Im Rahmen der Didaktik und
Methodik • (literatur-)historischer
Kontextualisierung gewinnt auch der Imaginationsansatz zusehends an
Gewicht. Er zielt unter Nutzung der Imagination und des Anschaulich-Machens
darauf, Identifikationsprozesse mit bestimmten historischen Personen, z. B.
Autorinnen und Autoren zu initiieren. Dabei kommt es darauf an, "Dichter
'vom Sockel' der Heldenverehrung zu holen" (Pauldrach 2020,
S.12), und sie als Individuen auch in ihrem normalen Alltagsleben abseits
des Literaturbetriebs erfahrbar zu machen, "um von dort den Bogen zurück zur
Literatur zu schlagen." (ebd.)
Damit dies gelingen kann, muss der jeweilige Dichter ggf. auch mit seinen
Widersprüchlichkeiten, Krisen und Misserfolgen als individuelle Person
sichtbar werden.
Als Quelle für
solche, durchaus auch anekdotischen Zugänge können eine große Zahl
populärwissenschaftlicher Texte herangezogen werden, die mit ihrem
"launigen" Schreibstil "in gewisser Weise "auch den Voyeurismus der
Leser befriedigen" (ebd.),
insgesamt aber "Dichter/innen weder als Heroen noch als 'blutleere
Papiertiger', sondern als menschliche Individuen im
Literaturunterricht (...) präsentieren." (ebd.)
Dennoch müssen Imagination und kognitiv-analytische Reflexion auch
weiterhin Hand in Hand gehen und das Ziel des
Literaturgesichtsunterrichts kann sich selbstverständlich nicht
darin erschöpfen, "Schüler/innen ausschließlich durch die
'Schlüssellochperspektive' zu motivieren." (ebd.,
S.13)
Insgesamt soll mit dem
Imaginationsansatz der Kontext gewissermaßen zum Leben erweckt werden. Um
dies zu erreichen, eignen sich eine ganze eine Reihe handlungs- und
produktionsorientierten Methoden, die im Literaturunterricht auch zum •
Repertoire kreativen Schreibens oder •
Verfahren der
szenischen Interpretation der gezählt werden. So lassen sich fiktive
Interviews mit historischen Personen (ggf. auch •
mit KI-Unterstützung) gestalten, Rollen-
und Simulationsspiele sowie Konfliktrollenspiele oder auch der szenische
Umgang mit Biografien inszenieren u. ä. m.
Wenig hilfreich dürfte es
allerdings sein, den Imaginationsansatz auf einen personenzentrierten Zugang im
Geschichtsunterricht zu reduzieren, der seine Aufgabe vor allem darin sieht,
in der Konkurrenz zu anderen über die Medien vermittelten Vorbildern
("Medien- und Sportstars"
Gautschi 2013) per
Bildungs- oder Lehrplan verordnete historische Vorbilder und "positive
Identifikationsfiguren" (ebd.)
zu verordnen. Das dürfte auch niemand ernsthaft im Auge haben, der die
prinzipielle Bedeutung von Vorbildern für junge Menschen im Auge hat.
Eine
Möglichkeit, Imagination und personenzentrierten Zugang ohne Abkoppelung von
historischer Urteilsbildung und ausreichender Quellenkenntnis so zu nutzen,
dass im Normalfall keine suggestiven oder manipulative Wirkungen zu erwarten
sind, besteht darin, Einzel- oder Gruppenporträts von historischen Personen
in unterschiedlicher medialer Gestalt erstellen zu lassen.
Ob und auf
welcher Grundlage der Personenkreis einzugrenzen ist, der als "positive
Identifikationsfiguren" überhaupt in Frage kommen kann, ist hingegen nicht
einfach und muss stets seine Voraussetzungen offenlegen, damit ein
reflektierter Umgang damit möglich ist.
Zudem muss stets auch berücksichtigt
werden, dass Schülerinnen und Schüler auch selbst darüber entscheiden
müssen, welche historische Figur, der sie begegnen, von ihnen porträtiert
und als Identikationsfigur zur Entwicklung ihrer eigenen Identität beitragen
soll.
Dass sie aber überhaupt historischen Figuren begegnen können,
die in den verschiedenen medialen Blockbuster-Formaten im Gegensatz zu
früheren Zeiten nicht mehr auftauchen, muss Aufgabe des
Geschichtsunterrichts sein, der damit auch dazu beiträgt, jene Frauen und
Männer, Jugendlichen und Kinder aus dem "kulturellen Gedächtnis" der
Gesellschaft abzurufen und zu bewahren, die - diese Wertung lässt sich nicht
vermeiden - "einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Zusammenlebens oder
der sozialen Gerechtigkeit" (ebd.)
hier und in der Welt geleistet haben.
Der Wiederaufwertung der
Imagination wird entgegengehalten, dass eigentlich zu naiven
Geschichtsbildern zurückgekehrt werde. Pauldrach hält dem entgegen, dass es
in einem auf Imaginationsprozesse setzenden Geschichtsunterricht oftmals gar
nicht darum gehe, solche mentalen Modelle zu erzeugen, sondern bestehende
Vorstellungen zu korrigieren, da die Schülerinnen und Schüler "bereits
bestimmte Vorstellungen von Autoren oder literaturhistorischen Ereignissen
in den Unterricht mit(bringen), generiert durch Medieneinflüsse oder andere
Erscheinungen der populären Geschichtskultur." (Pauldrach 2020,
S.17).)
So einleuchtend die
Vermutung im Allgemeinen aber auch klingen mag, der Hinweis darauf, dass
bestimmte Medienformate im Fernsehen mit ihren personalisierenden
Geschichtsdarstellungen wie z.B. "ZDF-History" mit »Guido
Knopp (geb. 1948)) Einfluss darauf nehmen könnten, "dass einzelne
Personen der Geschichte künftig häufiger im Unterricht auftauchen (vgl.
Gautschi 2013)",
ist angesichts der Tatsache, dass solche Formate in den traditionellen
Medien von jungen Leuten wohl nur in Ausnahmefällen gesehen werden, reine
Spekulation, die wenig zur Legitimation des Imaginationsansatzes beitragen
kann.
Trotzdem steht natürlich der Erfolg auch der Fernsehsendungen Guido
Knopps mit ihrem besonderen Stil aus einer Mischung von Originalbildern,
Interviews mit Zeitzeugen und Experten und nachgestellten Spielszenen nicht
in Frage.
Wer indessen empirisch untersuchen will, welche historischen
Personen über die Medien ins Bewusstsein heutige Jugendlicher rücken, muss
sich wohl viel mehr als mit Sendungen der öffentlich-rechtlichen
Fernsehanstalten damit beschäftigen, wo sich Jugendliche heute ihre medial
vorgeprägten historischen Informationen und Vorbilder herholen.
Dessen ungeachtet ist es sehr
wichtig zu sehen, wie sich Dokumentationen seit Einführung des
Privatfernsehens 1984 mehr und mehr in Richtung Fiktionalisierung und
Unterhaltung bewegt und eigene Edutainment-Formate dafür entwickelt hat.
So bedienen sich moderne dokumentarische Formate erprobter "Dramaturgien des Spielfilms bis
zum Casting der Protagonisten und dem Einsatz von bombastischer Musik und
Sound-Design. Der Spielfilm bedient sich auf der anderen Seite Strategien
des Dokumentarischen mit entsprechender Kameraarbeit oder der Nutzung von
dokumentarischem Material wie historischem Archiv- und Amateurmaterial sowie
Wochenschau-Bildern.
Dies führte zur Entwicklung zahlreicher neuer
dokumentarischer Formate wie Doku-Drama, Living History, Doku-Fiktion bis
zum Mockumentary, dem gefälschten Dokumentarfilm." (Hoffmann
2014, S.28) Dabei hat man in den späten 1980er-Jahren zunächst mit
Doku-Soaps in Form persönlicher Zeitreisen serielle Formate entwickelt, "die
Geschichten verweben und durch ihren dramaturgischen Aufbau mit
Spannungsbögen und Cliffhangern dafür sorgen, das Publikum bei der Stange zu
halten." Daraus entwickelten sich z. B. Living-History-Formate, "die
Ereignisse in einen historischen Rahmen setzten. Wie bei einer Zeitreise
wurden die Protagonisten von heute in die Lebensumstände vergangener Epochen
versetzt und mussten sich dort bewähren." (ebd.)
Über
Doku-Dramen, die anfangs noch neben den
dominierenden dokumentarischen Sequenzen mit nur wenigen reinszenierten
Szenen auskamen, entwickelte sich das Format der
Doku-Fiktion, deren Produkte "nahezu ganz auf dokumentarisches
Material verzichteten, sich vage auf historische Quellen bezogen und dadurch
ihre Geschichten legitimierten." (ebd.)
Als Beispiel mit einem literaturgeschichtlichen Bezug führt Hoffmann den
Film "Goethe – Magier der
Leidenschaft" (2007) (»YouTube
Teil 1/ »Teil
2/ »Teil
3) von »Günter
Klein (geb.1956) an, die Leidenschaft und Verliebtheit des 74 Jahre
alten »Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1932) für die siebzehnjährige »Ulrike
Levetzow (1804-1899) zum Thema hat. Diese Beziehung rekonstruiert Klein,
dem es dabei aber vor allem darum geht, Wissen emotional zu vermitteln, aus
Tagebucheintragungen und Briefen Goethes, nutzt aber auch den Spielraum, den
ihm die Gestaltung von fiktiven Dialogen lässt.
Ingesamt gesehen, so
resümiert Hoffmann, hätten sich die Formate bis 2014 aber "von einer
Geschichte verabschiedet, die von großen Männern gestaltet wird, hin zu
einer Alltagsgeschichte" (ebd.,
S.30) entwickelt.