Vom 19. Jahrhundert an, in
dem das Thema Literaturgeschichte überhaupt erst richtig zu florieren begann
(vgl. Meier 1996,
S.574), hat die Literaturwissenschaft bis
in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein der Biografie eines Autors bzw.
einer Autorin immer wieder einen unterschiedlichen Stellenwert für das
Verstehen eines literarischen Textes gegeben. Im schulischen Umfeld ist der
Zugang über das biografische und autobiografische Autorenwissen aber wohl
immer der prominenteste Weg geblieben, um
die Werke eines Autors bzw. einer Autorin zu erklären und zu deuten. (vgl.
•
Der biografische Ansatz im Wandel)
Dabei kann sich
biografisches Wissen grundsätzlich "entweder auf Figuren beziehen, die in
der Textwelt eines Textes vorkommen und eine Entsprechung in der
außerliterarischen Wirklichkeit haben, oder auf das Leben der Autoren
literarischer Werke selbst." (Abraham
2021, S.134) Hier wird das biografische Wissen als
Autorenwissen aufgefasst, dass sowohl
biografisches Wissen über den Autor als auch das •
autobiografische Wissen des Autors über sich selbst umfasst,
Die Bezugnahme auf den realen oder konstruierten Autor wird im
Allgemeinen dafür benutzt,
-
einen Text
raumzeitlich zu fixieren, indem sprachliche und inhaltliche
Elemente des Textes aus dem zeitgenössischen Sprachgebrauch und
aus Daten und Ereignissen einer bestimmten Zeit oder Region
erklärt werden
-
Unterschiede
zwischen bestimmten Inhalten und Motiven des Autors mit denen
anderer zu verdeutlichen
-
die thematische,
stilistische oder strukturelle Einheitlichkeit des Gesamtwerks
eines Autors herauszustellen
-
Deutungen eines
Textes oder einer Textstelle damit plausibel zu machen, dass
Ähnliches auch in anderen Werken des Autors auftaucht oder in
anderen Bezugs- oder Paralleltexten wie Briefen, Tagebüchern
oder Interviews den gleichen Autors thematisiert wird
-
auf Wissen des
Autors zu verweisen, über das er nachweislich verfügt hat und im
Rahmen der Rekonstruktion des Entstehungskontextes als
politischer, philosophischer, soziokultureller, ideologischer
oder religiöser Kontext zu der vom Autor intendierten
Bedeutungskonstruktion des Textes beigetragen haben
-
sich quasi im
Zuge des ▪
Autoritätsbeweis bei der ▪
Argumentation
zur Bildung bestimmter Interpretationsthesen, seien sie auch
bloße Annahmen über die Absichten des Autors, zu berufen. (vgl.
Winko
2002, S.343-348, vgl.
Hoffmann/Langer 2007, S.138)
Sicher können nicht alle aufgeführten
autor-intentionalistischen
Verfahren überzeugen und moderne literaturwissenschaftliche Ansätze
bestreiten den Rückgriff auf den Autor als angemessenes Mittel der
Interpretation überhaupt.
Heute gehört der •
Zugang zu literarischen Texten in der Schule
über das •
Autorenwissen,
d.h. dem biografischen und autobiografischen Wissen, in jedem Fall zu den gängigen •
Methoden des Literaturunterrichts.
Kenntnisse über einen Autor, dessen Werke im Literaturunterricht behandelt
werden, werden von den
•
KMK-Bildungstandards (BISTA AHR-D 2912) im Rahmen des
▪
literaturgeschichtlichen und poetologischen
Überblickswissen eingefordert und sind auch in den verschiedenen
▪
Lehr- und Bildungsplänen der
Bundesländer in Kompetenzerwartungen und Standards "gesetzt"
(z. B.▪
Bayern,
▪
Baden-Württemberg).
Als ▪
Orientierungswissen und
Überblickswissen dient es in der schulischen Praxis
gewöhnlich der •
schulischen Analyse und Interpretation bestimmter literarischer Texte
und wird beim • Hinzuziehen von
Kontexten im Rahmen der schulischen •
kontextualisierten werkimmanenten Interpretation verortet.
Dabei
wird dieses Wissen in unterschiedlichen Unterrichtssettings, meistens auch
im Zusammenhang mit • Gattungswissen und
allgemeinem • literaturgeschichtlichem Wissen,
zu dem es gehört, erworben.
Neben
kognitiv-analytischen
Zugängen zur Biografie eines Autors, die sich z. B. in der
Präsentation von
didaktisch mehr oder weniger gut aufbereiteten, d. h. didaktisch
reduzierten, Zeittafeln und Kurzbiografien niederschlagen, deren
Informationen von den Schülerinnen und Schülern oft ohne entsprechende
Relevanzinstruktionen für ihr Textverstehen heranziehen sollten, spielen
heute auch wieder narrative Zugänge zur Biografie eines Autors eine größere
Rolle. Sie seien, so wird vermutet, "vermutlich motivierender für Schüler/innen
[...] als
abstrakt-deskriptive Epochendefinitionen". Diese könnten "ohne jede Anschaulichkeit
Literaturgeschichte wohl kaum "zum Leben" erwecken und auch nachhaltig im
Gedächtnis zu verankern. (vgl.
Pauldrach 2020,
S.2)
In den verschiedenen
Konzepten und Methoden des •
historischen Erzählens und seiner besonderen Form des •
anekdotischen Erzählens wird
die Bedeutung der Geschichtserzählung (Narration) für die Herstellung und
Reflexion über die Konstruktion individueller Bedeutsamkeit geschichtlicher,
d. h. auch biografischer Ereignisse umfassend betrachtet und
konzeptionalisiert. Geschichtserzählungen sind dabei immer "Produkte einer
geschichtlichen Imagination, die einem bestimmten Pragmatismus folgen, d.
h., sie geben den inhaltlichen Wahrheitsanspruch keineswegs auf, aber jede
narrativ dargestellte Wahrheit folgt einer bestimmten Perspektive, gibt eine
Denkrichtung vor, mit der sich die Leserin auseinanderzusetzen hat." (Buschmeier
2011, S.16)
Dabei wird immer wieder
betont, dass sich gerade biografische Hintergründe besonders dafür eignen,
weil sie spannend erzählt werden können und auf diese Weise "Suchpfade für
selbständiges Arbeiten der SchülerInnen eröffnen." (Fingerhut
(2002/2012, S.299) Wenn Lehrkräfte, wie
Fingerhut
(2002/2012) kategorisch fordert, die Aufgabe haben, "Geschichten aus der Literaturgeschichte
»erzählen«" zu können, dann zeigt dies auf, wie wichtig die narrative
Imagination genommen werden sollte.
Für ein verstärktes
Einbeziehen biografischen und autobiografischen Wissens in den
Literatur(geschichts)unterricht sprechen nach Ansicht
Pauldrachs (2020,
S.2) vor allem drei Argumente.
Biografien mit ihren
Konstruktionsprozessen und unterschiedlichen Gattungen (Life-writing)
-
wirken als notwendiges
Korrektiv gegen starre und unhinterfragter Epochenkonzepte, indem sie
die Eigenart von Autor und Werk im Interpretationsprozess
berücksichtigen
-
werden in vielen
Lehrwerken immer wieder zur Kontextualisierung literarischer
Primärtextes herangezogen
-
sind als Autorbiographien
in besonderer Weise bei der narrativen Vermittlung von Geschichte von
Bedeutung und erschließen damit ein Potential, das imaginative Prozesse
anstoßen und dafür sorgen können, dass sich Schülerinnen und Schüler "im
Sinne der identitätsorientierten Literaturdidaktik nicht nur an
literarischen Helden, sondern auch an 'Autorhelden‘ abarbeiten" (ebd.)
können.
Informationen zu den
Lebensumständen im Literaturunterricht sind dabei nicht per se hilfreich bei
der Interpretation und
•
Sinnkonstruktion.
Ob sich der Aufwand für das literarische Verstehen lohnt, entscheidet man am
besten von Fall zu Fall. Zudem ist immer wieder zu beobachten, dass
Schülerinnen und Schüler beim Heranziehen des biografischen Kontexts zur
Plausibilisierung ihrer Deutung zu •
"biographistische(n) Verkürzungen"
(Nickel-Bacon
2014, S.95) neigen. So kommen zwar nicht unbedingt falsche, aber doch
sehr vereinfachende Interpretationen zustande, die dem literarischen Text
nicht gerecht werden. (vgl.
ebd.)
Dass Schülerinnen und
Schüler zu biografistischen Verkürzungen tendieren, dürfte auch damit
zusammenhängen, dass die damit verbundenen lebensweltlichen Bezüge ihnen
vertrauter erscheinen als die abstrakten Deutungsrahmen anderer Ansätze. Der
biografische Bezugsrahmen macht in ihren Augen literarische Texte
lebendiger, weil sie "erkennen, dass hinter dem Werk ein Mensch mit seinem
Engagement, seinen Leidenserfahrungen und seinen Sehnsüchten steht." (Spinner
32019, S.239f.)
So ist
Spinner
(2022a) durchaus beizupflichten, wenn er resümiert: "Wenn den Schülerinnen und
Schülern biographische Information über einen Autor zur Verfügung gestellt
wird, kann dies einer motivierenden Textlektüre dienen, weil das
literarische Werk durch die Einbettung in einen Lebenskontext
wirklichkeitsbezogener wird. Biographisches Wissen, z. B. zum
Entstehungskontext eines Werkes, kann aber auch zu
reduziertem Verstehen führen." (Spinner
2022a, S. 176)