Solche biografischen Elemente erheben wie alle biografischen Texte einen
Authentizitätsanspruch und stehen in einem Zusammenhang mit der fiktionalen
Welt des literarischen Textes, ohne dieser insgesamt aber Faktizität zu
verleihen.
Der offensichtliche Bezug solcher in einen literarischen Text
eingeschriebenen Biographeme auf Faktisches fungiert nämlich im Grunde
genommen wie dekorative, eben in eine Holzoberfläche eingearbeiteten »Intarsien,
die als kunstvollen Einlegearbeiten andersfarbiger Hölzer, Elfenbein oder
Metall in Holz schon seit über 4000 Jahren bekannt sind. Wie dieses
kunstvolle Dekorationselement den Wert des damit verzierten Holzgegenstandes
erhöht, stellen auch Biographeme, unabhängig davon, ob sie sich auf die
Biografien von Figuren oder auf als Autobiographeme auf das Leben des Autors
beziehen, ein "ästhetisches Plus" (Niefanger
2012, S.290) des fiktionalen Erzähltextes dar.
Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie im Allgemeinen nicht aus dem
Erzähltext selbst erschlossen werden können, obwohl sie wie die Intarsien
"eben", d. h. im Grunde ohne besondere "Unebenheiten" Teil des narrativen
Ganzen sind. Meistens können sie nämlich "nur mit Rückgriff auf den
Werkkontext, oft durch die Lektüre biographischer Zeugnisse oder über
Biographien identifiziert werden." (ebd.)
Biographeme tragen mit ihrem lebensweltlichen Bezug zur Kohärenz der Texte
bei und können, wenn sie beim Lesen identifiziert werden, Brücken zum
extratextuellen Kontext aufzeigen, die zur •
Sinnkonstruktion
genutzt werden können.
Schon »Johann
Wolfgang von Goethes (1749-1832) »Briefroman
»Die
Leiden des jungen Werthers aus dem Jahr 1774 enthält mit dem
Selbstmord und der blau-gelben Kleidung zwei Beispiele für solche
Biographeme, die zahlreiche Zeitgenossen leicht wiedererkennen konnten.
An den Beispielen von »Herta
Müllers (geb.1953) Roman »Herztier
(1994). »Monika Marons
(geb.1941) Roman Endmoränen (2002) und
Uwe Timms
(geb. 1940) Roman
Heißer Sommer (1974) zeigt
Niefanger (2012)
die Bedeutung und Funktion von Biographemen in der Gegenwartsliteratur auf.
Für die schulische Kontextarbeit, bei der biografisches und
autobiografisches Wissen herangezogen werden soll, kann die Arbeit mit
Biographemen, also kleinsten biografischen Einheiten, ein sehr motivierendes
Vorgehen sein, um literaturgeschichtliches
▪
Orientierungswissen und Überblickswissen
mit einem hohen Grad von Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler zu
erwerben. Die Arbeit mit einem Netz von Biographemen im Unterricht
ermöglicht den Schülerinnen und Schülern, eine Vorstellung davon zu
bekommen, "was in der Literaturdidaktik oft etwas verstaubt als
»literarisches Leben« bezeichnet wird." (Pauldrach
2020, S.8)
Dabei greift die schulische Version Ideen auf, die in einem Community-Projekt des »Ludwig-Boltzmann-Institut
für Geschichte und Theorie der Biographie in Wien, das inzwischen im »Forschungsverbund
Geschichte und Theorie der Biographie an der Universität Wien
aufgegangen ist, verfolgt worden sind. (vgl.
ebd.,
S.7)
Wenn sich die Biografiearbeit vor allem darauf konzentriert, biografische
Daten zu einem Autor bzw. einer Autorin mit denen anderer Autor*innen aus
der Literatur-, Sozial, Geistes-, Politik und Kulturgeschichte in einer
bestimmten Zeit über
Hyperlinks herzustellen, entsteht über die Vernetzung verschiedener
biografischer Elemente (Biographeme), die nicht fiktiv sind, stets nur einen
Ausschnitt repräsentieren und teilweise fragmentarisch erscheinen, in einer
Art work in progress das Narrativ einer Biografie, die in ihren
vielfältigen Beziehungen betrachtet werden kann.
Zugleich wird damit auch ein besonderes Epochenmodell generiert, das in
letzter Konsequenz ohne Termini der traditionellen "Epochenlehre" auskommt.
Werden diese und das entsprechende traditionelle Ordnungssystem der
Literaturepochen aber miteinbezogen, dienen die Biographeme nicht nur dazu,
den "hegemonialen Deutungsanspruch" (Kepser/Abraham
42016, S.58) der Epochenkonstrukte aus der Autorenperspektive
aufzubrechen. Sie fragen auch stets danach, was dafür oder dagegen spricht,
einen bestimmten Autor überhaupt oder einer bestimmten Epoche zuzuordnen.
Die Arbeit mit Biographemen wird sich dabei im Allgemeinen über einen
längeren Zeitraum erstrecken. Da die ausgiebige Beschäftigung mit der
Biografie eines Autor oder eine Autorin im Literaturunterricht gewöhnlich an
die Behandlung längerer Ganzschriften gebunden ist, kann sie den Lern- und
Unterrichtsprozess auch über längere Zeit begleiten oder auch unabhängig
davon als Projekt- oder Portfolioarbeit durchgeführt werden. (vgl.
Pauldrach 2020,
S.8)
Die Arbeit mit vernetzten Biographemen in der Schule sollte dabei nicht
allein kognitiv-analytisch angelegt sein, sondern die von diesem Ansatz
gewährten vielfältigen Möglichkeiten eines produktiven Umgangs mit den
Biographemen Gebrauch machen, die auch szenische Inszenierungen u. ä. m.
umfassen kann. In keinem Fall muss die Arbeit in jedem Falle in eine
kohärente schriftlichen Narration münden, mit denen der Versuch unternommen
werden soll, ie Biographeme als Ganzes zusammenzufassen bzw. zu
erzählen. Unter einer bestimmten problemorientierten Fragestellung, die auf
der Auswahl bestimmter miteinander vernetzter Biographeme beruht, ist dies
aber u. U. durchaus möglich. Diese sollte allerdings in der Regel schon zu
Beginn der Biographem-Arbeit von den Schülerinnen und Schülern eigenständig
entwickelt worden sein, um das Netz der Biographeme verbunden mit einem
problemorientierten thematischen Ansatz "spinnen" können.
Ein solcher Ansatz kann auch, statt Biographeme vor allem über die zeitliche
Dimension miteinander zu vernetzen, auch bestimmte Orte ins Zentrum der
Aufmerksamkeit rücken, die "zu bestimmten Zeiten Zentren des literarischen
und kulturellen Lebens waren, an denen sich literaturhistorische
Entwicklungen in Form persönlicher Beziehungen vollzogen." (Pauldrach
2020, S.8)
Ein besonders gutes Beispiel dafür stellt das »Herzogtum
Sachsen-Weimar-Eisenach zur Zeit »Johann
Wolfgang von Goethes (1749-1832), das mit Weimar und Jena solche
herausragenden Zentren hatte.
Weimar war als Ort der
Weimarer Klassik während der Regentschaft der »Herzogin
Anna Amalia (1739-1807) und unter ihrem Sohn »Herzog
Carl August (1757-1826) Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts durch
die Anwesenheit von
Christoph Martin Wieland (1733-1813), »Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832),
Johann
Gottfried Herder (1744-1803),
Friedrich Schiller (1759-1805) ein solches Zentrum. Das Netzwerk der
sozialen Beziehungen, zu dem diese Autoren gehörten, reicht indessen weit
über den so genannten »"Weimarer
Musenhof" Amalias hinaus, dessen "Schlüsselpositionen" (Pauldrach
2020, S.8) nicht nur von dessen Mitgliedern, sondern auch von anderen
Autoren, wie dem wohl erfolgreichsten Autor dieser Zeit
August von Kotzebue (1761-1819) besetzt wurden, die das "geistige und
politische Klima in Weimar" (ebd.,
S.9) geprägt haben.
Jena, unweit von Weimar, ebenfalls zum Herzogtum gehörend, wird ab 1799 "so
etwas wie der geistig-kulturelle Mittelpunkt Deutschlands" (Neumann
2018, S.17) und darüber hinaus ab Mitte der 170er Jahre der "Mittelpunkt
der abendländischen Philosophie - ein kurzer Augenblick im Zeitenlauf, aber
der Moment, der unser Denken von Grund auf veränderte." (Wulf
22002, S.21) und zugleich das Zentrum der frühen Romantik.
In dem von ▪
August Wilhelm Schlegel (1767-1845)
und Frau •
Caroline
Schelling, geb. Michaelis, verw. Böhmer, gesch. Schlegel (1763-1809)
und seinem Bruder »Friedrich
Schlegel (1772-1829) und seiner Frau »Dorothea
Veit (1764-1869) bewohnten Haus in der •
Jenaer Leutragasse gaben sich
alle, die zum Kreis der Romantiker zählten, die Klinke in die Hand.
»Novalis
(1772-1801) (= Georg Philipp Friedrich von Hardenberg), »Ludwig
Tieck (1773-1835), »Wilhelm
Heinrich Wackenroder (1773-1798), »August
Wilhelm Schlegel (1767-1845) und »Friedrich
Schlegel (1772-1829) sowie die Philosophen »Friedrich
Schleiermacher (1768-1834), »Johann
Gottlieb Fichte (1762-1814), »Friedrich
Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) und der Naturphilosoph »Johann
Wilhelm Ritter (1776-1810). Und selbst »Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832), selbst kein "Romantiker" gehört zu dem
von diesen Personen gestalteten biografischen Netzwerk.
Und auch ein modernes Beispiel zeigen, wie sich im Schnittpunkt eines
bestimmten Ortes Personenbeziehungen unter besonderen Bedingungen für einen
gewissen Zeitraum gestalten. So wird Marseille ab 1940 der Ort, an dem sich
die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller,
Intellektueller und Künstler auf der Flucht vor den Truppen der deutschen
Wehrmacht und der SS kreuzen. (Wittstock
52024)