft als "intime Nachricht über das Leben der anderen gehört und als unterhaltende Ergänzung zur Biographik und Historiographie gelesen." (Schlaffer 2007, S.89)

Greenblatt schreibt Anekdoten das Potenzial zu, verborgene Aspekte der Vergangenheit zu beleuchten und neue Perspektiven auf historische Ereignisse und kulturelle Phänomene zu eröffnen. Daher wird die Anekdote m New Historicism als gleichberechtigte Quelle neben anderen historischen Dokumenten betrachtet. Dabei wird sie nicht isoliert analysiert, sondern in Beziehung zu anderen Texten und kulturellen Artefakten gesetzt, um ein umfassenderes Bild der Vergangenheit zu erhalten.

Zugleich betont Greenblatt die Subjektivität und Kontextgebundenheit von Anekdoten. Sie stellen nicht einfach objektive Tatsachenberichte dar, sondern sind geprägt von den Perspektiven und Interessen der Erzähler und ihrer Zuhörer. Diese Subjektivität macht sie aber gerade für Greenblatt besonders interessant, da sie Einblicke in Denkweisen, Werte und Normen vergangener Zeiten ermöglichen.

Für den Literaturunterricht sind solche • narrativen Zugänge zur Literaturgeschichte in jedem Fall von Bedeutung, zumal sie vermutlich motivierender für Schüler/innen sind als abstrakt-deskriptive Epochendefinitionen ohne jede Anschaulichkeit Literaturgeschichte wohl kaum "zum Leben "erwecken und auch nachhaltig im Gedächtnis zu verankern können. (vgl. Pauldrach 2020, S.2)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 18.08.2024

 
 

 
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