Eine pseudo-autobiographischer Typus des Ich-Romans
Der Memoirenroman oder auch autobiographische
Roman stellt einen
▪
Typus des Ich-Romans
dar, den man als eine pseudo-autobiographische Ich-Erzählung bezeichnen
kann.
Sie zeichnet sich durch die folgenden Merkmale aus:
-
Der
▪ Ich-Erzähler erzählt aus der
zeitlichen Retrospektive
seiner Erzähl- bzw. Schreibgegenwart.
-
Es gibt eine
zweipolige Ich-ich-Struktur von
erzählendem
und
erlebendem
Ich, zwischen denen eine deutliche Zeitspanne liegt.
-
Aus der zweipoligen Ich-ich-Struktur
ergibt sich eine Spannung, bei der "die psychophysische Einheit von
erzähltem und erzählendem Ich (...) auch durch die Kompetenz des
letzteren in Frage gestellt werden (kann)." (Schmid
2011a, S.134) Indem sich die Sicht des erzählenden Ichs auf die Welt
und auf das erlebende Ich sich aus der zeitlichen Distanz heraus
verändert, kann sich "das erzählende Ich (...) zum erzählten, wie zu
einem fremden Menschen verhalten" (ebd.)
und damit auch auf einen möglichen Bruch in der Ich-Identität des
Erzählers verweisen.
-
Dies kann z. B. dadurch geschehen, dass in der Rückschau Vergangenes auch unter veränderter
oder "reifer" Perspektive so betrachtet werden kann, dass das
vergangene Geschehen und Verhalten bewerten und kritisiert wird. Dabei
neigt autobiographisches Erzählen nicht nur zu einer "verschlimmernden
Präsentation" als eine Art "pejorative
Selbststilisierung", sondern neigt auch zu einer Beschönigung des
Verhaltens des "früheren" Ichs." (ebd.)
-
Die dabei
vorgenommenen (Wert-)Urteile des erzählenden Ichs rücken es
in die Nähe
auktorialen
Erzählens. (vgl.
▪
auktoriale
Ich-Erzählperspektive)
-
Wenn in der Retrospektive der
point
of view stärker beim erlebenden Ich liegt, kommt es nahezu zu
personalem Erzählen. (vgl.
▪
personale
Ich-Erzählperspektive).
Analysiert man den autobiographischen Roman mit Hilfe der Kategorie des
homodiegetischen Erzählens, dann lassen sich nach
Lanser
(1981, S. 160) fünf verschiedene Typen
homodiegetischer Erzähler aufzeigen, die in unterschiedlichem Maße
in der erzählten Geschichte (Diegesis)
"präsent sind und an der Geschichte in unterschiedlicher Funktion
teilhaben" (Schmid
2011a, S.133, vgl.
Lahn/Meister 2013, S.69)
(vgl.
Vogt
1996, S.70-72)
Beispiele:
Beispiel 1:
Manfred Bieler, Still wie die Nacht. Memoiren eines Kindes
In »Manfred Bielers (1934-2002) Roman "Still wie die Nacht.
Memoiren eines Kindes“, erzählt der Autor, wohl weitgehend
autobiographisch, im Alter von 54 Jahren seine Kindheit zwischen dem ersten
und dem siebten Lebensjahr, die Zeit zwischen 1934 und 1941. Man hat diesen
Memoirenroman als einen "psychosomatischen Roman“ bezeichnet, weil die Seele
des über Fünfzigjährigen jenen Zuständen noch so nahe sei, "wo Affekt und
leibliche Reaktion ineinander übergehen.“ (Tilmann Moser, in: Die Zeit,
29.9.1989)
Mitleidslos, Tabus zerstörend, mit kalter verzweifelter Wut und selbstzerstörerischer Erinnerungsobsession (vgl.
Paul Kersten, in: Der
Spiegel 4/1989, S.64) werden in diesem Roman "die verdrängten Schrecken der
eigenen Kindheit aus der Seele gerissen und in einem langen, schmerzhaften
Prozess der Selbstanalyse literarisch artikuliert.“ (ebd.) Die zweipolige
Ich-ich-Struktur wird über den ganzen Memoirenroman hinweg
durchgehalten, wobei die
personale Ich-Erzählperspektive
des Kindes bei weitem die
auktoriale Ich-Erzählperspektive
des 54 Jahre alten Erzählers überwiegt. Mitunter bringt er sich aber auch
sehr deutlich mit eigenen Reflexionen ein, die meist das Verhältnis des
erwachsenen Ichs und des kindlichen Ichs thematisieren. In diesen
Situationen scheint es, als müsse der auktoriale Erzähler "einen Moment Atem
schöpfen, weil der Ansturm ihn zu überwältigen droht. Selbstzweifel an der
Niederschrift werden laut, die Angst vor dem Wagnis kommt auf, noch einmal
hinabzutauchen, in die Höllentiefe der Zeit, aus der ihm das Kind, das er
einmal war, entgegenkommt." (Kersten, a. a. O.). So äußert er sich z. B. wie
folgt:
"Wer
von uns beiden ist erschöpft? Ich oder ich? Das Kind oder der
Fünfzigjährige? Wem klopft das Blut in den Schläfen, ihm oder mir? Wer
beugt sich über den eigenen Rand und blickt in eine ungeahnte Tiefe? Wohin
gehen wir, du und ich? Was wurde uns gestohlen, dir und mir? Wer nahm die
Liebe aus deinem und meinem Herzen? Wer raubte dir und mir das Glück der
kleinen Freuden, die Wohltat der unbefleckten Zärtlichkeit, das Geheimnis
der Tränen, die Unschuld der Spiele, die Lust am Leben? Wer von uns beiden
feiert im Juli seinen vierten Geburts- tag, du oder ich? Wen laden Robert
und Edith dazu ein? Den Cousin und die Cousinen? Nein. Marlene, Hans und
Gretchen sind mit ihren Eltern in die Ferien gefahren, auf einen
Bauernhof. Wir beide, du und ich, stehen mit den Nachbarskindern auf der
Freitreppe des ehemaligen Untersuchungsgefängnisses, schwenken
Hakenkreuzfähnchen und werden von der Mutter fotografiert. Gut, gut. Aber
wer von uns beiden weiß eigentlich noch, was im August geschah, als wir
zum zweiten Mal nach Binz fuhren? Auf mich darfst du dich nicht verlassen.
Ich habe es vergessen. Sprich du!
Der Vierjährige erzählt: Onkel Willy und der Vater sind zu Hause
geblieben. Deswegen hat sich Tante Erna ans Steuer gesetzt und die Mutter
daneben. Unterwegs wollte mir Rosi die Trillerpfeife wegnehmen, mein
Geburtstagsgeschenk von Louise, aber ich habe mich gewehrt. [...]"
(aus: Manfred Bieler, Still wie die Nacht.
Memoiren eines Kindes, Hamburg: Hoffmann und Campe, S. 145)
Das
erlebende
Ich des Kindes kann sein Erleben, weitgehend
unbeeinträchtigt, ungefiltert und ohne Kommentare des auktorialen
Ich-Erzählers so zur Sprache bringen, dass die Vergangenheit unverarbeitet
und unbearbeitet aufbricht (vgl. Moser, a. a. O.). Die personale
Erzählperspektive des Kindes ist dabei so konsequent gestaltet, dass, auch
wenn sich diese Kindheit im Nationalsozialismus zwischen 1934 und 1941
abspielt, "Bieler da nichts hineinmontiert hat, was über die
Wahrnehmungsfähigkeit des Kindes hinausgeht. Und doch ist das Buch getränkt
von einer Atmosphäre unaufrichtiger, lüsterner Gewaltsamkeit, von der
Selbstverständlichkeit der täglichen Lüge angesichts lautstark
hochgehaltener Ideale. Von der Unbekümmertheit der Demütigung des
Schwächeren und des Fremden, dass die historische Zeit unverwechselbar
anwesend und spürbar ist und den Leser immer wieder mit der Mischung von
Ekel, Faszination und Schauder konfrontiert.“ (Moser, a. a. O.) So erweist
sich die personale Erzählperspektive des Kindes als Kunstgriff, mit dem
dessen unnachsichtiger Blick "für detailscharfe Augenblicksbilder aus den
ersten sieben Jahren seines Lebens, groteske Momentaufnahmen aus der
familienneurotisch aufgeheizten Spießerhölle eines Kleinbürgerhaushalts zur
Vorkriegszeit in der sächsischen Provinz“ (Kersten, a. a. O.)
erzähltechnisch gestaltet werden kann. Nur manchmal wird die personale
Erzählperspektive verlassen.
Im nachfolgenden Kapitel wird der Junge im Alter von etwa fünf Jahren
unbeabsichtigt Zeuge sexueller Eskapaden seiner Mutter an ihrer
Arbeitsstätte. Zuvor verlässt er die Wohnung, ohne dass es seine
Großmutter Louse
bemerkt, um seine Mutter Edith nach dem Feierabend abzuholen. Er macht sich auf dem
Weg zur Fa. Kutarsky, wo seine Mutter arbeitet, gibt sich auf dem Weg ganz
seinen
Eindrücken von der Natur hin
und scheint, während er spielerisch
von Schatten zu Schatten springt,
bester Laune, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob ihn die Mutter, für
sein eigenwilliges Tun letztlich
ausschimpfen wird. Die
Eindrücke könnten nicht härter aufeinander treffen. Kaum hat er noch
mit
den Hühnern gespielt und seine letzten Selbstzweifel
überwunden (" Ich
brauche nicht zu schleichen. Ich tue nichts Verbotenes. Oder doch?"),
wird er Augenzeuge von Verbotenem: Seine Mutter Edith gibt sich zwei Männern
gleichzeitig hin. Der Fünfjährige ist mit dem, was er da zu sehen bekommt,
völlig überfordert (Die
Mutter beugt sich über einen schmalen Tisch ...
schiebt ihr seinen Schniepel in den Mund.)
Dabei bleibt die Sprache bei der Beschreibung der Vorgänge äußerst nüchtern,
lässt außer den schockierenden Fakten keine Wertungen zu Wort kommen, ein
klares Festhalten an der personalen Ich-Erzählperspektive, denn der
pornographische Blick ist dem Kind ohnehin fremd. So nehmen denn auch diese
Ereignisse wenig Raum in der Erzählung des personalen Ichs ein, dessen
Deutungsmuster dafür ohnehin nicht ausreichen. Viel wichtiger dagegen sind
die körperlichen und psychischen Reaktionen des Kindes. Es fühlt sich wie
gelähmt, hat
Angst,
friert, bekommt eine
Gänsehaut, ihm
schlottern die Knie, es
schwitzt,
wird rot,
weiß irgendwie, dass es Zeuge von etwas Verbotenem geworden ist, für das ihn
die
beiden Männer umbringen
werden.
"Die Sirene der Zuckerraffinerie hat schon
längst gepfiffen. Trotzdem lässt sich Edith immer
noch nicht blicken. Die Großmutter ist am
Küchentisch eingenickt. Zwei schwarze Fliegen strampeln in der Suppe. Ich
schiebe sie auf den Tellerrand und beobachte, wie sie sich die Flügel mit
den Vorderbeinen putzen. Ich laufe der Mutter ein Stück entgegen, flüstere
ich Louise ins Ohr. Sie rührt sich nicht. Ich stehle mich aus dem Korridor
und gehe leise die Treppe hinunter. Die Straße schläft.
Der
Himmel schreit vor Hitze. Braune Eicheln purzeln von den Bäumen. Mir
wird schwummerig. Ich
springe von einem Schatten zum anderen. Die rote Mauer bleibt hinter
mir, auch der Park mit der Villa und den Kieswegen. Jetzt stehe ich vor
dem blauen Tor der Firma Kutarsky. Ich erkenne das Fenster der Mutter in
der zweiten Etage. Soll ich warten, bis sie ihre Briefe zu Ende getippt
hat, oder soll ich lieber umkehren,
damit sie mich nicht
ausschimpft? Ich schlüpfe durch die Tür neben dem blauen Tor und stehe
nach ein paar Schritten auf dem Fabrikhof. Es ist so still, dass ich mein
Herz schlagen höre. Die Kellerfenster in dem großen Wohnhaus sind mit
Eisenstangen vergittert, und gleich daneben, hinter dem Maschendrahtzaun,
entdecke ich einige schwarz-weiß-gesprenkelte
Hühner. Tock-tock- tock! locke ich
sie zu mir heran. Aber jetzt neigt sich ein alter Mann über mich und fragt
brummig: Was suchst du denn hier? Meine Mutter, antworte ich, und nachdem
der Alte ihren Namen erfahren hat, zeigt er mir den Eingang zum Büro.
Vielen Dank, sage ich und steige die Treppe hinan. Nun kann mich nichts
mehr bremsen. Ich klopfe an eine Tür. Niemand öffnet. Ich versuche
dasselbe bei der zweiten und dritten Tür, bis mir einfällt, dass ich in
der falschen Etage bin. Ich gehe zum nächsten Stockwerk hinauf. Die Stufen
erscheinen mir höher. Ich blicke rechts und links den Gang hinunter und
lausche. Hinter einer dieser Türen sitzt die Mutter. Weshalb höre ich
keine Schreibmaschine klappern? Hat Herr Kutarsky die Mutter vielleicht
zum Einkaufen in die Stadt geschickt, oder macht er eine Spazierfahrt mit
ihr? Ich gehe auf Zehenspitzen den Gang hinunter, wie ein Indianer. Aber
warum?
Ich brauche nicht zu schleichen. Ich tue nichts Verbotenes. Oder doch?
Ich wische den Hemdsärmel über die Stirn, und im selben Moment höre ich
hinter der Tür jemand lachen. Mir sträuben sich die Haare. Ich kenne den
Mann. Leise drücke ich die Klinke herunter.
Die Mutter beugt
sich über einen schmalen Tisch, genauso, wie sich Hella über den Rand
des Sandkastens gebeugt hat. Hinter der Mutter steht Herr Sengebusch. Er
schlingt die Arme um sie und knetet ihre nackten Brüste. Edith stöhnt. Ihr
braunes Kleid mit den weißen Punkten ist hinten hochgeschlagen, und Herr
Sengebusch stößt auf sie ein, als wolle er sie durchbohren. Der Mutter
gegenüber steht Oswin Kutarsky und
schiebt ihr seinen
Schniepel in den Mund. Ich zittere vor Angst um Edith, aber sie hört
und sieht mich nicht. Plötzlich rieche ich den Gestank von schalem Bier
und Zigarrenrauch. Mir wird elend. Ich weiß nicht, ob ich steige oder
falle. Ich möchte die Arme ausbreiten und durch das geschlossene Fenster
fliegen. Meine Sandalen kleben an den Dielen. Mir rinnt der Schweiß in die
Achseln. Ich krampfe die Finger zur Faust. Ich drehe die Zehen einwärts.
Ich will schreien. Meine Kehle ist verstopft. Ich will weglaufen.
Meine Beine sind gelähmt. Die
Mutter gibt Herrn Kutarsky einen Stoß vor die Brust und rennt aus dem
Zimmer. Als ich Edith folgen will, sagt Herr Kutarsky, dass ich hier
bleiben muss. Herr Sengebusch verschließt die Tür.
Ich
weiß, dass mich die beiden Männer umbringen wollen. Sie stehen am
Fenster und flüstern. Meine Zunge ist hart und trocken. Ich vergehe vor
Angst. Ich friere. Eine
Gänsehaut überläuft mich. Mir
schlottern die Knie. Du kommst jetzt
mit, sagt Herr Kutarsky, öffnet die Tür und tritt in den Gang. Herr
Sengebusch drückt seine Pranke um meinen Hals, und zu dritt steigen wir
eine dunkle Treppe hoch. Ich schluchze bei jeder Stufe und spüre die
Eisenhand des Schlossers im Genick. Auf dem Dachboden liegen leere
Schubfächer und ein paar Kisten, die wie Kindersärge aussehen. Ich bin
nass von Schweiß und Tränen. Ich merke,
dass mir immer heißer wird. Die Hitze dringt mir in die Füße, kriecht an
den Waden hinauf und klettert über die Knie. Die Glut erreicht meinen
Bauch. Ich stehe in Flammen. Ich will
schreien. Aber der Blick von Herrn Kutarsky macht mich stumnm. Du wirst
uns jetzt hoch und heilig versprechen, dass du niemand auf der ganzen Welt
etwas davon erzählst, was du heute gesehen hast! brüllt er. Niemals! Hast
du gehört? Ich nicke. Die Eisenhand gibt mich frei. Doch Herr Kutarsky ist
noch nicht fertig. Sein Totenkopf kommt mir so nahe, dass ich die faltigen
Tränensäcke und die braunen Tabaklippen erkenne. Aber wehe dir, wenn du
nicht den Mund hältst und es irgendeinem Menschen erzählst - dann musst du
sterben! flüstert er mit geisterhafter Stimme. Herr Sengebusch packt
meinen Kragen, als ich schwanke. Er begleitet mich bis ins Erdgeschoß und
klopft mir zum Abschied auf die Schulter. Ich biege um Ecke, schlüpfe
durch die Tür neben dem blauen Tor und torkele nach Hause."
(aus: Manfred Bieler, Still wie die Nacht.
Memoiren eines Kindes, Hamburg: Hoffmann und Campe, S. 222-224)
Beispiel 2:
Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Der Ich-Erzähler in »Thomas Manns
(1875-1955) Roman(fragment) »Bekenntnisse des
Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil« weist deutliche
Zeuge des
auktorialen Erzählens auf.
In der Terminologie der Erzähltheorie von »Gérard
Genette (1930-2018) (1972,
dt. 1994)
ist der Erzähler des Felix Krull ein Sonderfall eines
homdiegetischen Erzählers, der
als
autodiegetischer Erzähler bezeichnet wird.
Die zeitliche Retrospektive ist schon in den ersten Sätzen des Romans
deutlich herauslesbar und das auktoriale Ich zeigt mit seinen Ausführungen,
dass es eine zentrale Rolle in der Geschichte einzunehmen gewillt ist.
Am
Romananfang reflektiert der auktoriale Ich-Erzähler,
vierzigjährig,
über den bevorstehenden Prozess der Niederschrift seiner Memoiren.
Es dauert
einige Zeit, bis sich eine
zweipolige
Ich-ich-Struktur entfaltet, da der Erzähler sein Vorhaben, dem
linearen Verlauf der Geschichte nicht mehr vorgreifen zu wollen ("von
nun an gedenke ich nicht mehr vorzugreifen") zunächst nicht
einhalten kann und eigentlich erst nach erneuten "Abschweifungen"
dem
erlebenden Ich
nach und nach das Wort erteilt.
Dabei stellen die Ausführungen des Erzählers über seine
außergewöhnlichen Schlafgewohnheiten gewissermaßen eine erste
Klammer dar, die die Kindheit des Erzählers mit seiner Erzählergegenwart
beschreibend und kommentierend verbindet.
"Indem ich die Feder ergreife, um in völliger
Muße und Zurückgezogenheit- gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so
dass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde
vorwärts schreiten können), indem ich mich also anschicke, meine
Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen
ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige
Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule
denn auch gewachsen bin. Allein, da alles, was ich mitzuteilen habe, sich
meinen eigensten und unmittelbarsten Erfahrungen, Irrtümern und
Leidenschaften zusammensetzt und
ich also meinen Stoff vollkommen
beherrsche, so könnte jener Zweifel höchstens den mir zu Gebote stehenden
Takt und Anstand des Ausdrucks betreffen, und in diesen Dingen geben
regelmäßige und wohl beendete Studien nach meiner Meinung weit weniger den
Ausschlag, als natürliche Begabung und eine gute Kinderstube. An dieser
hat es mir nicht gefehlt, denn ich stamme aus feinbürgerlichem, wenn auch
liederlichem Hause; mehrere Monate lang standen meine Schwester Olympia
und ich unter der Obhut eines Fräuleins aus Vevey, das dann freilich, da
sich ein Verhältnis weiblicher Rivalität zwischen ihr und meiner Mutter -
und zwar in Beziehung auf meinen Vater - gebildet hatte, das Feld räumen
musste; [...]
Unsere Villa gehörte zu jenen anmutigen Herrensitzen, die, an sanfte
Abhänge gelehnt, den Blick über die Rheinlandschaft beherrschen. Der
abfallende Garten war freigebig mit Zwergen, Pizen und allerlei täuschend
nachgeahmtem Getier aus Steingut geschmückt; [...]
Dies war das Heim, worin ich an einem lauen Regentage des - einem Sonntage
übrigens - geboren wurde, und
von nun an gedenke ich nicht mehr
vorzugreifen, sondern die Zeitfolge sorgfältig zur Richtschnur zu nehmen.
Meine Geburt ging, wenn ich recht unterrichtet bin, nur sehr langsam und
nicht ohne künstliche Nachhilfe unseres damaligen Hausarztes, Doktor Mecum,
vonstatten, und zwar hauptsächlich deshalb, wenn ich jenes frühe und
fremde Wesen als »ich« bezeichnen darf - außerordentlich untätig und
teilnahmslos dabei verhielt, die Bemühungen meiner Mutter fast gar nicht
unterstützte und nicht den mindesten Eifer zeigte, auf eine Welt zu
gelangen, die ich später so inständig lieben sollte. Dennoch war ich ein
gesundes, wohlgestaltes Kind, das an dem Busen einer ausgezeichneten
Amme aufs hoffnungsvollste gedieh.
Ich kann wiederholtem eindringlichem
Nachdenken nicht umhin, mein träges und widerwilliges Verhalten bei meiner
Geburt, diese offenbare Unlust, das Dunkel des Mutterschoßes mit dem
hellen Tage zu vertauschen, in Zusammenhang zu bringen mit der
außerordentlichen Neigung und Begabung zum Schlafe, die mir von klein auf
eigentümlich war. Man sagte mir, dass ich ein ruhiges Kind sei, kein
Schreihals und Störenfried, sondern dem Schlummer und Halbschlummer in
einem den Wärterinnen bequemen Grade zugetan; und obgleich mich später so
sehr nach der Welt und den Menschen verlangte, dass ich mich unter
verschiedenen Namen unter sie mischte und vieles tat, um sie für mich zu
gewinnen, so blieb ich doch in der Nacht und im Schlaf stets innig zu
Hause,
entschlummerte auch ohne körperliche Ermüdung leicht und gern,
verlor mich weit in ein traumloses Vergessen und erwachte nach langer,
zehn-, zwölf-, ja vierzehnstündiger Versunkenheit erquickt und
befriedigter als durch die Erfolge und Genugtuungen des Tages. Man könnte
in dieser ungewöhnlichen Schlaflust einen Widerspruch zu dem großen
Lebens- und Liebesdrange erblicken, der mich beseelte und von dem an
gehörigem Orte noch zu sprechen sein wird.
Allein ich ließ schon
einfließen, dass ich diesem Punkte wiederholt ein angestrengtes Nachdenken
gewidmet habe, und mehrmals habe ich deutlich zu verstehen geglaubt, dass
es sich hier nicht um einen Gegensatz, sondern vielmehr um eine verborgene
Zusammengehörigkeit und Übereinstimmung handelt. Jetzt nämlich, wo ich,
obgleich erst vierzigjährig, gealtert und müde bin, wo kein
begieriges Gefühl mich mehr zu den Menschen drängt und ich gänzlich auf
mich selbst zurückgezogen dahinlebe: jetzt erst ist auch meine Schlafkraft
erlahmt, jetzt erst bin ich dem Schlafe gewissermaßen entfremdet, ist mein
Schlummer kurz, untief und flüchtig geworden, während ich vormals im
Zuchthause, wo viel Gelegenheit dazu war, womöglich noch besser schlief
als in den weichlichen Betten der Palasthotels. -
Aber ich verfalle in
meinen alten Fehler des Voraneilens.
Oft hörte ich aus dem Munde der Meinen, dass ich ein Sonntagskind sei, und
obgleich ich fern von allem Aberglauben erzogen worden bin, habe ich
doch dieser Tatsache, in Verbindung mit meinem Vornamen Felix (so wurde
ich nach meinem Paten Schimmelpreester genannt) sowie mit meiner
körperlichen Feinheit und Wohlgefälligkeit, immer eine geheimnisvolle
Bedeutung beigemessen, der Glaube an mein Glück und dass ich ein
Vorzugskind des Himmels sei,
ist in meinem Innersten stets lebendig
gewesen, und
ich kann sagen, dass er im ganzen nicht Lügen gestraft
worden
ist. Stellt sich doch das eben als die bezeichnende Eigentümlichkeit
meines Lebens dar, dass alles, was Leiden und Qual darin vorgekommen, als
etwas Fremdes und von der Vorhersehung ursprünglich nicht Gewolltes
erscheint, durch das meine wahre und eigentliche Bestimmung immerfort
gleichsam sonnig hindurchschimmert. -
Nach dieser Abschweifung ins
Allgemeine fahre ich fort, das Gemälde meiner Jugend in großen Zügen zu
entwerfen.
Ein phantastisches Kind, gab ich mit meinen Einfällen und Einbildungen den
Hausgenossen viel Stoff zur Heiterkeit. Ich glaube mich wohl zu erinnern,
und oft ist es mir erzählt worden,
als ich noch Kleidchen trug, gerne
spielte, dass ich der Kaiser sei, und auf dieser Annahme wohl stundenlang
mit großer Zähigkeit bestand. [...]"
(aus: Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers
Felix Krull. Der Memoiren erster Teil, Frankfurt/M.: Fischer 1989, S.7-13,
gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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