▪
Herzog, Urs: Gelegenheitsgedicht und Bildungshuberei (1979)
Die Lyrik des Barock kennt nicht nur die
Höhenkammliteratur
der neuen Kunstdichtung mit so namhaften Autoren wie z. B. ▪
Martin Opitz
(1597-1639),
▪ Paul
Fleming (1609-1640),.▪
Christian Hofmann von Hofmannswaldau
(1616-1679), ▪ Andreas Gryphius
(1616-1664) oder auch ▪ Paul
Gerhardt (1607-1666) mit seinen geistlichen Liedern. Daneben gab es
auch, und das in viel höherer Zahl eine sogenannte Gelegenheitsdichtung.
Darunter versteht man im Allgemeinen Gedichte, die von ihrem Verfasser für einen ganz bestimmten Adressaten
meistens anlässlich eines bestimmten Ereignisses (Gelegenheit) aus dessen Leben
verfasst werden. Oft wird dabei auch noch
zwischen Erlebnislyrik und "Casualcarmina" unterschieden. Während die
Erlebnislyrik darstellt, was sein Verfasser angesichts des Ereignisses bzw.
der Gelegenheit in seinem Innern erlebt, haben die Casualcarmina einen
anderen, klar umrissenen Zweck. Sie sollen im weitesten Sinne ihren
Adressaten loben und die Gelegenheit bzw. das Ereignis, um das es geht, in
ein besonders positives Licht setzen, zum Gefallen ihres Adressaten und auch
häufig unmittelbaren Auftraggebers.
Im Barock, in dem Erlebnislyrik, wenn überhaupt, dann eine absolute Ausnahme
war, dominiert die "Zweckdichtung" der
Casulacarmina. Wenn wir also in
dieser Literaturepoche von Gelegenheitsgedichten sprechen, ist stets ein ▪
engerer Begriff von Gelegenheitsdichtung gemeint, Gedichte also sind stets solche
Gedichte gemeint, die zu ganz Gelegenheiten produziert wurden.
Gelegenheitsgedichte waren im Barock eine Modeerscheinung der Zeit und
zugleich ein Massenphänomen, die von den humanistischen Gelehrtendichtern
der neuen Kunstdichtung im Gefolge der Literaturreform von Martin Opitz
ebenso produziert wurde, wie von allerhand anderen, dem Ideal des
poeta doctus nicht entsprechenden Autoren,
die in den bekannten Poetiken, Reimlexika und Ähnlichem alles fanden, was
ein solches Gedicht, zumindest formal gesehen, brauchte. Eines allerdings
wollte die sich selbst als geistige Elite verstehenden Gelehrtendichter
nicht, nämlich in einen Topf geworfen zu werden mit poetischen Dilettanten
und Poeten, die sich allein des möglichen, allerdings in der Regel recht
bescheidenen Ertrages wegen, den Gelegenheitsgedichte einbringen konnten,
quasi als "Mietpoeten" verdingten, oder mit Autoren, auf die sie aus anderen
sozialen Gründen herabsahen. Aber das literarische Feld der
Gelegenheitsdichtung und die Spielregeln, nach denen es zu funktionieren
hatte, konnten die Verfechter der neuen Kunstdichtung im Gefolge der Sprach-
und ▪ Literaturreform von Martin Opitz eben
nicht wirklich dominieren, dazu war die Anzahl der Akteure zu groß und die
Gelegenheiten oft, bei aller Ähnlichkeit, doch zu verschieden. Und doch
waren sie immer bemüht, sich vor allem nach unten abzugrenzen, wie ein
Auszug aus seinem Hauptwerk, dem Buch der Deutschen Poeterey (1624),
verdeutlicht:
"Denn ein Poete kan nicht ſchreiben wenn er wil/ ſondern wenn er kan/ vnd
jhn die regung des Geiſtes welchen Ovidius vnnd andere vom Himmel her zue
kommen rermeinen/ treibet. Dieſe vnbeſonnene Leute aber laſſen vns weder die
rechte zeit noch gelegenheit" heißt es in seinem (Opitz
22002, S.19 bzw.
Deutsches Textarchiv Bild 0021)
Was sich auf den ersten Blick als eine vergleichsweise moderate Abgrenzung
von den weniger gebildeten Dichterinnnen* der ansonsten gegen alle
"Stümperei" zu Felde ziehenden Gelehrtendichter liest, ist aber Teil einer
nicht minder elitären Legitimationsstrategie, die die "feinen Unterschiede"
(Bourdieu
1987/2014) der gelehrten Gelegenheitsdichtung mit dem Rückgriff auf die
Mythologie der Antike zu verdeutlichen will. Die Okkasionalität
gelegenheitsgebundener kunstvoll ambitionierter Lyrik beruht demzufolge auf
dem Wirken der »Göttin
Occasio als dem allegorisch-poetischen Sinnbild des Gelegenheitsgedichts
der neuen Kunstdichtung. Die einem Poeten von ihr gewährten Gunst des
Augenblicks, dem einen richtigen, glücklichen und fruchtbaren Moment (»kairós)
kann und muss ein Poet nutzen, um die ihm vom Zufall gebotene Gelegenheit
für die Gestaltung seiner Ideen zu nutzen. Salopp ausgedrückt: die
"Schnapsideen" der Gelegenheitsdichtung produzierenden "Stümper" können sich
auf diese occasio temporis ("Gelegenheit, die die Zeit bietet")
jedenfalls nicht berufen, das steht für »Martin
Opitz (1597-1639) fest, auch wenn Kopieren und Imitieren was das Zeug
hält.
Gelegenheitsgedichte hatten aber gerade im Barock auch jenseits der
Kreise der elitären Gelehrtendichter, die mit allen Traditionen der
Volkspoesie brachen und für deren Erzeugnisse eigentlich nur
Verachtung übrig hatten, im Alltagleben der verschiedener
Personengruppen und Schichten eine herausragende kommunikative Bedeutung.
Wer
heute erlebt, wie zu zahlreichen Hochzeiten von "Laien" gedichtet
wird, wie der 90. Geburtstag der Großmutter mit selbstgeschmiedeten
Versen in der Geburtstagsgesellschaft begangen wird oder auch das in
lyrische Produktionen gegossene Leid von Fans mitbekommt, die auf
diese Weise die plötzliche Auflösung ihrer so emphatisch verehrten
Musikgruppe beklagen, hat dadurch wenigstens ein paar
Vergleichspunkte parat, die ihm/ihr veranschaulichen kann, welche
Funktion Gelegenheitsgedichte im Barock gehabt haben. Legendär ist
in diesem Kontext die Flut sogenannter Take that-Gedichte, die nach
der überraschenden Auflösung der äußerst erfolgreichen Boyband (»Take
that) im Jahr 1995 von unzähligen tief traurigen, überwiegend
weiblichen Fans in einer Art Dichterinnenwettstreit verfasst worden
sind, und - das ist das eigentlich Bemerkenswerte - oft selbst dann,
wenn sie eigenem Bekunden nach mit Lyrik, zumindest wie sie in der
Schule vermittelt wird, wirklich nichts, aber auch gar nichts hatten
anfangen können.
Aber
längst haben solche Gelegenheitsgedichte auch die
"Hobby-Literaturwerkstatt" verlassen. Wer will, findet im Internet
eine Vielzahl von Angeboten, die - gegen Bezahlung, versteht sich -
anbieten, das für alle Gelegenheiten passende Gedicht, ob humorvoll,
romantisch, elegisch oder einfach in einer Art klassischem Stil,
binnen kurzer Zeit zu verfassen. Für 85 Euro für eine Seite Gedicht
mit 20 Zeilen/Versen (2021) erhält man so das maßgeschneiderte
Gedicht für den gewünschten Anlass: Ein paar Informationen zu
Anlass, Hintergrund, Inhalt und Stil ins Textfeld geschrieben, mit
Angaben zum Adressaten ergänzt und Hinweisen darauf, was auf jeden
Fall erwähnt werden soll, schon ist das Inhaltliche abgehakt. Ist
nur noch per Optionskästchen festzulegen, ob das Ganze 1, 2, 3, 4
oder 5 Seiten lang werden soll und in welchem Zeitraum das Gedicht
fertig gestellt werden soll (Expressproduktionen kosten entsprechend
mehr). Schnell noch die Zahlungsart und die Kontaktdaten eingegeben,
fertig ist das Gedicht mit Wohlgefallensgarantie, mit dem man sich
zum Beispiel auf einer Hochzeit zur Freude des Brautpaares und unter
den vielleicht auch neidischen Blicken der anderen als
Gelegenheitsdichterin* präsentieren kann. Die Kasse klingelt bei den
Textproduzentinnen*, die ihre Textbausteinsammlung gewinnbringend
vermarkten können.
Davon hätten die Dichter und Dichterinnen des Barock und vor allem die
vielen Autorinnen*, die Gelegenheitsgedichte verfasst haben, nur träumen
können. Keine/r von ihnen, von ganz wenigen Ausnahmen, z. B. »Simon
Dach (1605-1659) abgesehen, konnte von seiner Kunst leben. Seine
in Serie für alle möglichen Anlässen produzierten Gedichte für meist lokale
Auftraggeber aus dem Königsburger Bürgertum, der Stadt, wo er als Professor
und Rektor der Universität wirkte, begleiteten Bürger und auch Adelige von
der Wiege bis zur Bahre mit den von diesen in Auftrag gegebenen
Gelegenheitsgedichten (vgl.
Meid 2008, S.9)
seine Kasualpoesie und arbeite so bis vier Aufträge in der Woche ab, die
ihm, der wie alle anderen Gelehrtendichter nur nebenberuflich dichten
konnten, beachtliche Zusatzeinkünfte einbrachten.
Dachs phänomenale, geradezu industrielle Produktion
an Poesie zu allen Anlässen und die Gunst des Landesobristen boten
ihm ein lukratives Nebeneinkommen. Mit erstaunlicher Fertigkeit
produzierte er laufend auf Bestellung Kasualdichtungen, die stets
gedruckt wurden, nicht selten drei oder vier pro Woche. Der
Germanist Gerhard
Dünnhaupt verzeichnet
mehr als 1200 Einzeldrucke dieser Gedichte zwischen 1638 und 1658,
die von den Zeitgenossen gesammelt wurden. Ein Buch hat Dach nie
veröffentlicht. Von der weltlichen Lyrik Dachs hat nur Anke
van Tharaw die
Zeit überdauert. Die Autorschaft war zeitweise umstritten, gilt
inzwischen jedoch als gesichert.[3][4] Dieses,
neben Grethke, warumb
heffstu mi sein
einziges Lied in niederdeutscher
Sprache, schrieb er 1636 für Anna Neander, die Braut des
Predigers Johannes Portatius. Johann
Gottfried Herder übertrug
es später in die hochdeutsche Form, in der es heute bekannt ist: Ännchen
von Tharau. Viele von Dachs Gedichten wurden von Heinrich Albert
und Johann
Stobäus, dem Kantor der
Domschule, vertont. Mit 49 Jahren erkrankte Simon Dach 1654 an Tuberkulose,
der er nach fünf Jahren erlag.
„Der Mensch hat nichts so eigen,
so wohl steht ihm nichts an, als daß er Treu erzeigen
und Freundschaft halten kann.“
– Simon
Dach

Die Gelehrtendichter, die die neue Kunstdichtung in der deutschen
Volkssprache auf der Grundlage der ▪
humanistischen Literaturreform von Martin Opitz verfassten, waren
genauso wenig "freie" Schriftsteller wie die Verfasserinnen* der sonstigen
Populärliteratur bzw. der Volkspoesie. Die in ihrer Zeit durchaus
hochgeachteten Autoren der neuen Kunstliteratur waren Dichter auch nur im
"Nebenberuf", hauptberuflich arbeiteten sie als Geistliche, Universitäts-
und Gymnasialprofessoren, Ärzte oder Juristen und übernahmen verschiedene
Ämter in den wachsenden Bürokratien des frühneuzeitlichen Fürstenstaates, so
wie dies z. B. der wechselvolle ▪ Lebenslauf
von Martin Opitz (1597-1643) belegt. Die Autoren bekamen von ihren
Verlegern, wenn es gut ging, ein Honorar für das Manuskript, dazu vielleicht
einige Freiexemplare, aber von den weiteren Erträgen beim Verkauf des Werkes
kam nichts bei ihnen an.
Ein anderes Geschäftsmodell ließ sich mit literarischen Produkten machen,
die nicht auf einen Verlag angewiesen waren, sondern ganz unmittelbar
Wünsche Personen befriedigten, die sie bei geeigneten und dafür bekannten
Dichterinnen* in Auftrag gaben. Diese Gelegenheitsdichtung, in der Regel
Gelegenheitsgedichte, wurden im Verlauf des 17. Jahrhunderts zu einer
derartigen Massenphänomen, dass zu einer nicht unbedeutenden Einnahmequelle
etlicher Dichter und spezialisierter Gelegenheitsdichter geworden ist. (vgl.
Meid 2008, S.8, 43ff.)
Bewirkt wurde der Erfolg
und die weite Verbrei- tung der Kasualcarmen ebenfalls durch die Entwicklung
des Buchdrucks und in Folge dessen vermehrten Produktion von Poetiken,
welche zum einfachen Verfassen von Gedichten anleiteten. Jedoch waren die
Kasualcarmen durch die Regelsysteme der Po- etiken stark normativ geprägt
und ließen wenig Platz für individuelle Ideen. Kasual- carmen wurden zu
vielen verschiedenen Anlässen verfasst. M.D. Omeis unterscheidet hier im
Hauptsächlichen 12 Themenbereiche. So gibt es das Geburtsgedicht, Namens-
tags-, Neujahrs-, Ehren-, Lob-, Dank-, Siegs-, Glückwünschungs-, Hochzeits-
und Leichgedicht. Außerdem gibt es den Glückwunsch wegen wieder erlangter
Gesund- heit, den Glückwunsch zur bevorstehenden Reise und das
Willkommensgedicht. 6 Alle diese Arten des Kasualcarmen konnten anhand von
Poetiken innerhalb dreier Schritte verfasst werden: 1. Der inventio, 2.
dispositio und 3. elocutio. In der Inventio, auf Deutsch „Erfindung“, geht
es darum, alle Umstände der zu bedichtenden Gelegenheit bezüglich der
Person, des Ortes, der Zeit sowie der äußeren Gegebenheiten, des Zwe- ckes
und seiner spezifischen Merkmale zu sammeln und zu betrachten. Hieraufhin
er- hält man einen Katalog von Daten, den „Realienkatalog“, welcher zu der
Erfindung des Gedichtes führt. Schließlich werden die Daten mit Hilfe von
Fragen an die soge- nannten „loci topici“, Fundorte gebunden. Das Ergebnis
sind verschiedene Einzelar- gumente, welche später in der „Dispositio“ in
die richtige Reihenfolge gebracht wer- den. 7 Der Dichter konnte bei der
Invention auf bereits vorhandenes Material anderer Autoren zurückgreifen,
wie etwa in Form von „Emblembüchern, Symbolsammlungen und Ikonologien“. 8 So
wurde ihm bereits bei der grundlegenden Erfindung des The- mas und der
Einzelargumente durch Vorlagen ein wichtiger Teil seiner Arbeit abge- nommen
oder zumindest um einige Schritte erleichtert.
Bei der Auswahl der Fundorte erwiesen sich bei der „inventio“ mit der
Zeit drei ver- schiedene als am Erfolgreichsten. So wurden vor allem das
„locus notationis“, „locus circumstantium“ und das „locus comparationis“ von
den Autoren genutzt. 9 Es gab zwar noch andere Fundorte, doch war die
Produktion von Kasuallyrik stark publikums- orientiert und an
gesellschaftliche Erwartungen geknüpft. 10 Mittels des „locus notati- onis“
wurden Argumente bzw. das Thema des Gedichts anhand des Namens erfasst. Dies
geschah z.B. durch einen Vergleich (Collatione), in welchem der Name des Ad-
ressaten auf eine bekannte Figur der Bibel, Mythologie oder Historie bezogen
wurde oder durch eine Gegenüberstellung (Oppositione). Besonders beliebt war
allerdings das Auffinden von Argumenten anhand der Bedeutung des Namens
(Significatione). 11 Der Name wurde hier durch das sogenannte Alludiren
wörtlich genommen. So z.B. auch in dem Gedicht Auf Herrn Damian Gläsers und
Jungfra Marien Reiminnen Hochzeit von Paul Fleming. In dem Hochzeitsgedicht
spielt der Dichter auf die Namen beider Adressaten an und verbindet diese
sinngemäß mit dem Anlass:
Braut, gedenket unterdessen, /
daß an euch was Gläserns ist! /[…]/
Daß ihr mögt nach kurzen Tagen /
Neue Reim` und Gläser tragen!/ 12
Die Allusion des Namens „Gläser“ bezeichnet hier das Merkmal der
Verbindung von Bräutigam und Braut, nämlich die Zerbrechlichkeit derselben.
Die Bedeutung des Na- mens wird genutzt, um indirekt den Rat an das
Brautpaar zu geben, auf den beidseiti- gen Bund zu achten und ihn zu
schätzen. Eine weitere Möglichkeit des locus notatio- nis ist das Bilden
eines Anagramms, die Umstellung der Buchstaben des Adressaten in ein anderes
Wort. So benutzte Tscherning z.B. in seinem Hochzeitsgedicht Auf Herrn
Martin Nentwigs und Jungfrau Anna Christina Lobhartzbergerin Hochzeit das
Anagramm „gewinnt“ für den umgestellten Namen des Bräutigams mit Namen
„Nent- wig“. Während einige Autoren bald nur noch diesen einen Fundort
nutzten auf Grund seines Versprechens des sicheren Erfolgs, kritisierten
andere dies als lächerlich und rieten somit von seiner Nutzung ab. Doch es
war gerade das Lächerliche was viele Autoren dazu trieb, bewusst diesen
Fundort zu nutzen. 13 Ein weiterer wichtiger Fund- ort von Argumenten und
Themen war der „locus circumstantium“. In diesem beschäf- tigte sich der
Autor tiefergehend mit den gesammelten Daten, indem er sie weiterge- hend
entweder in dem „locus circumstantium temporis“ oder „locus circumstantium
loci“ miteinander verknüpfte. 14 Andreas Gryphius verknüpfte in dem Gedicht
Auff H. Godofredi Eichorns und Rosine Stoltzin Hochzeit die Jahreszeit
Winter mit dem dazu- gehörigen Schnee und seiner typischen Kälte:
OB gleich der weisse Schnee itzt Thal und Berge decket/
Und manch geschwinder Fluß in einen Harnisch führet/
In dem er sich des Zorns der grimmen Kält` erwehrt/
Vor welcher jeder Baum biß in den Tod erschrecket/
Ob gleich der bleiche Frost die scharffe Senß ausstrecket. /[…]/
Sie [die Sonne] hat/ Herr Gottfried/ euch die schöne Rose bracht/
Bey der ihr Frühling habt und aller Winte r lacht/ 15
Gryphius verknüpfte hier die Jahreszeit Winter zum Zeitpunkt der Hochzeit
mit seinen charakteristischen Attributen. So gehören zum Winter, nach dem
allgemeinen Ver- ständnis, die Kälte, der Frost, ebenso wie der Schnee dazu.
Gryphius thematisiert hier, dass trotz des gegenwärtigen Winters und der
damit einhergehenden Umstände, die Sonne für das Brautpaar scheint. Der
Anlass bildet somit einen freudigen Gegensatz zu den eher negativen
Eigenschaften der Jahreszeit.
[...]
1 Vgl. Drux, Rudolf: Gelegenheitsgedicht. In: Historisches Wörterbuch der
Rhetorik. Bd. 1, hg. von Gert Ueding. Tübingen: Max Niemeyer 1996. S. 654 f.
2 Vgl. Segebrecht, Wulf: Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte
und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. S. 2 f.
3 Vgl. Drux, Gelegenheitsgedicht (Anm. 1), S. 661
4 Vgl. Drux, Gelegenheitsgedicht (Anm. 1), S. 661
5 Vgl. Segebrecht, Gelegenheitsgedicht (Anm. 2), S. 77‒78
6 Vgl. Drux, Gelegenheitsgedicht (Anm. 1), S. 661
7 Vgl. Segebrecht, Gelegenheitsgedicht (Anm. 2), S. 113‒114
8 Ebd. S. 132
9 Ebd. S. 126
10 Ebd. S. 74
11 Ebd. S. 115
12 Fleming, Paul; Lappenberg, Johann Martin: Paul Flemings Deutsche
Gedichte. S. 307, in: www.books.google.de. URL: http://books.google.de/books?id=PqkLAAAAIAAJ&pg=PA305&dq=Auf+Herrn+Damian+Gl%C3%A4ser
s+und+Jungfra+Marien+Reiminnen+fle- ming&hl=de&sa=X&ei=vc5BUYjmKcPNtAaK6YDwCA&ved=0CC8Q6AEwAA#v=one-
page&q=Auf%20Herrn%20Damian%20Gl%C3%A4sers%20und%20Jungfra%20Marien%20Reimin-
nen%20fleming&f=false [Zugriff am 10.03.2013]
13 Vgl. Segebrecht, Gelegenheitsgedicht (Anm. 2), S. 117
14 Ebd. S. 123
15 Gryphius, Andreas: Gedichte, Stuttgart: Reclam 2012, S. 22
Ende der Leseprobe aus 16 Seiten
Irgendwie entsprach diese Gelegenheitsdichtung, die auch als bezeichnet wird, den
Bedürfnissen eines immer größer werdenden Personenkreises und konnte damit
zu einer Modeerscheinung werden konnte, fortan war "das Verlangen nach
dichterischer Würdigung bestimmter »Gelegenheiten«" (ebd.,
S.45) einfach so en vogue, dass die Anzahl der Casualcarmina, die für
eine bestimmte Gelegenheit verfasst wurden und der jeweiligen Öffentlichkeit
(Hochzeitsgesellschaft, Trauergemeinde, Geburtstagsrunde etc.) präsentiert
werden konnte, als Gradmesser für die Vornehmheit und die gesellschaftliche
Bedeutung ihres jeweiligen Adressaten betrachtet wurde.
Dass die Gelegenheitsdichtung ein solches Massenphänomen werden konnte, lag
natürlich auch daran, dass sie den besonderen absolutistischen
Repräsentationsbedürfnissen der Könige und Fürsten und den Bedürfnissen der
adeligen Oberschichten genau so entgegenkam, wie den Alltagsbedürfnissen
anderer sozialer Schichten.
Die Motive, die ihre Dichter antrieb, zu denen auch humanistische Gelehrtendichter
gehörten, waren so unterschiedlich wie die soziale Lage ihrer Produzenten.
In der Regel waren es gesellschaftliche und soziale
Abhängigkeitsverhältnisse zu ihren jeweiligen Auftraggebern,
verwandtschaftliche Beziehungen zum jeweiligen Adressaten einfach das
Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, um "sich durch
poetische Erzeugnisse zu recommendieren" (sich empfehlen) (ebd.) So war sich z. B. Martin Opitz nicht nur nicht zu schade
dafür, zahlreiche Casualcarmina zu Ehren seiner adeligen Gönner zu
verfassen, sondern tat dies wohl strategisch und taktisch bewusst, um im
Rahmen seines auf die "Verknüpfung
des Literaturbetriebs mit dem Adel und der höfischen Kultur (...) im Sinne
wechselseitiger Leistungen, sozusagen eines Gebens und Nehmens"
(Jaumann
2002.,
S.198) für sein
▪
kulturpolitisches Programm die nötige
Unterstützung "von oben" zu erhalten. Das Fürstenlob gehörte
natürlich auch zu den Pflichten der von ihren Auftraggebern oft unmittelbar
abhängigen Dichter. Als eigenständige Gattung hatte sie einen gewollten
affirmativen Charakter, d. h. sie bestätigte die bestehende
gesellschaftliche Hierardie der Ständegesellschaft, indem sie der
Selbstdarstellung fürstlicher Gewalt diente und zugleich eine
"Verhaltenslehre für die Untertanen" (Meid 2008, S.11)
im literarischen Gewand darstellte. Selbst wenn sie gelegentlich vorsichtig
formulierte Kritik an den Mächtigen äußerten, übten sie stets doch
"Untertanengesinnung"(ebd.)
ein.
Dass die Gelegenheitsdichtung und der Trend zum "Mietpoeten", so fließend
die Übergänge im einzelnen auch gewesen sein mögen, nicht unbedingt zum
elitären Selbstverständnis
der humanistischen Gelehrtendichter
passte, darf man annehmen, wenngleich sich deren Casualcarmina von der
anspruchlosen Vielschreiberei so manches Dilettanten, dem es nur darauf
ankam, mit der Mietschreiberei, der barocken Art des modernen "Ghostwritertums",
zu Geld zu kommen, durchaus abzuheben versuchten und oft auch konnten. Die
Lobgedichte, die sie zu Ehren ihrer Auftraggeber verfassten, sollten ihr
formales Können mit der Würde des jeweiligen Anlasses so verbinden, dass die
Unterschiede zu den Produkten der weniger gelehrten und geübten
Gelegenheitsdichter sinnfällig werden konnten, zumal diese ähnlich wie ihre
eingangs erwähnten modernen Epigonen, oft ungeniert und ohne das
erforderliche Gespür auf alles an Textbausteinen zurückgriffen, was ihnen
aus Poetiken und beim "Blütenlesen mit genauen Anweisungen und instruktiven
Beispielen" (Meid
2008, S.45) in die Hände kam.
Gelegenheitsdichtung und Gelegenheitsgedichte im Barock wurden nicht in
Buchform gefasst. Es waren eine schier unendliche Anzahl, was bei den
verschiedenen Anlässen unter die Leute gebracht wurde. Man schätzt, dass
mehrere Hunderttausend davon als sogenannte Einblattdrucke bis heute
unerschlossen in den Archiven unserer Bibliotheken lagern (vgl.
ebd. S.44)
Natürlich nahmen ambitionierte Dichterinnen* nicht lange kampflos hin, dass
ihnen die vielschreibenden Mietpoeten das in Mitleidenschaft zogen, was sie
gerade als »"kulturelles
Kapital" (Bourdieu 1987/2014)
aufzubauen sich anschickten, um als
nobilita literaria
mehr soziale Anerkennung als
Voraussetzung für das Erlangen einer privilegierten Stellung in der
▪ Ständegesellschaft
der Zeit zu erlangen. Bei der Besetzung des entsprechenden
"literarischen Feldes" (Bourdieu
2001) ging es den Kritikern daher immer auch darum, "sich aus der Masse
herauszuheben (...) und gegen die als minderwertig hingestellte Konkurrenz
zu polemisieren."
(Meid
2008, S.45) Bei ihrer Polemik gegen die "Stümperhaftigkeit der
konkurrierenden »Lupemhunde« (Balthasar Kindermann)"
(ebd.)
machten sie sich allerdings offenbar wenig daraus, dass ihre
Gelegenheitsgedichte eigentlich den gleichen gesellschaftlichen Ansprüchen
und den gleichen poetologischen Grundsätzen verpflichtet waren.
Die
massenhafte Verbreitung war ihnen damals aus den gleichen Gründen ein Dorn
im Auge wie den auf die "feinen Unterschiede" (Bourdieu
1987/2014) bedachten bildungsbürgerlichen Schichten von heute, die
den "»barbarischen« Geschmack" (ebd.,
S.60ff.) und alle "Sujets (...) für die sich die »kleinen Leute«
gewöhnlich begeistern" (ebd., S.69),
abwerten und oft genug verhöhnen.
Ein typisches Beispiel, wie die Kritik an den vermeintlichen Auswüchsen und
Übertreibungen der minderwertigen Konkurrenz satirisch und sozial klar von
oben herab gestaltet wurde, liefert der stets gutsituierte und gebildete ▪
Friedrich Rudolph Freiherr von
Canitz (1654-1699) mit seinem 190-Zeilen-Gedicht "Von
der Poesie", das unter anderem, wie im nachfolgenden ▪
Auszug, den übertriebenen Gestus der
Gelegenheitsdichtung bei Beerdigungen und Trauerfeiern satirisch aufs Korn
nimmt (vgl. Meid 2008,
S.46)
[...]
Geht wo ein Schul-Regent1 in
einem Flecken2 ab,
[163]
Mein Gott! wie rasen nicht die Tichter
um sein Grab;
Der Tod wird ausgefiltzt, daß er dem
theuren Leben
Nicht eine längre Frist, als achtzig
Jahr, gegeben;
Die Erde wird bewegt, im Himmel Lerm
gemacht.
5
Minerva3, wenn sie gleich in
ihrem Hertzen lacht,
Auch Phöbus4 und sein Chor,
die müssen, wider Willen,
Sich traurig, ohne Trost, in Flor5
und Boy6 verhüllen.
Mehr Götter sieht man offt auf solchem
Zettel stehen,
Als Bürger in der That mit zu der
Leiche gehen.
10 [172]
[...]
(aus: Friedrich Ludwig
Rudolph von Canitz, Gedichte, hrsgg. v. Jürgen Stenzel, Tübingen
1982)
1 Schuldirektor 2 kleiner Ort |
3 röm. Göttin (gr. Name Athene), u. a.
Schutzgottheit der Dichter, Göttin der Kunst und Hüterin des Wissens |
4 Beiname des gr. Gottes Appollon, u. a.
Gott der schönen Künste 5 Trauerflor 6 ? |
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.01.2022