In der Biografik spielen literarische Darstellungen von Lebensläufen in
Autobiografien, biografischen Essays und in biografischen Romanen eine
zentrale Rolle, die in ihrer Vermischung von Fiktion und Realität in der
angloamerikanischen Forschung als faction
bezeichnet werden. d. h. als "Kontanimation von fact und fiction".
(Scheuer 2007,
S.234) Dabei hat die wissenschaftliche (Auto-)Biografieforschung eine Reihe
unterschiedliche Ansätze entwickelt, die hier nicht dargestellt werden
können. Soviel nur: Durch diese Ansätze haben sich die Themen und Interessen
der Forschung deutlich verändert. Sie hat nicht nur im Bereich der Gender-Forschung
seit den 1980er Jahren "ein breites Korpus weiblicher Autobiographik
erarbeitet, sondern auch subjekt- und gattungstheoretische Differenzierungen
vorgenommen". (Kraus
2009, S.25) Die kulturwissenschaftliche Auffassung, dass
Autobiografie statt als Gattung besser als kulturelle Praxis zu verstehen
sei, rückt dabei auch die "mediale Vermittlung der Autobiographie, die
Dokumentation und Archivierung von Lebensgeschichten, Formen der oralen und
gemeinschaftlichen Autobiografik wie z. B. Interviews oder ethnografische
Autobiographien" (ebd.)
in den Fokus.
Biografisches Wissen über Autorinnen und
Autoren, das beim • Hinzuziehen von
Kontexten im Zuge der •
schulischen Textanalyse und -interpretation herangezogen wird, kann sich grundsätzlich "entweder auf Figuren beziehen, die in
der Textwelt eines Textes vorkommen und eine Entsprechung in der
außerliterarischen Wirklichkeit haben, oder auf das Leben der Autoren
literarischer Werke selbst." (Abraham
2021, S.134)
Texte, die sich auf das Leben der Autorinnen und Autoren beziehen, können
dabei von Dritten verfasste Texte in beliebiger medialer Gestalt sein oder
autobiografische Texte, mit denen die Autor*innen selbst ihr Leben erzählen.
Ob Biografien und Autobiografien dabei überhaupt als eigenständige
literarische Gattungen aufzufassen sind, ist in den Fachwissenschaften
strittig. Aus diesem Grunde tendieren manche Wissenschaftler*innen offenbar
auch dazu, statt den Terminus Biografie oder auch Biografik den englischen
Begriff "Life-Writing" vorzuziehen, der
"alle Formen persönlicher Erzählungen, darunter auch Interviews,
ethnographische Texte und Internetseiten, umfasst." (Kraus
2009, S.23)
Wie das, was gemeinhin Autobiografie genannt wird, zu bezeichnen ist und
worauf die autobiografische Forschung ausgerichtet ist, hat sich dabei im
Laufe der Zeit gewandelt. Mal werden dafür Begriffe wie "Geständnis",
"Bekenntnisse" verwendet oder auch Termini wie "Autobiografik",
"autobiografisches Erzählen" oder "autobiografisches Schreiben", um damit
"ein erweitertes Konzept der Autobiographie zu etablieren, das neben der
klassischen Autobiographie als einer umfassenden Erzählung auch Kleinformen
wie Brief und Tagebuch sowie die Übergänge zwischen den einzelnen Formen
integriert." (ebd.)
In der wechselvollen Geschichte der Autobiografie von Antike bis zur
Gegenwart wurde immer wieder »Johann
Wolfgang von Goethes (1749-1832) Autobiografie •
Aus
meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
"als Inbegriff der Gattung" angesehen, weil sie "auf ein
konstruktives Verhältnis von Subjekt und Geschichte" verweise. (ebd.,
S.28)
Das 20. Jahrhundert, dessen autobiografischen Werke durchaus auch in einer
gewissen Kontinuität zu denen des 19. Jahrhunderts stehen, haben die
Autobiografien die wohl größte Bedeutung und Verbreitung gefunden, zumal
kaum ein namhafter Autor versäumt hat. seine Autobiografie zu verfassen.
Daher hat man es auch als "Jahrhundert der Autobiographien" (ebd.
S.29) bezeichnet. Die autobiografischen Texte durchbrechen dabei
traditionelle Stilgrenzen, verändern die herkömmlichen Darstellungsformen
und experimentieren in vielfältiger Weise mit ihnen.
Sie
-
variieren im Umfang
(langjährige und umfangreiche Großprojekte vs. kürzere Texte)
Beispiel: »Thomas
Bernhards (1931-1989) fünfteilige Autobiografie (Teil 1: »Die
Ursache. Eine Andeutung (1975); Teil 2: »Der
Keller. Eine Entziehung (1976); Teil 3: »Der
Atem. Eine Entscheidung (1978); Teil 4:
Die Kälte. Eine Isolation (1981); Teil 5: »Ein
Kind (1982);
-
beziehen sich auf den
gesamten Lebenslauf oder nur eine bzw. verschiedene Zeiträume aus dem
Leben; »
Beispiele: »Günter
Grass, Beim Häuten der Zwiebel (2006);
Richard Brautigan, So the Wind Won't Blow It All Away (1982);
-
komprimieren das
Dargestellte oder präsentieren es in aller Ausführlichkeit
-
präsentieren das
Dargestellte als Erzählung, Bericht oder auch Essay oder stellen die
Lebensgeschichte bewusst fragmentarisch dar
Beispiele: »Walter
Benjamin, Berliner Kindheit um 1900 (1932ff.); Virginia Woolf,
Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen (»Moments
of Being 1972f.); »Alfred
Andersch, Die Kirschen der Freiheit (1952); »Jean
Améry, Jenseits von Schuld und Sühne (1966); »Kurt
Sonnegut, Palm Sunday: Autobiographical Collage (1981);
-
überschreiten die Grenze
zwischen Biografie und Autobiografie (z. B. durch die Darstellung der
Lebensgeschichte eines Elternteils, das die Genese der eigene
Persönlichkeit in diesem Kontext beleuchtet; oft "führen
selbstreflexiv-poetologische Überlegungen und Strukturen die Entstehung
des Textes und das Schriftstellerdasein auf die konflikthafte
Familiensituation zurück" (ebd.
S.30))
Beispiele: »Peter
Handke, Wunschloses Unglück (1972); »Paul
Auster, Die Erfindung der Einsamkeit (1982); »Bernward
Vesper, Die Reise (1977)
-
steigern, quasi im Modus
biografischen Erzählens, die Distanz zwischen erzählendem und erlebenden
Ich, z. B. durch die Gestaltung als Er-Erzählung statt der Ich-Form, so
sehr, dass der Protagonist wie ein Fremder erscheint
Beispiele: »Jean-Paul
Sartre, Die Wörter (1964); »J.
M. Coetzee Boyhood: Scenes from Provincial Life (1997)
-
reflektieren den
Konstruktionsprozess beim Erinnern und damit auch die Fiktionalität
autobiografischen Erinnerns und Schreibens
Beispiele:
Vladimir Nabokov, Speak, Memory (1951(66);
Max Frisch, Montauk (1975);
Paul Auster, Die Erfindung der Einsamkeit (1982), »
Winfried Georg Sebald. Die Ausgewanderten (1982)
-
verweisen mit ihren
Selbstreflexionen ausdrücklich auf die Bedingungen, unter denen der
Text/die Texte entstanden sind und thematisieren damit den
Schreibprozess selbst und machen ihn damit zu einem grundlegenden Stil-
und Strukturmerkmal des autobiografischen Schreibens
Beispiele: »Christa
Wolf, Kindheitsmuster (1976); »Bernward
Vesper, Die Reise (1977)
(vgl.
ebd. S.30)
Autobiografische Texte
im Literaturunterricht
Autobiografische Texte
können werden von Schülerinnen und Schülern besonders gerne zur
Kontextualisierung eines literarischen
Textes herangezogen. Sie glauben damit oft, "dem, was der Autor sagen
wollte", bei ihrer Textdeutung besonders gut auf die Spur zu kommen.
So ziehen Schülerinnen und
Schüler bei der Interpretation von Texten Franz
Kafkas (1883-1924) immer wieder dessen • "Brief
an den Vater" heran, unabhängig davon, ob dies besonders
im Vergleich zu anderen Deutungsansätzen besonders ergiebig ist.( vgl.
Abraham 2021, S.136)
Der Eindruck, den sie von diesem
autobiografischen Text Kafkas gewonnen haben, ist offenbar so groß, dass die
vorschnelle Anwendung dieses Wissens auf alle möglichen Texte des Autors
Deutung zu "biographistische(n)
Verkürzungen" (Nickel-Bacon 2014,
S.95) führt, die vielleicht nicht unbedingt "falsch", aber doch so sehr
vereinfachend sind, dass sie dem literarischen Text
nicht gerecht werden. (vgl.
ebd.) Ähnlich sieht dies auch
Spinner (32019,
S.239f.) der zugleich davor warnt, dass auf diese Weise "der
literarästhetische Text zum bloßen Dokument" für biografisches Wissen werde,
ohne auch nur annähernd zu erklären, warum ausgerechnet ein Autor wie Franz
Kafka eine so bedeutende Rolle in der Literatur des 20. Jahrhunderts spiele.
Dass Schülerinnen und Schüler dabei bei
Leistungsaufgaben die
Gelegenheit nutzen, dieses Vorwissen zur •
Sinnkonstruktion zu
verwenden, ist dabei durchaus verständlich.
Dass biografische Daten
auch den Charakter eines "störende(n) biographische(n) Wissen(s " (Spinner 2022a,
S. 176) annehmen kann, hat
Spinner (2022a)
am Beispiel von Gedichten »
Georg
Trakls (1887-1914) gezeigt, die im Unterricht behandelt worden sind. So
habe eine Schülerin bei der Behandlung von Gedichten des Autors durch eigene
Recherchen von dessen Drogenabhängigkeit erfahren und dies im Unterricht
eingebracht. Die Folge davon sei gewesen, dass "die Klasse die schwer
verständlichen Gedichte nur noch als wirren Ausdruck eines Drogensüchtigen"
eingeschätzt habe. Die große Gefahr besteht seiner Ansicht darin, dass "der
literarästhetische Text zum bloßen Dokument" für biografisches Wissen werde.
Dass Schülerinnen und
Schüler zu solchen biografistischen Verkürzungen tendieren, dürfte auch damit
zusammenhängen, dass die damit verbundenen lebensweltlichen Bezüge ihnen
vertrauter erscheinen als die abstrakten Deutungsrahmen anderer Ansätze. Der
biografische Bezugsrahmen macht in ihren Augen literarische Texte
lebendiger, weil sie "erkennen, dass hinter dem Werk ein Mensch mit seinem
Engagement, seinen Leidenserfahrungen und seinen Sehnsüchten steht." (Spinner
(32019, S.239f.)
Zudem erwarten sie wohl,
dass sie mit einer •
lernstrategischen
Orientierung, bei der sie das schreiben, was die Lehrkräfte vermeintlich
erwarten, deren die Leistungserwartungen am besten erfüllen.
Dies dürfte um so häufiger der Fall sein, je geringer ihre Fähigkeiten sind,
inter- oder extratextuelle Kontexte auf
ihre Stichhaltigkeit und Konsistenz zu prüfen.
So ist
Spinner
(2022a) durchaus beizupflichten, wenn er resümiert: "Wenn den Schülerinnen und
Schülern biographische Information über einen Autor zur Verfügung gestellt
wird, kann dies einer motivierenden Textlektüre dienen, weil das
literarische Werk durch die Einbettung in einen Lebenskontext
wirklichkeitsbezogener wird. Biographisches Wissen, z. B. zum
Entstehungskontext eines Werkes, kann aber auch zu reduziertem Verstehen
führen." (Spinner
2022a, S. 176)
• Schülerbeispiele mit dem biographischen Ansatz in der
Einleitung beurteilen und überarbeiten (Schreibkonferenz mit
Expertengruppen)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.08.2024
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