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Orientierungswissen und Überblickswissen

Überblick

LiteraturgeschichteDidaktische und methodische Aspekte


Fachbereich Deutsch
Glossar
Literatur Autorinnen und Autoren Literarische Gattungen ▪ Literaturgeschichte Didaktische und methodische Aspekte Überblick [ Orientierungswissen und Überblickswissen Überblick Wissensarten Bildungsstandards ] Wege zu literaturgeschichtlicher Kompetenz  Epochenkonstrukte reflektieren Traditionelle Epochenkonstrukte oder Random Access? "Erinnerungsarbeit" mit Schneisen und Erkundungsrouten Der biografische Ansatz im Wandel Historisches Erzählen Literaturgeschichte in gängigen schulischen Lehrwerken Didaktik der Literaturgeschichte und "wehrhafte" Demokratie Überblick Von der Nationalliteratur zum modernen Pluralismus Literatur auf dem Weg in die Moderne Zwischen Mono- und Multiperspektivismus Literaturepochen  Motive der Literatur Grundlagen der Textanalyse und Interpretation Literaturunterricht Schreibformen  Operatoren im Fach Deutsch
  

 

Über eines sind sich Literaturdidaktiker zumindest dem Wortlaut des Begriffes nach weitgehend einig. Die Beschäftigung mit Literaturgeschichte soll, neben anderen Zielen, dem Aufbau von Orientierungswissen oder Überblickswissen dienen, weil dies fast unverzichtbar ist, "um Literatur in ihren vielfältigen Bezügen verstehen und genießen zu können." (Kepser/Abraham 42016, S.56) Und selbst der Hinweis darauf, "dass eine bewusste Beziehung des Einzelnen zu geschichtlichen Sachverhalten am ehesten aufgebaut wird, wenn diese aus subjektiven Orientierungsmotiven heraus rezipiert werden" (Fingerhut 32019, S.256), dürfe nicht dazu führen, dass der Erwerb begrifflich strukturierten Orientierungswissens vernachlässigt werden dürfe. (vgl. ebd., S.257)

Der didaktische Ausweg aus dem "Dilemma zwischen kognitver und emotionaler Lektüreverarbeitung" (ebd.) besteht nach Ansicht von Fingerhut (32019) im Wesentlichen darin, die "Bedeutsamkeit lebensgeschichtlicher Lektüre" (ebd.) dadurch zu fördern, dass das Wissen von den Schülerinnnen und Schülern als relevant für ihre eigenen Haltungen und Wertvorstellungen erfahren werden kann.

Schaut man hinter die oft wie Worthülsen gebrauchten Begriffe Orientierungswissen und Überblickswissen, dann werfen sie eine Menge Fragen auf, die in ihrem alltäglichen und didaktischen Gebrauch unterschiedlich beantwortet werden.

Während sich der Begriff des Orientierungswissens in zahlreichen wissenstheoretischen Modellen und Typologien als eine Art des Wissens wiederfindet, stellt Überblickswissen darin gewöhnlich keine Art oder Kategorie dar. Daher bleibt der Begriff auch vergleichsweise vage und seine Bedeutung ist nicht eindeutig definiert. Außer der Tatsache, dass es seinem Besitzer bzw. seiner Besitzerin die Gewissheit verschafft, damit, ohne ins Detail gehen zu müssen, eine Vorstellung über ein umfangreicheres Ganzes zu gewinnen, ist damit nämlich auch nicht viel mehr gesagt.

Überblickswissen und Orientierungswissen im alltäglichen Sprachgebrauch

Der Alltagsgebrauch der beiden Komposita Orientierungswissen und Überblickswissen, den wir hier knapp skizzieren, dürfte zunächst einmal den Akzent auf die Bedeutung des Begriffs Wissen setzen. Wissen wird dabei gewöhnlich mit dem Begriff der Wahrheit verbunden sein (vgl. Stock/Stock 2008, S.20).

Nach unserem einfachen Alltagsverständnis stellen individuell oder allgemein akzeptierte, offenkundige und klar ersichtliche Aussagen, die als wahr gelten, Wissen dar. Unser Alltagsbegriff von Wissen wird also gewöhnlich mit dem Begriff der Wahrheit verbunden (vgl. Stock/Stock 2008, S.20)

Wenn einer, mehrere oder alle drei Bestimmungsmomente Akzeptanz, Evidenz oder Wahrheit fehlen, liegt entweder ein Irrtum vor (etwas ist weder wahr noch unmittelbar einsichtig/evident), eine bloße Annahme (etwas ist zwar evident, aber nicht wahr) oder eine Lüge (wenn keiner der drei Momente zutrifft). Als nicht an ein Subjekt gebundene Informationen und sei es auch als Falschinformationen (Fakes), die oft auch tatsächlich zutreffende Fakten mit falschen Informationen vermischen, Zusammenhänge zerlegen, um die daraus extrahierten Elemente in einen vollkommen anderen Sinnzusammenhang zu stellen (vgl. Schaeffer 2018, S.16), können Irrtümer, Annahmen und Lügen natürlich ohne weiteres weiterverbreitet werden.

Ob wir den oben genannten "Gleichungen" jedoch überhaupt bereit sind zu folgen, also z. B. einen Irrtum als solchen anerkennen oder nicht, steht auf einem ganz anderen Blatt. Wir können natürlich ohne weiteres über offensichtliche Irrtümer einfach hinwegsehen, selbst lügen oder vor offensichtlichen Lügen die Augen verschließen sowie allerlei Kapriolen folgen, die uns der so genannte • "gesunde Menschenverstand" schlägt. Und die heute in den sozialen Netzwerken weit verbreitete Gleichsetzung von Meinen und Wissen zeigt die grundsätzliche Ambivalenz des Wissensbegriffs im Alltag auf, der die Grenzen zwischen subjektiver und objektiver Wahrheit, zwischen Meinungen und Fakten, verwischt.

Wer etwas weiß (das schließt von auch ein: wer etwas glaubt zu wissen), das handlungsrelevant ist, fühlt sich als Besitzer bzw. Besitzerin dieses Wissens. Dabei kann dieser Besitz aus unterschiedlichen Quellen stammen. Das Wissen kann z. B. aufgrund eigener Erfahrungen in Interaktionen mit der Umwelt und in der Kommunikation mit anderen erworben worden sein, kann in Schule und Ausbildung gelernt oder auch über Medien vermittelt worden sein.

Gewöhnlich akzeptieren wir wohl im Alltag, dass unser eigenes Wissen nicht immer die ultima ratio ist und insofern auch nicht deshalb wirklich wahr ist, weil uns etwas wahr erscheint. Oft steht unser individuelles subjektives Wissen und das kollektive Gedächtnis einer Gruppe von Menschen, der wir uns zugehörig fühlen, auch in einem Spannungsverhältnis zu dem "objektiven" Wissen, im Sinne »Karl R. Poppers (1902-1994) das "»unabhängig von Subjekten« in objektiven Wissensspeichern (Büchern, Datenbaken usw.)" (ebd.) und dem im »kulturellen Gedächtnis gespeichert ist. Und dabei sind • kognitive Verzerrungen, ein Sammelbegriff für systematische Fehler im Denkprozess, die dazu führen, dass Menschen auf irrationale oder in verzerrter Weise Informationen wahrnehmen, verarbeiten und erinnern, noch nicht einmal in diese Überlegungen einbezogen. Hier muss der Hinweis auf einige wenige kognitive Verzerrungen reichen, wie z. B. den • Attributionsfehler (Correspondence bias), das • Beharren auf Überzeugungen (Belief perseverance), den Bestätigungsfehler (Confirmation bias), die • emotionale Beweisführung, die • selbstwertdienliche Verzerrung und der Lake-Wobegon-Effekt sowie das • Meine-Seite-Denken (Myside bias).

Orientierungswissen stellt unserem Alltagsverständnis in einem engeren Sinne das Wissen dar, das benötigt wird, um sich in einem bestimmten Bereich oder Kontext zurechtzufinden. Es gibt eine erste Orientierung in einem bestimmten Themenbereich und ermöglicht es, sich ein erstes Bild von einem Thema zu machen. Zugleich ist es aber auch so grundlegend, dass es uns auch dabei unterstützt, komplexe Zusammenhänge und Strukturen ohne Details in ihren Grundzügen zu verstehen. Orientierungswissen können viele Arten von Wissen sein. So kann es z. B. deklarativ oder prozedural sein oder explizit oder implizit sein. Grundsätzlich ist Orientierungswissen offen angelegt und bietet Schnittstellen zur Verknüpfung mit anderem Wissen, tiefergehenderem Wissen eines Themengebiets oder Wissen aus anderen Kontexten, die für das Thema als relevant angesehen werden. Zugleich liefert es auch einen groben Maßstab, um den Grad dieser Relevanz einzuschätzen.

Überblickswissen geht dem allgemeinen Verständnis nach über den engeren Begriff des Orientierungswissen hinaus und zielt auf eine umfassendere Darstellung eines Themenbereichs. In diesem Sinne kann man es als das im Vergleich zum Orientierungswissen tiefergehendere Wissen ansehen. Unserem Alltagsverständnis nach ist es ein subjektiv, in einem bestimmten Kollektiv intersubjektiv akzeptiertes, evidentes und wahres Wissen oder auch objektiv verlässliches Wissen, dass einem als Besitzer bzw. Besitzerin dieses Wissens, die Möglichkeit gibt, Dinge und Sachverhalte, ohne uns in Einzelheiten zu verlieren, zu überschauen. Von welcher Warte aus dies geschieht, ist dabei zunächst nicht relevant. Außerdem ist die Auswahl der Bestandteile dieses Wissens und die Perspektivität der Position, von der aus etwas im Überblick in den Fokus gerät, dabei unerheblich. Wichtig ist vielmehr, dass es Orientierung beim sozialen Handeln gibt. Die Struktur dieses Wissens ist dabei zweitrangig, solange es eben diese Funktion erfüllt. Wir sehen in ihm häufig das Grundwissen, das man benötigt, um begründete Entscheidungen über unser Handeln und Urteilen fällen zu können. Das schließt auch die begründete Entscheidung ein, im konkreten Fall über das Überblickswissen hinausgehende Aspekte einer Sache als Entscheidungsgründe zu berücksichtigen, die erst noch recherchiert und/oder analysiert werden müssen. Hier geht es also im Unterschied zum Orientierungswissen nicht mehr "nur" darum, sich ein erstes Bild von einem Thema, Sachverhalt oder Gebiet zu machen.

Orientierungswissen in wissenstheoretischen Konzepten

In verschiedenen wissenstheoretischen Konzepten ist der Begriff des Orientierungswissen eine Kategorie, mit der verschiedene Arten Wissen typologisch unterschieden werden können.

In dem ▪ philosophischen Ansatz zur ▪ Klassifikation von Wissen von Wissen, der auf Ryle (1969) und Baumgartner (1993) zurückgeht, ist das Orientierungswissen als eigenständiger Wissensbereich nicht vorgesehen. Sie unterscheiden lediglich die drei Wissensbereiche • Faktenwissen, • Anwendungswissen und • Handlungswissen

Wolters (1997, S.34), für den "»Wissen« (...) jene Art von Kenntnis (bedeutet), die auf für jeden Menschen zugänglichen und nachvollziehbaren Gründen beruht", unterscheidet drei Arten von Wissen: • Sachwissen, • Verfügungswissen und • Orientierungswissen.

Rost (2003) gründet seine Unterscheidung verschiedener Wissensarten auf die vier unterschiedlichen Funktionen von Wissen: Orientierungsfunktionen, handlungssteuernde Funktionen, Erklärens- und Deutungsfunktionen sowie Quellenfindungsfunktionen. Auf der Grundlage dieser Funktionen unterscheidet er die vier folgenden Wissensarten voneinander: • Orientierungswissen ("know that", "Wissen, dass"), • Erklärungs- und Deutungswissen ("know why", "Wissen, warum"),  • Handlungswissen ("know how", "Wissen, wie") und • Quellenwissen ("know where", "Wissen, wo")

Was Überblickswissen oder Orientierungswissen konkret beinhaltet, kann natürlich auch die • Kognitionspsychologie nicht beantworten, bei der es ja vornehmlich um die Verarbeitung, Speicherung und den Abruf von Gedächtnisinhalten geht. So unterscheidet sie in der Regel drei Arten von Wissen voneinander: • Konzeptuelles Wissen, prozedurales und metakognitives Wissen voneinander. Auf der Grundlage der • Schematheorie des Wissens hat die Kognitionspsychologie für die kognitive Verarbeitung mit • dynamischen kognitiven Schemata eines von verschiedenen Modellen entwickelt, die erklären können, wie Elemente des Überblicks- bzw. Orientierungswissen mental an bestimmten  • Slots (Leerstellen) "andocken" können.

Orientierungswissen und Überblickswissen in den Bildungsstandards

Die beiden Begriffe Überblicks- und Orientierungswissen werden im literaturdidaktischen Umfeld und in den institutionellen Vorgaben für den Literaturunterricht häufig synonym verwendet. Allerdings kann der ihnen zugeschriebene Bedeutungsumfang auch Unterschiede aufweisen. Cornelsen hat sein umfangreiche Schulbuchreihe »"Deutschbuch" mit dem Untertitel "Orientierungswissen" etikettiert und damit für seine Werke reklamiert, dass sie das in den Lehr- und Bildungsplänen geforderte Orientierungswissen hinter den jeweiligen Buchdeckeln "enthalten".

Die • "Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung" (EPA) für das Fach Deutsch 2002 haben noch von Orientierungswissen in der Formel "verlässliches und vernetztes literatur-, geistes- und kulturgeschichtliches Orientierungswissen" gesprochen und dazu gezählt: "Einsichten in literaturgeschichtliche sowie literaturtheoretische Zusammenhänge", die zur "literaturgeschichtliche(n) Grundbildung" gehören und dabei vor allem Kenntnisse über die Epochen Mittelalter, Barock, Aufklärung, Klassik, Romantik, Realismus, ausgehendes 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert sowie Gegenwart betreffen. Ferner gehören dabei diachron angelegte Motivvergleiche dazu. (S.6)

Die ▪ KMK-Bildungsstandards für die schriftliche Abiturprüfung im Fach Deutsch (2012) fordern dagegen im ▪ Kompetenzbereich Sich mit literarischen Texten auseinandersetzen literaturgeschichtliches und poetologisches Überblickswissen ein.

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 18.08.2024

 
 

 
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