Die Rekontextualisierung der Vanitas-Gedichte kann auch den geistes- und
sozialgeschichtlichen Kontext umfassen, indem die Vanitas-Idee verortet
werden kann.
Insgesamt gesehen verbindet sich die Vanitas-Idee, wie sie im Barock
ausgesprochen populär gewesen ist, mit der »stoiischen
Grundtugend der Constantia, wie sie auf »Justus
Lipsius (1547-1606) (Hauptwerk: De Constantia 1594, autorisierte
Übersetzung ins Deutsche: Von der Bestendigkeit (Danzig 1599; Leipzig 1601)
zurückgeht. Diese besteht im Kern darin, das auf einen einstürmende
Schicksal zu erkennen, seine Unabänderlichkeit anzunehmen und sich ihm zu
fügen. (vgl.
Szyrocki 1979/1994, S.22) oder um es mit den originalen Worten des
flämischen Philosophen zu sagen: "Wann man alles / was eine[m] Menschen
zufelliger weise anstossen oder widerfahren mag / gutwilliglich vnnd ohne
klagen erduldet.«(Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit, S. 10v). "Die
Menschen dieser Epoche", so Marian
Szyrocki
(1979/1994, S.23), "betrachten Zeit und Ewigkeit aus einer wissenden
Distanz, und indem sie ihr endgültiges Ziel einzig im Jenseits sehen, fühlen
sie sich imstande, dank ihrer Heilshoffnung allen Widerwärtigkeiten der Welt
und damit auch der Vergänglichkeit zu trotzen."
Die neo-stoizistische Constantia und die Vanitas-Idee konnten so jedenfalls
ganz allgemein demjenigen, der sie verstand und danach lebte, helfen, die
Herausforderungen irdischen Lebens mit seinem eschatologischen Daseinsbezug
zu bewältigen. Zugleich war die gesamte neo-stoizistische Lehre aber ein
Instrument der ▪
Sozialdisziplinierung und trug, da sie die absolutistische Herrschaft
befürwortete, zur Herstellung eines einheitlichen Untertanenverbandes bei,
für den die die Vielzahl der tief in sein Alltagsleben eingreifenden und mit
staatlicher Gewalt durchgesetzten
▪
sozialregulierenden und sozialdisziplinierenden Verordnungen und
Gesetze, mit denen das neue Verhältnis von Untertan
und Staat verankert wurden, als Ausdruck göttlicher Ordnung auf Erden nicht
mehr in Frage gestellt werden sollten und konnten. Constantia und
Vanitas-Idee waren im Kontext der neostoizistischen Lehre, die sich vehement
gegen ein Widerstandsrecht gegenüber der absoluten staatlichen Gewalt
positionierte, um es einmal in marxistischer Terminologie ausdrücken, "Opium
des Volkes" und "Opium für das Volk".
Die
Vanitas-Dichtung, die meistens etwas vorschnell, weil vordergründig
plausibel, vor allem als Reflex auf die Verheerungen des Barockzeitalters,
Dreißigjähriger Krieg, Hungersnöte und Seuchen gesehen wird, ist aber auch
an jenen Orten und in jenen Teilen Europas populär, die von solchen
Ereignissen verschont geblieben sind.
Sie ausschließlich
als Ausdruck eines
allgemeinen barocken Lebensgefühls zu betrachten, greift in jedem Fall zu
kurz. Sie steht eben auch "in auffallender zeitlicher Parallelität zu
einer glanzvollen, repräsentationsfreudigen, machtbewussten und
herrschaftsbesessenen Entfaltung des Fürstenstaates." (Mauser
1982, S.242) So wie die Untertanen mit den Botschaften, die die
Vanitas-Dichtung vermittelt, "von den christlichen Grundwahrheiten und der
Notwendigkeit einer christlichen Lebensführung" (ebd.)
überzeugt werden sollen, macht sie auch den Fürsten auf "seinen Platz in der
Heilsordnung" (ebd.)
aufmerksam. So dient die Vanitas-Dichtung auch der ▪
Sozialdisziplinierung der Untertanengesellschaft bei der Entwicklung zum
frühmodernen Staat, an der ihre gelehrten Verfasser Anteil hatten,
weil sie die heilsgeschichtlichen Lehren des Christentums und dessen
Moral verbreitet haben.
Kritik an
Staat und Gesellschaft, die man hinter der Mahnung über die Vergänglichkeit
allen Daseins, aller Macht und Herrschaft, vermuten könnte, dürfte von ihren
gelehrten christlichen Dichtern, die als ▪
Beamte ihre Existenz und ihren sozialen Status den Herrschenden
verdankten, allenfalls hie und da anklingen, und wenn, dann nur an einem
zügellosen Hofleben ohne die nötige Affektkontrolle oder im Kontext einer
Klage über die zu geringe Achtung, die ihrem literarischen Schaffen
entgegengebracht wurde.
Im Allgemeinen lenkte
die Vanitas-Dichtung mit ihrer meditativen Komponente wohl eher von den
gesellschaftlichen Verhältnissen ab und verwies "auf die »Eitelkeit« des
Einzellebens" (ebd.)
Nichtzuletzt war sie auch nur ein Genre im Bereich der weltlichen Lyrik.
Und als
solches eignete es sich auch mit einer
Kultivierung des "»Bekümmertseins«"
dazu "die Eitelkeit der Welt die Missstände geringfügiger erscheinen zu
lassen, als sie waren. Und die Gewohnheit, das Leiden nicht nur an das Heil
zu binden, sondern Leiden und Not geradezu herbeizuwünschen, um dem Heil der
Seele näherzukommen, hat die Abwehr vermeidbarer Not und Unterdrückung
sicher nicht gefördert." (ebd.)
Dass dieser Hang zum »Bekümmertsein" auch immer wieder zur Attitüde wurde,
darf in einer auf repräsentative Selbstdarstellung ausgerichteten höfischen
Gesellschaft, in deren Umfeld solche Texte verfasst und rezipiert wurden,
angenommen werden. Dass das Vanitas-Motiv auch zur
bürgerlichen
Selbstdarstellung in den allseits beliebten Selbstbildnissen mit Stillleben
gehörte, die sich gut betuchte Bürgerinnen und Bürger leisten konnten, wird
immer wieder sichtbar, gehört aber nicht zwingend zu solchen Bildern.
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Schon Paul
Stöcklein (1956)
betonte, sollte man gerade auch die Vanitas-Dichtung im Kontext dreier
Momente sehen:
Zunächst
einmal stehe sie immer "in einem mehr oder minder deutlichen
Zyklus-Zusammenhang" (ebd.,
S.77f.), in dem es nur ein Teil eines übergeordneten Ganzen darstelle.
Dabei darf man wohl aus heutiger Sicht den Begriff des Zyklus-Zusammenhangs
durchaus auch in einem weiteren Sinne verwenden. Vanitas-Texte sind Teil
verschiedener Diskurse der Zeit. Sie nehmen z. B. ihren Platz im Kontext
religiöser, theologischer und eschatologischer Fragen ein und stehen in
Inhalt und Gestaltung in der Konkurrenz zur neulateinischen
Gelehrtendichtung.
Desweiteren
sei "solch ein Text meist nur das arme Relikt einer größeren geselligen
»Aufführung«, ein uns gerettetes Stückchen Rollentext, von dem man wissen
muss, in welchem Akt des geselligen Lebens er steht und in wessen Mund er
gehört, auch, wie er etwa durch Musik erhöht oder überhaupt erst zu seinem
ganzen Wesen vervollständigt wird." (ebd.)
Auch die
weltliche Vanitas-Lyrik ist insofern "Gelegenheitsdichtung in einem Maße,
wie es heute nicht leicht vorzustellen ist. Sie ist an alle wichtigeren
Anlässe des öffentlichen wie privaten Lebens gebunden. An die Gelegenheit
gebunden, wird sie in Auftrag gegeben und, bald schlechter, bald besser
honoriert." (Herzog 1979, S.39ff.)
Wer heute mit
ihr zu tun hat, darf durchaus auch sehen, dass sie, um
es abwertend zu sagen, auch immer ▪ "Bildungshuberei"
(Herzog 1979,
S.39ff.) war, um sich in einer auf gegenseitige Überbietung ausgerichteten
Lyrikproduktion zu präsentieren oder anders gesagt: "sie ist geübtes Handwerk,
dekoratives, repräsentatives Hantieren mit oft konventionellen
Bestandteilen. Sie ist spielerisch, ja oft schauspielerisch und
marktschreierisch. Verfolgt man den 'Ursprung' eines Gedichts, so stößt man
nicht auf ein 'Erlebnis' (bzw. ein solches ist nicht zu belegen), sondern
auf ein literarisches Vorbild. Barocke Lyrik ist mit wenigen Ausnahmen
unheilbar rhetorisch und man verfehlt ihr Wesen, wenn sich nur an die
schlichten Gebildes des Kirchenliedes oder des Spruches hält." (Max Wehrli 1962, zit. n.
Braak 1979, S.13f.)
In diesem
Zusammenhang darf eben nicht aus dem Blickfeld geraten, dass sich mit
Rückendeckung der im Barock ausgeprägten ▪
Imitatio-Poetik die
gelehrten Dichtern nach heutigen Vorstellungen geradezu ungeniert an
althergebrachten Bildern und rhetorischen Strategien anderer, früherer und
zeitgenössischer Quellen und Autoren bedienten. Sie griffen bei ihrer
literarischen Produktion auf alle ihnen verfügbaren "poetischen
Schatzkammern" (Szyrocki
1979/1994, S.41) zurück und "plünderten", was sie hergaben, um das
Vorgefundene "im Rahmen bestehender Bedeutungszuordnungen zu variieren." (Mauser
1982, S.235)
Dichterische Originalität im modernen Sinne beanspruchten
die Verfasser von Vanitas-Dichtung ebenso wenig wie den Ausdruck subjektiven
Empfindens, denn der Wert und Qualität eines Gedichts bemisst sich in ihren
Augen wie auch in den Augen ihres höfischen und gelehrten Publikums am "Grad
der Fähigkeit, aus vorgegebenem Material mit größtem Kunstverstand und oft
geradezu raffiniertem Geschick neue Gedichte zu kombinieren." (Braak
1979, S.12)
Und auch ein
noch so vordergründig emotionales Thema, wie z. B. Einsamkeit (vgl. ▪
Gryphius, Einsamkeit) hat mit
dem Erleben eines Individuums in einer solchen äußeren und inneren Situation
nichts tun. Es soll, wenn ein Gedicht das Thema im Kontext der Vanitas-Idee
präsentiert, ganz woanders hinführen. Vor allen Dingen musste es zu der öffentlichen Situation
passen, für die es verfasst wurde und wo es rezipiert wurde:
Öffentlich, das heißt, in der Regel im "nicht inspirativ (...) sondern
im Auftrage (gedichtet), ausgebreitet vor aller Augen, gerückt ins
Wahrnehmbare und ins Repräsentative" (ebd.)
und
das bedeutet Einnahme einer "rhetorische(n) Grundhaltung" und
Inszenierung der "theatralische(n) Gebärde
des Barockzeitalters."
(ebd.)
(ähnlich auch u. a.: S.14)
Statt "Subjektivität oder Gefühlsorginalität"
Jentzsch
1993,
S.15) geht es um die Zurschaustellung von
▪"Einfallsreichtum, Gedankenschärfe
und Kunstfertigkeit" (ebd.)
bei der Anwendung überlieferter Traditionen (▪
Imitatio-Poetik), die aus dem
von den Humanisten sorgsam gepflegten Fundus
topischer "Allgemeinpätze" in
Bildsprache und Rhetorik möglichst virtuos, aber insgesamt eben nachahmend
schöpfen sollte. (vgl.
Willems 2012,
Bd. I, S.208)
So ist der
vielleicht zu sehr aus der damaligen Zeit fallende, Vorwurf
der
"Bildungshuberei"
(Herzog 1979,
S.39-52) jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, auch wenn diese nicht nur
der Selbstdarstellung der Autoren diente, sondern auch den Erwartungen der
Leser*innen und Hörer*innen in dem international vernetzten humanistischen
Gelehrtenzirkel und und im vorwiegend höfischen Umfeld das lieferte, was die
dort präsentierten
Werke oft als ▪
Gelegenheitsdichtung zur öffentlichen Unterhaltung und Belehrung
beitragen sollten.
Auch die
Vanitas-Dichtung kann also nicht getrennt von ihrer öffentlichen
Rezeption und Funktion verstanden werden.
Die Art
jedenfalls, wie wir sie heute oft sehen, nämlich als Ausdruck eines
barocken Lebensgefühls, ist Ausdruck einer die historische Distanz
nur vordergründig überbrückenden Sinngebung. Die ▪
bewusstseins- und
mentalitätsgeschichtlichen Aspekte, unter denen barocke Literatur
betrachtet werden kann, sollen dabei in ihrer, vor allem
literaturdidaktischen, Bedeutung nicht grundsätzlich in Frage gestellt
werden. Angesichts der ▪
bei ihrer heutigen Rezeption auftretenden kognitiven Dissonanzen
geht es schließlich auch im Literaturunterricht darum, Zugänge zu dieser
einigermaßen ▪
fremdartigen Literatur (vgl. Niefanger
32012, S.1) zu ermöglichen.
Wenn die
Betrachtung dabei stehen bleibt, mentalitätsgeschichtliche Aspekte wie
die ▪ Bipolarität menschlichen Daseins im
Barock angesichts eines
▪ allseits bedrohten Lebens
auf der einen und einem unstillbaren Lebenshunger
auf der anderen Seite zur Deutung
heranzuziehen, bleiben wichtige andere Aspekte auf der Strecke, die
sozial- und literaturgeschichtlich von Bedeutung sind.
Dabei geht
es um die gesellschaftlichen Voraussetzungen und die ▪
Strategien, mit denen sich die neue volkssprachliche ▪
Kunstdichtung
einen Platz im »literarischen
Feld
anspruchsvoller Literatur ▪
zwischen neulateinischer
Gelehrtendichtung und rundum abgewerteter Popularliteratur (Volkspoesie)
eroberte. Dabei war der Gradmesser von Erfolg nicht wie heute die
Verbreitung bzw. die Verkaufszahlen (Bestseller) sind, sondern das
erhöhnte Ansehen, das ihren Produkten durch maßgebliche Agenten und
Institutionen des "Kulturbetriebs" zugeschrieben wird. "Höhenkammliteratur"
wird eben zu allen Zeiten "gemacht" und sozial konstruiert.
Die drei Strategien sind der
▪
Anschluss an den Diskurs um das Aufholen eine nationalen Rückstandes,
die entstehende ▪
"Allianz
zwischen humanistischer Gelehrtenrepublik und frühmodernem Fürstenstaat"
(Willems 2012, Bd. I,
S.159) und das
▪
elitäre Ignorieren der weiter existierenden Popularliteratur
gehören zur Rekontextualisierung der Vanitas-Dichtung dazu.
Gerade für die Literaturdidaktik ist es unerlässlich zu verstehen, dass sich
die historische Distanz zu den fremdartigen barocken Texten und Denkweisen (Niefanger
32012, S.1) im Allgemeinen und den Texten, die das Thema
der Vergänglichkeit thematisieren im Besonderen, nicht durch vorschnelle, im
Kern doch wieder erlebnisorientierte Analogien von Lebensgefühlen überwinden
lässt.
Dafür und als Weg zu einem einem vertiefteren Verständnis der Texte
muss sichtbar werden, dass es sich bei Literaturproduktion und -rezeption in
der ▪
Literaturepoche
des ▪ Barock
um "ein durch und durch konventionalisiertes, gesellschaftliches Geschehen" (Binneberg
2009, S.121) in der Öffentlichkeit handelte, dem dann Wert zugeschrieben
wurde, wenn es die Wünsche des Publikums erfüllte und damit zur
Existenzsicherung der von ihren meist adeligen Gönnern abhängigen
Literaturproduzenten dadurch beitrug, dass sie diesen in der Konkurrenz mit
anderen die nötige Aufmerksamkeit und Anerkennung einbrachte. Sie
transportierte das, was gewünscht und erwartet wurde.
Bleibt natürlich die in der Literaturdidaktik immer wieder einmal zur
Sprache gekommene Frage, welchen Sinn es macht, sich mit barocker Lyrik
dieser Art zu befassen, wenn genau die Zugänge, die sich immer wieder als
für die Anschlusskommunikation über Literatur besonders fruchtbar erweisen
(Barock als die "letzte Party" vor dem Weltuntergang und vor der
bevorstehenden Klimakatastrophe etc.), hier in gewisser Weise relativiert
werden.
Wenn
es aber darum geht, an die Erfahrungen »kognitiver
Dissonanz, die Schülerinnen und Schüler im ▪
Umgang mit barocken Texten und Themen erleben, zu überwinden, müssen sie
lernen sich auf das Fremdartige einzulassen, ohne schnell
Motivation und
volitionale
Bereitschaft dazu zu verlieren, wenn dies nicht so einfach zu
bewerkstelligen ist.
Dazu
sollten die ▪
Fremdheitserfahrungen thematisiert werden, die von Schülerinnen
gemacht werden und zur "Spurensuche" genutzt werden, um zu einem
vertieften Textverständnis zu gelangen. Dabei muss auch reflektiert
werden, welche Form von Fremdheitserfahrung die Grundlage der
kognitiven Dissonanz darstellt.
▪
Fremdheitserfahrungen thematisieren
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023