Über eines sind sich
Literaturdidaktiker zumindest dem Wortlaut des Begriffes nach weitgehend
einig. Die Beschäftigung mit Literaturgeschichte soll, neben anderen Zielen,
dem Aufbau von Orientierungswissen oder Überblickswissen dienen,
weil dies fast unverzichtbar ist, "um Literatur in ihren vielfältigen
Bezügen verstehen und genießen zu können." (Kepser/Abraham
42016, S.56) Und selbst der Hinweis darauf, "dass eine
bewusste Beziehung des Einzelnen zu geschichtlichen Sachverhalten am ehesten
aufgebaut wird, wenn diese aus subjektiven Orientierungsmotiven heraus
rezipiert werden" (Fingerhut
32019, S.256), dürfe nicht dazu führen, dass der Erwerb
begrifflich strukturierten Orientierungswissens vernachlässigt werden dürfe.
(vgl. ebd.,
S.257)
Der didaktische Ausweg aus
dem "Dilemma zwischen kognitver und emotionaler Lektüreverarbeitung" (ebd.)
besteht nach Ansicht von
Fingerhut (32019)
im Wesentlichen darin, die "Bedeutsamkeit lebensgeschichtlicher Lektüre" (ebd.)
dadurch zu fördern, dass das Wissen von den Schülerinnnen und Schülern als
relevant für ihre eigenen Haltungen und Wertvorstellungen erfahren werden
kann.
Schaut man hinter
die oft wie Worthülsen gebrauchten Begriffe Orientierungswissen und
Überblickswissen, dann werfen sie eine Menge Fragen auf, die in ihrem
alltäglichen und didaktischen Gebrauch unterschiedlich beantwortet werden.
Während sich der Begriff
des Orientierungswissens in zahlreichen wissenstheoretischen Modellen und
Typologien als eine Art des Wissens wiederfindet, stellt Überblickswissen
darin gewöhnlich keine Art oder Kategorie dar. Daher bleibt der Begriff auch
vergleichsweise vage und seine Bedeutung ist nicht eindeutig definiert. Außer der
Tatsache, dass es seinem Besitzer bzw. seiner Besitzerin die Gewissheit
verschafft, damit, ohne ins Detail gehen zu müssen, eine Vorstellung über
ein umfangreicheres Ganzes zu gewinnen, ist damit nämlich auch nicht viel
mehr gesagt.
Der Alltagsgebrauch der
beiden Komposita Orientierungswissen und Überblickswissen, den wir hier
knapp skizzieren, dürfte zunächst einmal den Akzent auf die Bedeutung des
Begriffs Wissen setzen. Wissen wird dabei gewöhnlich mit dem Begriff der
Wahrheit verbunden sein (vgl.
Stock/Stock 2008, S.20).
Nach unserem einfachen
Alltagsverständnis stellen individuell oder allgemein akzeptierte,
offenkundige und klar ersichtliche Aussagen, die als wahr gelten, Wissen
dar. Unser Alltagsbegriff von Wissen wird also gewöhnlich mit dem Begriff
der
Wahrheit verbunden (vgl.
Stock/Stock 2008, S.20)
Wenn
einer, mehrere oder alle drei Bestimmungsmomente Akzeptanz, Evidenz oder
Wahrheit fehlen, liegt entweder ein Irrtum vor
(etwas ist weder wahr noch unmittelbar einsichtig/evident), eine bloße
Annahme (etwas ist zwar evident, aber nicht wahr)
oder eine Lüge (wenn keiner der drei Momente
zutrifft). Als nicht an ein Subjekt gebundene Informationen und sei es auch als Falschinformationen (Fakes),
die oft auch tatsächlich zutreffende Fakten mit falschen Informationen
vermischen, Zusammenhänge zerlegen, um die daraus extrahierten Elemente in
einen vollkommen anderen Sinnzusammenhang zu stellen (vgl.
Schaeffer 2018, S.16), können Irrtümer, Annahmen und Lügen natürlich
ohne weiteres weiterverbreitet werden.
Ob wir den oben genannten
"Gleichungen" jedoch überhaupt bereit sind zu folgen, also z. B. einen
Irrtum als solchen anerkennen oder nicht, steht auf einem ganz anderen
Blatt. Wir können natürlich ohne weiteres über offensichtliche Irrtümer einfach
hinwegsehen, selbst lügen oder vor offensichtlichen Lügen die Augen
verschließen sowie allerlei Kapriolen folgen, die uns der so genannte • "gesunde
Menschenverstand" schlägt. Und die heute in den sozialen Netzwerken weit
verbreitete Gleichsetzung
von Meinen und Wissen zeigt die grundsätzliche Ambivalenz des
Wissensbegriffs im Alltag auf, der die Grenzen zwischen subjektiver und
objektiver Wahrheit, zwischen Meinungen und Fakten, verwischt.
Wer etwas weiß (das schließt
von auch ein: wer etwas glaubt zu wissen), das handlungsrelevant ist, fühlt
sich als Besitzer bzw. Besitzerin dieses Wissens. Dabei kann dieser Besitz
aus unterschiedlichen Quellen stammen. Das Wissen kann z. B. aufgrund eigener
Erfahrungen in Interaktionen mit der Umwelt und in der Kommunikation mit
anderen erworben worden sein, kann in Schule und Ausbildung gelernt oder
auch über Medien vermittelt worden sein.
Gewöhnlich akzeptieren wir wohl im
Alltag, dass unser eigenes Wissen nicht immer die ultima ratio ist
und insofern auch nicht deshalb wirklich wahr ist, weil uns etwas wahr
erscheint. Oft steht unser individuelles subjektives Wissen und das
kollektive
Gedächtnis einer Gruppe von Menschen, der wir uns zugehörig fühlen,
auch in einem Spannungsverhältnis zu dem "objektiven" Wissen, im
Sinne »Karl
R. Poppers (1902-1994) das "»unabhängig von Subjekten« in objektiven
Wissensspeichern (Büchern, Datenbaken usw.)" (ebd.)
und dem im »kulturellen
Gedächtnis gespeichert ist. Und dabei sind •
kognitive
Verzerrungen, ein Sammelbegriff für systematische Fehler im Denkprozess,
die dazu führen, dass Menschen auf irrationale oder in verzerrter Weise
Informationen wahrnehmen, verarbeiten und erinnern, noch nicht einmal in
diese Überlegungen einbezogen. Hier muss der Hinweis auf einige wenige
kognitive Verzerrungen reichen, wie z. B. den •
Attributionsfehler (Correspondence bias), das •
Beharren auf Überzeugungen (Belief perseverance),
den •
Bestätigungsfehler (Confirmation bias), die • emotionale Beweisführung, die •
selbstwertdienliche
Verzerrung und der Lake-Wobegon-Effekt sowie das •
Meine-Seite-Denken
(Myside bias).
Orientierungswissen
stellt unserem Alltagsverständnis in einem engeren Sinne das
Wissen dar, das benötigt wird, um sich in einem bestimmten
Bereich oder Kontext zurechtzufinden. Es gibt eine erste
Orientierung in einem bestimmten Themenbereich und ermöglicht
es, sich ein erstes Bild von einem Thema zu machen. Zugleich ist
es aber auch so grundlegend, dass es uns auch dabei unterstützt,
komplexe Zusammenhänge und Strukturen ohne Details in
ihren Grundzügen zu verstehen.
Orientierungswissen können viele Arten von
Wissen sein. So kann es z. B.
deklarativ
oder
prozedural sein oder
explizit
oder
implizit sein. Grundsätzlich
ist Orientierungswissen offen angelegt und bietet Schnittstellen
zur Verknüpfung mit anderem Wissen, tiefergehenderem Wissen eines Themengebiets
oder Wissen aus anderen Kontexten, die für das Thema als relevant angesehen
werden. Zugleich liefert es auch einen groben Maßstab, um den
Grad dieser Relevanz einzuschätzen.
Überblickswissen geht dem allgemeinen Verständnis nach über den
engeren Begriff des Orientierungswissen hinaus und zielt auf
eine umfassendere Darstellung eines Themenbereichs. In diesem
Sinne kann man es als das im Vergleich zum Orientierungswissen tiefergehendere Wissen ansehen. Unserem Alltagsverständnis nach ist es ein subjektiv, in einem bestimmten Kollektiv
intersubjektiv akzeptiertes, evidentes und wahres Wissen oder auch objektiv verlässliches Wissen, dass einem als
Besitzer bzw. Besitzerin dieses Wissens, die Möglichkeit gibt, Dinge und
Sachverhalte, ohne uns in Einzelheiten zu verlieren, zu überschauen. Von
welcher Warte aus dies geschieht, ist dabei zunächst nicht relevant.
Außerdem ist die Auswahl der Bestandteile dieses Wissens und die Perspektivität
der Position, von der aus etwas im Überblick in den Fokus gerät, dabei
unerheblich. Wichtig ist vielmehr, dass es Orientierung beim sozialen
Handeln gibt. Die Struktur dieses Wissens ist dabei zweitrangig, solange es
eben diese Funktion erfüllt. Wir sehen in ihm häufig das Grundwissen,
das man benötigt, um begründete Entscheidungen über unser Handeln und
Urteilen fällen zu können. Das schließt auch die begründete Entscheidung
ein, im konkreten Fall über das Überblickswissen hinausgehende Aspekte einer
Sache als Entscheidungsgründe zu berücksichtigen, die erst noch recherchiert
und/oder analysiert werden müssen. Hier geht es
also im Unterschied zum Orientierungswissen nicht mehr "nur"
darum, sich ein erstes Bild von einem Thema, Sachverhalt oder Gebiet zu
machen.
In verschiedenen
wissenstheoretischen Konzepten ist der Begriff des Orientierungswissen eine
Kategorie, mit der verschiedene Arten Wissen typologisch unterschieden
werden können.
In
dem ▪
philosophischen Ansatz zur
▪ Klassifikation von Wissen
von Wissen, der auf
Ryle
(1969) und
Baumgartner (1993)
zurückgeht, ist das Orientierungswissen als eigenständiger Wissensbereich
nicht vorgesehen. Sie unterscheiden lediglich die drei Wissensbereiche •
Faktenwissen,
•
Anwendungswissen
und •
Handlungswissen
Wolters (1997, S.34), für den "»Wissen« (...) jene Art
von Kenntnis (bedeutet), die auf für jeden Menschen zugänglichen und
nachvollziehbaren Gründen beruht", unterscheidet drei Arten von Wissen:
• Sachwissen,
• Verfügungswissen und
• Orientierungswissen.
Rost (2003)
gründet seine Unterscheidung verschiedener Wissensarten auf die vier
unterschiedlichen Funktionen von Wissen: Orientierungsfunktionen,
handlungssteuernde Funktionen, Erklärens- und Deutungsfunktionen
sowie Quellenfindungsfunktionen.
Auf der Grundlage dieser Funktionen unterscheidet er die vier
folgenden Wissensarten voneinander: •
Orientierungswissen ("know that", "Wissen, dass"), •
Erklärungs- und Deutungswissen ("know why", "Wissen, warum"),
•
Handlungswissen ("know how", "Wissen, wie") und •
Quellenwissen ("know where", "Wissen, wo")
Was Überblickswissen oder Orientierungswissen konkret beinhaltet, kann
natürlich auch die •
Kognitionspsychologie
nicht beantworten, bei der es ja vornehmlich um die Verarbeitung,
Speicherung und den Abruf von Gedächtnisinhalten geht. So
unterscheidet sie in der Regel drei Arten von Wissen voneinander: •
Konzeptuelles Wissen,
prozedurales
und metakognitives
Wissen voneinander. Auf der Grundlage der •
Schematheorie des Wissens hat die Kognitionspsychologie für die kognitive
Verarbeitung mit • dynamischen
kognitiven Schemata eines von verschiedenen Modellen entwickelt, die
erklären können, wie Elemente des Überblicks- bzw.
Orientierungswissen mental an bestimmten •
Slots (Leerstellen) "andocken" können.
Die beiden
Begriffe Überblicks- und Orientierungswissen werden im
literaturdidaktischen Umfeld und in den institutionellen
Vorgaben für den Literaturunterricht häufig synonym verwendet.
Allerdings kann der ihnen zugeschriebene Bedeutungsumfang auch
Unterschiede aufweisen. Cornelsen hat sein umfangreiche
Schulbuchreihe »"Deutschbuch"
mit dem Untertitel "Orientierungswissen" etikettiert und damit
für seine Werke reklamiert, dass sie das in den Lehr- und
Bildungsplänen geforderte Orientierungswissen hinter den
jeweiligen Buchdeckeln "enthalten".
Die •
"Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung" (EPA)
für das Fach Deutsch 2002 haben noch von Orientierungswissen in
der Formel "verlässliches und vernetztes literatur-,
geistes- und kulturgeschichtliches Orientierungswissen"
gesprochen und dazu gezählt:
"Einsichten in literaturgeschichtliche sowie
literaturtheoretische Zusammenhänge", die zur "literaturgeschichtliche(n)
Grundbildung" gehören und dabei vor allem Kenntnisse über die
Epochen Mittelalter, Barock, Aufklärung, Klassik, Romantik,
Realismus, ausgehendes 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert sowie
Gegenwart betreffen. Ferner gehören dabei diachron angelegte
Motivvergleiche dazu. (S.6)
Die ▪
KMK-Bildungsstandards für die schriftliche Abiturprüfung im Fach Deutsch
(2012) fordern dagegen im ▪
Kompetenzbereich
▪
Sich mit literarischen Texten
auseinandersetzen ▪
literaturgeschichtliches und poetologisches
Überblickswissen ein.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.08.2024
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